Vor ein paar Wochen habe ich noch einmal Passagen dieses Buches gelesen und bin zutiefst aufgewühlt und berührt. Dieses Buch gehört eindeutig zu meine Top-Ten.
Wie Anne Frank lebte Etty Hillesum in den Niederlanden und schrieb regelmässig Tagebücher. Wie Anne Frank kam sie in Auschwitz ums Leben.
Aber bei Etty Hillesum handelt es sich um eine Frau Ende 20, einer Slawistik- und Psychologiestudentin, die die Geliebte ihres Psychologieprofessors ist. "Es ist schwierig, mit Gott und mit dem Unterleib in gleicher Weise zurechtzukommen"
"Es ist typisch, daß ich immer wieder von einem Mann begehrt sein möchte, daß es immer wieder die höchste Bestätigung für uns Frauen ist, eine Frau zu sein, obwohl das an sich völlig primitiv ist."
Offen schreibt sie über ihr inneres Chaos und kommt mit der Zeit zu einer Lebensbejahung, die mich schier umhaut. "... denn es gab keine Fragen, nur großes Vertrauen und Dankbarkeit dafür, daß das Leben schön ist. Deshalb ist dies ein historischer Augenblick: nicht weil ich jetzt gleich mit S. zur Gestapo muß, sondern weil ich trotz dieser Tatsache das Leben schön finde."
"Ich hänge so an diesem Leben." "Ob man das Leben lachend oder weinend verbringt, es ist doch immer nur ein Leben."
Sie schreibt später: "Ich weiß, daß ich in einem Arbeitslager innerhalb von drei Tagen sterben werde, ich werde mich hinlegen und sterben, und das Leben trotzdem nicht ungerecht finden."
Auch in trostloser Zeit zitiert sie aus einem Brief ihres Vaters: "Heute hat das fahrradlose Zeitalter begonnen. Ich habe Mischas Fahrrad persönlich abgeliefert. Wie ich in der Zeitung lese, dürfen die Juden in Amsterdam noch radfahren. Was für ein Vorrecht! Wir brauchen jetzt keine Angst mehr zu haben, daß unsere Fahrräder gestohlen werden. Unseren Nerven tut das ausgesprochen gut. Seinerzeit in der Wüste haben wir vierzig Jahre lang auch ohne Fahrräder auskommen müssen."
Sie zeigt Mitleid für einen "unglücklichen Gestapoburschen", der sie anschreit. "...daß ich darüber keineswegs entrüstet war und eher Mitleid mit ihm hatte, so daß ich ihn am liebsten gefragt hätte: war deine Jugend denn so unglücklich oder hat dein Mädchen dich betrogen."
Und Etty liest, sie liest Dostojewski, Puschkin, Kirkegaard, Jung und vor allen Dingen Rilke: "Ich bemerke immer wieder, wie sehr Rilke einer meiner großen Erzieher im letzten Jahr gewesen ist." Sie liest Rilke sogar auf den Fluren der Gestapo und überall ("... irgendwo in der Mitte zwischen der Hölle und einem Irrenhaus .. habe ich Rilke gelesen." )und sie macht sich Gedanken, was sie in ihren Rucksack für das Arbeitslager mitnimmt, welche Bücher sie mitnimmt ("und auch die beiden dünnen Bändchen "Briefe an einen jungen Dichter " und das "Stundenbuch" müßten sich doch noch in einer Ecke des Rucksackes unterbringen lassen?")
Ich könnte noch viele einzigartige Sätze von ihr zitieren, z.B.
"Neuerdings sage ich oft: Es ist schon eine große Scheiße. Aber heute fiel mir ein, ich sollte das Wort "Scheiße" nicht so oft gebrauchen, es bleibt in der Atmosphäre hängen und macht sie auch nicht besser."
"Viele Menschen sind noch Hieroglyphen für mich, aber allmählich lerne ich, sie zu entziffern. Es ist das Schönste, was ich kenne: das Leben herauszulesen aus den Menschen."
"Ich fühle mich in niemandes Klauen, ich fühle mich nur in Gottes Armen"
Aber lest das Buch selber und entdeckt Sätze und Passagen, die für euch einzigartig und wertvoll sind.
Schließen möchte ich mein begeistertes Pladoyer für dieses Buch mit den Gedanken von Etty über Rilke:
"Immer wieder komme ich auf Rilke zurück. Es ist sonderbar, er war ein empfindsamer Mensch und schrieb viele seiner Werke innerhalb der Mauern gastfreundlicher Schlösser, und er wäre möglicherweise zugrunde gegangen unter den Umständen, unter denen wir heute leben müssen. Aber zeugt es nicht von einer guten Ökonimie, daß sensitive Künster in ruhigen Zeiten und unter günstigen Umständen ungestört nach der schönsten und passendsten Form für ihre tiefsten Erkenntnisse suchen können, an denen sich Menschen, die in bewegteren und kräftezehrenden Zeiten leben, aufrichten können und in denen sie ein fertiges Gehäuse vorfinden für ihre Verwirrung und ihre Fragen, die noch zu keiner eigenen Form und Lösung gelangt sind, weil die tägliche Energie für die täglichen Nöte aufgebraucht wird?"
Ich denke, ich werde auch mal wieder Rilke lesen ...
grüße von missmarple