Ein Fremder im Dorf
Kürzlich wollte meine Frau eine Bekannte aus dem Nachbardorf besuchen, und weil sie den Weg nicht genau kannte, beschloss ich, sie zu begleiten. Es ist natürlich nicht so, dass wir in diesen modernen Zeiten kein Navigationsgerät im Auto hätten, allerdings mussten wir schon beim ersten Einschalten feststellen, dass an der Stelle, wo unser Dorf hätte sein müssen, nur ein grosser weisser Fleck zu sehen war. Zugegeben, ganz weiss war er nicht. Direkt in der Mitte stand das Wort: "Gefahrenzone", begleitet von einem schwarz-weissen Totenkopf. Die nächste Ortschaft die auf der Karte verzeichnet war, befand sich 50 Kilometer von unserem Dorf entfernt. Also fuhren wir los.
Unter normalen Umständen wäre das Dorf der Bekannten nur 7,7 km entfernt gewesen, doch unsere Gemeindeverwaltung hatte in ihrer unendlichen Weisheit auf der direkten Strecke eine Vollsperrung eingerichtet weil dort in einigen Monaten für einige Tage ein paar kleinere Bauarbeiten vorgenommen werden sollten. So durften wir also im Sinne der Förderung der heimischen Wirtschaft, insbesondere der Tankstelle, die vermutlich dem Bürgermeister gehört, eine Strecke von 12,4 km auf uns nehmen. Wir fuhren also munter los, nicht ahnend, was uns bevorstünde. Bereits fünf Kilometer vor dem Dorf der Bekannten stand ein Wegweiser. Unter dem Wegweiser befand sich ein Schild "Sackgasse". Und, um es auch dem letzten Deppen zu verdeutlichen, befand sich darunter noch ein Schild mit den Worten: "Die Strasse endet dort!". Was ich jetzt eigentlich nur noch vermisste, war ein Schild mit der Aufschrift: "Keine Wendemöglichkeit", doch das fehlte.
Wir wagten es trotzdem, und bogen in der angezeigten Richtung ab. Die Strasse war besser, als ich angenommen hatte, allerdings nur bis zum Ortsausgangsschild des aktuellen Ortes. Danach wandelte sie sich schnell von einem befestigten Feldweg in etwas, was man in anderen Regionen Deutschlands als touristische Attraktion unter der Bezeichnung "Moor" zur Schau gestellt hätte. Rechts und links der Strasse befanden sich tiefe Gräben, die mit verbeulten Wagen gefüllt waren. Aus einem dieser Wagen grinste uns ein Totenschädel entgegen .... offenbar kam hier nicht allzu oft jemand vorbei, der Hilfe hätte rufen können.
Bereits nach eineinhalb Stunden trafen wir dann im dem Ort der Bekannten ein. Da meine Frau zu mir sagte: "Das war das letzte Mal, dass ich die besucht habe!", sparte ich mir die Mühe, sie kennen zu lernen und beschloss, im Wagen auf meine Frau zu warten. Vielleicht konnte ich ja ein der Zeit ein paar aufschlussreiche Beobachtungen zu den Anwohnern machen. Ich machte es mir also im Auto bequem und wartete darauf, dass der erste Einheimische vorbei käme. Ich wartete zehn Minuten .... nichts. Ich wartete zwanzig Minuten ... immer noch nichts. Nach dreissig Minuten hatte ich noch nicht die Spur eines menschlichen Lebens entdeckt. Nach einer Stunde erwog ich schon, doch die Bekannte meiner Frau kennen zu lernen, als plötzlich ein alter Mann in mein Blickfeld geriet. Bangen Herzens fragte ich mich: "Geht er oder steht er?", aber ich war nicht in der Lage, es genau festzustellen. Nachdem ich eine Viertelstunde später wieder in seine Richtung sah, bemerkte ich allerdings, dass er sich unserem Wagen gute zwei Meter genähert hatte. Er besah sich unser Kennzeichen .... er stutzte ... plötzlich entdeckte er mich im Wageninneren. Er musterte mich genau, machte einen Abgleich mit seiner internen Anwohnerdatenbank .... und raste plötzlich wie ein angeschossenes Wildschwein davon.
Nur siebenundzwanzig Sekunden nachdem er verschwunden war, kam ein deutlich jüngerer Mann in Sicht, der sich dem Wagen näherte und völlig unverhohlen durch die Scheibe glotzte. Ungläubig schüttelte er den Kopf und verschwand wieder. Kurz darauf erschienen zwei jüngere Kerle von der freiwilligen Feuerwehr und zogen in einem Abstand von zehn Metern ein Absperrband um unseren Wagen. Kaum, dass die beiden ihre Arbeit beendet hatten, bekam ich den nächsten Eingeborenen zu Gesicht, unzweifelhaft der Sohn des ehemaligen Dorfmetzgers, was man unschwer an der mobilen Bratwurstbude erkennen konnte, die er hinter sich her zog. Kurz nachdem er die Kohlen angeheizt und die beiden alten Männer (vermutlich der ehemalige Gastwirt des Dorfes und sein bester Kunde) das erste von drei Hundert-Liter-Fässern Bier geöffnet hatten, wurden an das Lattengerüst, das man mittlerweile um unseren Wagen gebaut hatte, undurchsichtige Planen gehängt. Bevor das provisorische Zelt ganz fertig war, konnte ich eben noch im Rückspiegel einen kleinen Tisch erkennen, an dem Eintrittskarten verkauft wurden.
Ich musste nicht lange auf den ersten Besucher warten, obgleich noch nicht alle Scheinwerfer korrekt auf unseren Wagen ausgerichtet waren. Man liess sie immer in Fünfergruppen herein, Kinder erhielten ermässigte Eintrittspreise, da sie ja ohnehin meistens nur auf dem Autodach herum kletterten und deshalb nicht allzu viel Platz im Zelt benötigten. Ich war mittlerweile schon ziemlich geblendet von den zahlreichen Blitzen der Einwegkameras und der Technik-Freak mit der Digitalkamera konnektierte sofort eine neue Domain mit dem Namen www.ich-hab-ihn-selbst-gesehen.de.vu, auf der er seine Aufnahmen für 8,99 EURO pro Stück zum Download anbot.
Etwa zweieinhalb Stunden und vierhundertsiebenunddreissig Besucher später, wurde das provisorische Zelt wieder abgebaut und der Spuk war vorbei. Dachte ich jedenfalls. Wie man sich doch irren kann ... offensichtlich hatte einer der Einheimischen meinen fehlenden Ehering bemerkt, der wie immer zuhause in der Schmuckschatulle lag, um ihn vor den in der Gegend ansässigen Strassenräubern zu schützen, und daraus geschlossen, dass ich Single oder zumindest theoretisch noch zu haben war. Aus diesem Grund hatte man genau gegenüber vor unserem Wagen eine Bühne aufgebaut, in der nun im grellen Scheinwerferlicht meine potenziellen Partnerinnen auftraten.
Trotz des sehr starken Schnapses, den man mir mittlerweile in die Hand gedrückt hatte, fühlte ich mich fatal an eine dieser mittelalterlichen Freak-Shows erinnert, auf denen man seinerzeit die absonderlichsten Gestalten der menschlichen Kreatur vorgeführt hatte. Die erste "Schönheit" trug ein Schild, auf dem stand "Ich bin die Tochter des Bürgermeisters. Wenn du mich nimmst, erhältst du auf Lebenszeit einen kostenlosen Parkplatz im Dorf!". Nicht das ein kostenloser Parkplatz in dieser Einöde besonders schwierig zu finden gewesen wäre. Man hätte hier auch völlig problemlos die jährliche Neuwagenproduktion der Stadt Detroit unterbringen können.
Die Zweite, die auftrat, hatte etwa die Form eines Quaders, zumindest entsprach ihr Körperumfang genau ihrer Körperlänge. Auf ihrem Schild standen die Worte: "Wenn du mich nimmst, brauchst du im Winter weder einen Ofen noch Bleibausteine gegen die Glätte im Auto!". Da ich nicht vorhatte, das Ortseingangsschild in diesem Leben auch nur noch ein einziges Mal zu passieren, winkte ich sie mit einer mittlerweile schon etwas herablassenden Geste fort.
Die Dritte, die über die Bühne stolzierte trug ein Schild mit der Aufschrift: "Ich bin etwas ganz Besonderes ... meine Geschwister sind auch meine Eltern!". Ihrem Aussehen nach waren wohl allerdings auch ihre Grosseltern schon Geschwister. Die Vierte in der Reihe hatte den Slogan: "Ich bin dick und hässlich, aber wenigstens reich!". Das war natürlich ein sehr gutes Argument, wenn man bedenkt, dass die drei Vorgängerinnen ebenfalls dick und hässlich waren. Trotzdem konnte sie mein Herz nicht erobern.
Es folgten noch einige andere, eine Garnison des Schreckens wie selbst Pieter Brueghel der Jüngere sie nicht besser hätte darstellen können. Mittlerweile war es schon Abend geworden ... die meisten Besucher hatten sich inzwischen persönlich mittels Handschlag von mir verabschiedet, ich sass im Wagen und wartete auf meine Frau. Endlich erschien sie, in Begleitung einer Frau, die nicht eben dünn aber dafür auch wenigstens nicht schön war, und erzählte mir, ihre Bekannte wolle mich wenigstens kurz kennen lernen.
So schnell hat mich noch niemand meine Frau ins Auto zerren und losfahren sehen! Und fast hätten wir es geschafft, den Ort zu verlassen, wenn, ja wenn nicht auf der Hauptstrasse gerade der allabendliche Fackelumzug stattgefunden hätte, bei dem man die Toten und die Pestkranken einsammelte. Und endlich wurde mir klar, was das Strassenschild vom Nachmittag eigentlich sagen wollte: "Die Strasse endet dort!"