Es war einmal ein Dorf, das hieß Aurith. Das lag an einem großen Fluß. Auf der einen Seite des Flusses, etwas erhöht, standen die Häuser der Bauern, der Dorfladen und das Wirtshaus, die Schule und die Kirche mitsamt dem Friedhof. Auf der anderen Seite, etwas tiefergelegen, waren die Felder. Zur Feldarbeit setzten die Bauern morgens mit einer Fähre über den Fluß, nach getaner Arbeit fuhren sie abends wieder zurück. Das ging hundert Jahre so und länger. Doch dann kam ein großer Krieg und als der zuende war, war der Fluß nicht mehr bloß ein Fluß, sondern eine Grenze zwischen zwei Staaten geworden. Das Übersetzen war verboten. So mußten sich die Bauern auf der einen Seite neue Felder suchen, auf der anderen Flußseite dagegen wurden neue Häuser gebaut. Aus einem Dorf wurden zwei Dörfer. Die Hälfte mit den Feldern hieß weiterhin Aurith, sie liegt in Deutschland. Die andere Hälfte wurde Urad getauft, sie liegt in Polen. Der Fluß ist die Oder.
Diese einfache Dorf -, Kriegs -, Grenzgeschichte nahm die Journalistin Tina Veihelmann zum Anlaß, zu erzählen, wie es weiterging mit Aurith/Urad von 1945 bis heute. Herausgekommen ist eine ganz besondere Geschichte von Menschen an der Grenze. Die Autorin hat beide Dörfer besucht und mit den EinwohnerInnen gesprochen. Deutsche und PolInnen berichten vom Neuanfang nach dem Krieg, vom Entstehen neuer Dorfgemeinschaften, vom Alltag, von LPGs polnischer und deutscher Prägung, von den Problemen mit der Landwirtschaft und dem Problem, eine neue Heimat zu finden. Auf beiden Seiten kamen viele NeusiedlerInnen ins Dorf, aus Schlesien oder den Karpaten etwa.
Veihelmann gibt nichts vor, sie läßt die Menschen, die sie trifft, einfach erzählen. Und das tun sie, nicht geschönt, nicht weitschweifig, knapp und zum Punkt, ein wenig mißtrauisch, ein wenig humorvoll. Die eine sagt dies, der andere das, was ihnen gerade am Herzen liegt.
Wie es sich anfühlt, wenn man in Erdlöchern leben muß, weil die erste Aussaat wichtiger ist, als ein Haus. Was man denkt, wenn man beim Pflügen immer wieder Leichen von Soldaten wegräumen muß. Daß die katholische Gemeinde die bestehende Kirche nicht nutzen konnte, weil es doch eine evangelische Kirche war. Wie große Häuser abgerissen werden mußten, weil das Baumaterial für den Wiederaufbau von Warschau requiriert wurde.
Es ist ein Einwohner des polnischen Urad, der eine Definition für ‚Heimat’ findet: ‚das deutsche Wort, das nicht nur das Haus bezeichnet, sondern auch den Baum und die Wiese und das Gefühl dafür.’
Daß das Ende der DDR eingeläutet wurde, spüren die Aurither zuerst, fremde junge Leute tauchen im Dorf und sind wieder verschwunden. War das ein Schlauchboot auf dem Fluß? Die Urader auf der anderen Seite dagegen gewöhnen sich rasch an feuchte deutsche BesucherInnen, die nach dem Weg nach Warschau fragen. Dann ist die Grenze offen, aber die beiden Teile Auriths sind längst auseinandergewachsen. Man winkt sich zu, Jungendliche schwimmen im Sommer gelegentlich ans fremde Ufer, mehr nicht.
Das Oderhochwasser 1997 trifft Aurith, den tiefergelegenen Teil, hart. Ein neuer Aufbau folgt. Man ist es gewöhnt, nach vorne zu schauen. Inzwischen gibt es auch wieder Flüchtlinge, aus Vietnam, aus Afghanistan, Bangladesh. Sie kommen diesmal aus Urad, ist das ein Schlauchboot auf dem Fluß? Zeit, den Grenzschutz zu benachrichtigen.
Zum Text gibt es Photos, vor allem der Menschen, aber auch der Häuser, Felder und des Flusses. Er gehört dazu, ein Mitbewohner eigner Art, aber doch ein Mitbewohner. Wie beim Text nicht nachgebessert wurde, ist auch nichts schönfotografiert. Da stehen die Urader und Aurither, ungeschminkt, in ihrer Alltagskleidung. Die Häuser sind manchmal solide, manchmal schäbig, die Straßen löchrig, die Wege matschig, andere schön gepflastert.
Allerdings sind die Photos immer wieder ineinander - und übereinandergeschoben, sie drängen sich seitwärts auf die Seiten, hin und wieder sieht man nur einen Schnipsel. Das gehört dazu, denn das Ganze setzt sich aus lauter Einzelteilen zusammen, aus Eindrücken und kurzen Lebensgeschichten, Namen, kleinen Ereignissen des Alltags. Erst beim Lesen und Anschauen wächst alles zusammen. Erst am Ende hat man die ganze ‚Story’.
Aber wo ist das Ende? Das Buch hat einen Preis für seine Machart gewonnen, denn es ist auch in dieser Hinsicht etwas ganz, ganz Besonderes. Es ist in zwei Hälften geteilt, wie das alte Dorf. Die ein Hälfte trägt den Titel Aurith, die andere Urad. Leserinnen und Leser können selbst entscheiden, wo sie mit dem Lesen einsetzen wollen. Dazu muß man das Buch einfach auf den Kopf stellen und umdrehen. Einmal ist Urad ‚vorne’, einmal Aurith. Auch die Textseiten sind zweigeteilt, polnisch und deutsch. Im Urader Teil steht der polnische Text auf der oberen Hälfte der Seite, der deutsche unten, im Aurither Teil ist es umgekehrt.
So spaziert man durchs Dorf, von Einwohnerin zu Einwohner, von Lebensgeschichte zu Lebensgeschichte bis zum Fluß. Acht Seiten sind ihm gewidmet, acht Seiten Wasser, Strudel, ein wenig Schaum, graugrünlichgelblichweiße Farbimpressionen. Dann ist man drüben, in Urad oder Aurith. Umdrehen und von neuem den Weg durchs Dorf beginnen.
Ganz nah an den Menschen, ganz nah an einem Alltag über sechzig Jahre hinweg. Kein Hochglanz, das Buch ist broschiert, es gibt kein Photopapier, sondern nur ein ein wenig festeres, das sich richtig gut anfühlt beim Blättern.
Ursprünglich war das Ganze eine Wandzeitung, die am Ende den Einwohnerinnen und Einwohnern beider Seiten präsentiert wurde. Dieser einfache Ansatz wurde auf seine Art beibehalten. Herausgekommen ist ein Buch, das man gar nicht genug preisen kann.
Alltagsgeschichte, Grenzgeschichte. Geschichten von Menschen. Auseinanderdividiert und doch symmetrisch, fern, nah.
Eines der beeindruckendsten Bücher, die ich je in der Hand hatte.