Ich liebe Geschichten. Ein Mann, der Geschichten erzählen kann, hat bei mir schon fast gewonnen. Iso Camartin ist einer, der dabei noch spielerisch ein gutes halbes Dutzend Sprachen jongliert und sich in der europäischen Literatur, Kunst und Philosophie der letzten zweieinhalbtausend Jahre ebenso auskennt wie in der klassischen Musik. Solche Männer werden heute ja gar nicht mehr hergestellt.
Herrn Casparis, den Protagonisten von Camartins neuem Buch, könnte man allerdings glatt für seinen Zwillingsbruder halten.
Herr Casparis denkt nach. Darüber, was "Heimat" bedeutet - ein in Zeiten von Globalisierung, grosser und kleiner Migration und hipper Schwenglischer Swissness etwas aus der Mode gekommener Begriff. Heimat ist eine Standortbestimmung der eigenen Identität: Wer bin ich? Wozu gehöre ich? Manch einer muss übers Wasser und bis nach Amerika, um sich selbst als Rätoromane und Europäer neu zu definieren. Peter von Matt hat diese Grundbewegung des Auszugs in die Fremde und der Heimkehr einmal als Leitmotiv der Schweizer Literatur beschrieben.
Camartin stellt nun gegen die Heimat der Herkunft eine zweite, eine Heimat der "Hinkunft", die man sich durch seine Lebensentscheidungen erst erarbeiten müsse.
Wenn die erste Heimat das Vertraute ist, das Eigene, das, was uns geprägt hat, kulturell, sozial und auf vielfältige Weise, dann ist diese zweite Heimat das Fremde, das wir uns erst zu Eigen machen müssen, um dadurch selbst zu anderen zu werden.
Wir entdecken dabei neue Möglichkeiten unserer selbst.
Das kann durch eine Reise geschehen, wenn wir uns in fremder Umgebung neu wahrnehmen, oder durch ein Buch, das uns in eine andere Welt entführt. Durch eine Musik, die unsere Seele berührt, Kunst, die uns neu sehen lehrt, die Natur, die uns zum Staunen bringt, und natürlich durch die Liebe. - "Die Geschichten des Herrn Casparis" lassen sich lesen als Meditationen über die Dinge, die uns über uns hinaus und in eine neue utopische "Heimat" hinein wachsen lassen: "Es zählt, was uns verwandelt." 17 Aufforderungen, Grenzen zu überschreiten und nicht im Gewohnten stecken zu bleiben, sich nicht einzurichten in geistiger Enge und sich nicht abzufinden mit Banalität und Hässlichkeit, weil "man sich nicht ausliefern darf an die Welt, wie sie nun einmal ist, sondern sich fest auf eine Welt einzurichten hat, wie sie sein sollte und zu sein hätte."
Geschrieben ist das so elegant, eloquent und scharfzüngig, träumerisch und verspielt, nachdenklich und liebevoll wie man es von dem Essayisten und Rhetoriker Camartin gewohnt ist.
Was macht Kultur relevant? Was unterscheidet Kunst von Wanddekoration und Kultur von blossem Event? Vielleicht ist es gerade dies: Dass relevante Kultur das Potential hat, uns zu verwandeln, uns die Welt neu und anders, tiefer, differenzierter und umfassender wahrnehmen und begreifen lernen zu lassen.
"Die Geschichten des Herrn Casparis" sind ein Lehrbuch in Sachen Verwandlungskunst. Verwandlungsziel wäre es, ein freierer Geist zu werden durch das Glück, das uns von Zeit zu Zeit zufällt, wenn wir nur mutig genug sind, es aufzufangen.
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