Hunger der Gezeiten – Amitav Ghosh

  • Btb, 2006, Taschenbuch, 464 Seite


    Originaltitel: The Hungry Tide
    Aus dem Englischen von Barbara Heller


    Klappentext:
    Die amerikanische Meeresbiologin Piya kommt nach Indien, um vom Aussterben bedrohte Delfinarten zu erforschen. Fokir, ein einheimischer Fischer, begleitet sie durch den Mangrovenwald. Piya verliebt sich in den aufregenden, warmherzigen Mann, dessen Sprache sie nicht spricht. Doch dann taucht Kanai, ein Dolmetscher aus Neu-Delhis Oberschicht auf, und wirbt um Piya. Hin und her gerissen zwischen dem jungen Wilden und dem wohlhabenden, gebildeten Gentleman, ist sie unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Bis eine Naturkatastrophe über ihr Schicksal entscheidet …


    Zum Autor:
    Amitav Ghosh, 1956 in Kalkutta (jetzt Kolkata) geboren, wuchs in Bangladesch, Sri Lanka und Nordindien auf. Er studierte Geschichte und Sozialanthropologie in Neu-Delhi, und nach seiner Promotion in Oxford unterrichtete er an verschiedenen Universitäten Indiens und Amerikas, zurzeit an der Harvard University. Mit „Der Glaspalast“ (Blessing, 2000) gelang dem schon vielfach ausgezeichneten Autor weltweit der große Durchbruch. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in New York, verbringt jedoch jedes Jahr mehrere Monate in Kolkata


    Zur Übersetzerin:
    Die Heidelberger Diplom-Übersetzerin Barbara Heller übersetzte schon Daniel Mason, Jhumpa Lahiri, Vikram Chandrie, Anne Fine, Ellis Avery, Rachel Seiffert, Salman Rushdie und viele andere.
    Zuletzt fiel besonders „Heute bin ich blond. Das Mädchen mit den neun Perücken“ von Sophie van der Stap auf.



    Meine Rezension:
    Dieser Roman hat nicht die überbordende Stimmung des komplexen Meisterwerks Glaspalast, Amitav Ghosh berühmten Erfolg, aber er geht auch nicht zu der Nüchternheit von Das Calcutta Chromosom zurück.
    Die Detailgenauigkeit beim Erzählen begrüße ich trotz einer gewissen Umständlichkeit. Manchmal gibt sich der Autor allerdings mit Details viel Mühe und es kommt doch nicht bei mir an. Die Stärke des Stils ist eher die Ausgewogenheit.


    Mit dem Dolmetscher Kanai (reimt sich auf Hawaii) wird ein selbstbewusster Charakter im Vordergrund gestellt, dem trotz einer gewissen Arroganz eine Souveränität und hintergründige Ironie nicht fremd sind. Das prägt den Roman.
    Kanai hat auch eine Firma gegründet, die Dolmetscher und Übersetzer vermittelt und auch Sprecherziehungsprogramme zur Akzentverbesserung bei Mitarbeitern von Call-Centern durchführt. Dieser Geschäftszweig wächst am schnellsten.
    Seinen Traum vom Anfang seiner Laufbahn, einmal den bengalischen Lyriker Jibanananda Das ins Arabische und den Syrer Adonis ins Bengalische zu übersetzen, kann er sich dabei leider nicht mehr erfüllen.
    So viel nur zu den Vielfältigkeiten von Details, die Ghosh beschreibt.


    Die Ausgangsposition ist interessant, Kanai hat von seinem seit Jahren verstorbenen Onkel, der eine große Persönlichkeit war, lange verschollene tagebuchartige Schriften hinterlassen bekommen, die jetzt wieder aufgetaucht sind. Spannend, da man durch die Aufzeichnungen und durch Kanais Erinnerungen ein gutes Bild über seinen Onkel Nirmal und vergangene Geschehnisse bis in die fünfziger Jahre bekommt.


    Schon am Anfang lernt Kanai die aus den USA stammende Piya kennen, die als Meeresbiologin vom aussterben bedrohte Meeressäuger beobachten will. Sie ist in Indien geboren, doch schon als Baby in die USA gekommen. So spricht sie kaum Bengali und ist eine Außenseiterin in dem ihr unbekannten Land.


    Die Wege de beiden trennen sich zunächst und es sind mehrere Handlungsstränge zu verfolgen. Auch die Tagebuch-Handlung mit Nirmal wird ausführlich beschrieben.


    Piyas Aufgabe als Meeresbiologin in den wilden Sundarbans in der Bucht von Bengalen wird schwierig und nicht gefahrlos. Begleitet in die Naturgewalten wird sie von dem einheimischen, naturverbundenen Fokir Mandol.


    Die Spannung ergibt sich durch die Konstellation dieser ganz verschiedenen Protagonisten. Das Entwerfen der Charaktere und der Einsatz der Naturschauplätze sind Stärken des Autors.
    Trotz Sympathie für die Figuren, dem hohen Niveau und guter Qualität bleibt gemessen an Ghosh eigenen Ansprüchen auch ein Gefühl der Mittelmäßigkeit, dass dazu führte, dass ich die Kapitel zwar mit Interesse aber auch Gleichmut las. Hinzu kommt eine Langatmigkeit, die den ungeduldigen Leser zum vorblättern verführt.


    Das optimistische Ende hat mir gefallen.


    Ein Nachwort, ein Glossar und eine Karte vervollständigen den Roman.

  • Ich fand das Buch auch eher mäßig. Der Erzählstil ist schon sehr gemächlich, alle "Action" wird in die letzten Kapitel gepackt, so dass die Handlung ganz merkwürdig asymetrisch wirkt. Die Sprache fand ich manchmal ungelenk (wobei es aber auch sehr schöne Passagen gibt), was allerdings auch an der Übersetzung liegen mag.
    Zu guter letzt hat mir die weibliche Hauptfigur Piya überhaupt nicht gefallen. Ich fand sie ziemlich naiv und teilweise kindisch. Das ausgerechnet sie die Liebe und Verehrung der Männer um sich erweckt, fand ich wenig überzeugend.
    Kritik geht auch an den Verlag, der Klappentext vermittelt den Eindruck, als ob eine Liebesgeschichte im Mittelpunkt steht. "Hunger der Gezeiten" ist allerdings eher eine Sozialstudie, in der eine Liebesgeschichte eingebettet ist.

    :lesend Walter Kempowski "Das Echolot"

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  • Es ist zwar schon einige Jahre her, seit ich "The hungry Tide" gelesen habe, aber ich habe es noch erstaunlich gut in Erinnerung – was ja bekanntlich ein Zeichen für irgendein herausragend schlechtes oder eben für ein gutes Buch ist. Auch wenn es vielleicht nicht ganz an den Glaspalast herankommt (ja, Herr Palomar, ich gebe dir Recht: die Messlatte hängt verdammt hoch!), so möchte ich es doch empfehlen. Die "ungelenke Sprache", wie Clio bemerkte, mag der Übersetzung zur Last gelegt werden – auf Englisch ist es wirklich sehr schön. Aber da verstehe auch wer will, warum beispielsweise der englische Originaltitel, der so wunderbar kraftvoll mit "Die hungrige Flut" hätte übersetzt werden können, zu dem sperrigen (und im übrigen inhaltlich falschen) "Hunger der Gezeiten" vermurkst wurde. :gruebel