Ich wollte zur Abwechslung auch mal Kreatives posten ... in diesem Fall einige Geschichten über unser Dorf. Alle Schilderungen entsprechen der Wahrheit und nichts als der Wahrheit
UNSER DORF
Unser Dorf soll schöner werden
Unser Dorf soll schöner werden, hiess es einstmals. Und mit Sicherheit hätte unser schönes Dorf den berühmt-berüchtigten Wettbewerb schon in seinem Entstehungsjahr gewonnen, wenn ... ja, wenn der damalige Bürgermeister die Anmeldung, die nach langen und feuchtfröhlichen Abenden in der Kneipe an der Ecke beschlossen worden war, auch abgeschickt hätte. Dumm gelaufen.
Ich will ja nicht behaupten, dass hier im Dorf nur Deppen wohnen, schon weil ich mich dann selbst mit einschliessen würde, aber es scheint schon so zu sein, wie die alte Kräuterhexe aus dem nahe gelegenen Wald es mir damals erzählt hat. Sie sagte nämlich: "Als damals die Intelligenz über die Welt ausgeschüttet wurde, stand auf dem heutigen Dorfplatz eine verängstigte Menschenmenge und blickte gen Himmel. Ein Flirren und Funkeln erhellte seinerzeit den Himmel und die Menschen standen da, mit offenen Mündern, und glotzten nach oben. Doch gerade als die "Intelligenz" auf ihre Häupter fallen wollte, verbargen sie ängstlich ihr Gesicht, so dass nur das "I" auf ihre Stirn fiel und haften blieb."
Und dort ist es ganz offensichtlich bis heute verblieben.
Sperrmüll im Dorf
Es ist Abend im Dorf und grosse Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Am nächsten Tag wird der Sperrmüll abgeholt. Ein an sich relativ normaler und durchaus nicht bemerkenswerter Umstand, sollte man meinen. Nicht so in in unserem Dorf! Die Sperrmüllabholung in diesem schönen Landstrich erfolgt dreimal im Jahr, und immer wenn die Gemeinde im Herbst den Müllkalender verteilen lässt, werden von den hiesigen Einwohnern zuallererst die Tage der Sperrmüllabholung leuchtend rot markiert. Danach wird der Kalender in einem teuren, goldenen und reich verzierten Rahmen direkt neben die Haustür gehängt, damit man ihn bei jedem Verlassen des eigenen Domizils zwangsläufig sehen muss. Denn nichts in der Welt der Dorfbewohner wäre verhängnisvoller, als diesen wichtigen Termin zu verpassen. Es soll sogar Menschen geben, die eine sorgfältig laminierte Kopie des Kalenders zusätzlich von aussen neben die Tür hängen, oder ständig bei sich tragen.
Als ich das erste Mal beobachtet habe, was passiert, wenn in unserem Dorf der Sperrmüll abgeholt wird, nahm ich noch an, dass es die erste Abholung seit etwa 17 Jahren war. Noch nie im meinem Leben habe ich derartige Berge von alten Möbeln und Schrott auf einer so begrenzten Fläche gesehen. Hätte ich damals zufällig gerade ein neues Skigebiet in den Niederlanden eröffnen wollen, hätte ich nur alles einsammeln und auf einen Haufen werfen müssen. Etwas Erde und Gras drauf und fertig wäre mein neues Davos gewesen. Neugierig geworden, studierte ich sorgfältig den Kalender, um die nächste Abholung nicht zu verpassen, da ich ja annahm, dass ich die kärglichen Häuflein, die diesmal zu erwarten wären, sonst möglicherweise übersehen könnte. Der besagte Tag nahte also, und bereits am Abend zuvor sah ich auffällig viele Kleintransporter, als ich von der Arbeit nach Hause kam. Die Strassen waren noch leer. Also begab ich mich in unsere Wohnung, und, nach einem Blick der Vergewisserung auf den neben der Tür platzierten Müllkalender zuerst vor den Fernseher und dann ins Bett. Ich schlief schlecht in dieser Nacht, da ich ständig von den dröhnenden Motoren der Kleinlaster geweckt wurde, die durch die Strassen patrouillierten. Als ich am nächsten Morgen das Haus verlassen wollte, um zur Arbeit zu fahren, traf mich die Realität wie ein Schock. Sämtliche Strassen des Ortes, inklusive unserer Hofeinfahrt, waren mit Sperrmüll zugestellt. Polizisten, die in voller Schutzmontur und Bewaffnung in gepanzerten Bussen, gefolgt von Wasserwerfern, für die Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit garantieren sollten, sahen sich einer lebensbedrohlichen Gefahr und einem schier unlösbaren Problem gegenüber. Nachdem ich vergeblich versucht hatte, mittels eines zufällig auf unserem Hof geparkten Baggers eine Schlucht durch unsere Einfahrt zu graben, rief ich meinen Arbeitgeber an, um ihm mitzuteilen, dass ich heute leider nicht zur Arbeit erscheinen könne. Er war überaus erstaunt über meinen Anruf und sagte: "Ich wusste doch schon, dass du heute nicht kommst. Schliesslich weiss ich, wo du wohnst." Offensichtlich wusste er mehr als ich über die Geschichte der Sperrmüllerei in der unserem Dorf. Das musste sich ändern.
Ich kletterte also über den Haufen in unserer Einfahrt, und begab mich Richtung Gemeindeverwaltung. Dort angekommen traf ich auf einen völlig entnervten Angestellten, der ins Telefon brüllte: "Nein, verdammt, es sind keine Plätze mehr frei! ... Sie hätten sich eben früher anmelden müssen! ... Es nützt Ihnen überhaupt nichts, mir jetzt Geld anzubieten, es gibt keine Passierscheine mehr!". Dann sah er mich völlig entgeistert an und schrie: "Was wollen ...". Weiter kam er nicht, weil schon wieder alle Telefone auf seinem Schreibtisch klingelten, und mit einer verächtlichen Geste und einer wegwerfenden Handbewegung verwies er mich des Raumes. Ich schlich davon.
Nachdem ich zwei Stunden später schwer blutend, mit einem blauen Auge und völlig zerkratzt wieder zuhause angelangt war, (Die Entfernung zur Gemeindeverwaltung beträgt übrigens nur knappe 180 Meter) berichtete ich meiner süßen Frau von den Geschehnissen, und begab mich dann gemeinschaftlich mit ihr ins Internet. Meine Suche bei Google nach "Sperrmüll und dem Namen unsers Dorfes" ergab auf Anhieb 1321 Treffer. Die Einträge, die wir fanden, lösten eine gewisse Fassungslosigkeit und Schauer der Angst bei uns aus. Ein paar wenige davon möchte ich daher schlagzeilenartig auflisten:
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"DIE NEUESTEN BILDER VOM SPERRMÜLL IN XXX (Unsere Ortbezeichnung mussten wir aus Sicherheitsgründen löschen, um nicht noch mehr Mülltouristen anzulocken!) !!!" (Die Seite war am selben Morgen erstellt worden und der Besucherzähler zeigte mehr als 407.000 Zugriffe.)
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"LAST MINUTE BUSREISEN - DIE LETZTEN PLÄTZE FÜR DIE SPERRMÜLL-IN-XXX-TOUR !!! HIN- UND RÜCKREISE INCL. 4 STUNDEN AUFENTHALT NUR 586 EURO MINDESTGEBOT!"
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"RADIO FFH, STAUMELDER: SÄMTLICHE ZUFAHRTSSTRASSEN NACH XXX SIND WEITERHIN BLOCKIERT: ORTSKUNDIGE WERDEN GEBETEN, DEN BEREICH WEITRÄUMIG ZU UMFAHREN."
Natürlich begaben wir uns daraufhin sofort wieder ausser Haus. Draussen angekommen, hörten wir nun auch endlich die Lautsprecherdurchsagen der Polizei:
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Bewahren Sie Ruhe!
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Es ist niemand in Gefahr!
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Die Anwohner werden gebeten, Fenster und Türen geschlossen zu halten, und ihre Häuser nicht zu verlassen!
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Plünderer werden ohne Vorwarnung erschossen!
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Die Gemeindeverwaltung hat den Ausnahmezustand ausgerufen!
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Notärzte und Sanitäter finden Sie hinter allen Ortsausgangsschildern!
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Alle Besucher werden gebeten, ihre Fingerabdrücke nehmen zu lassen, damit im Todesfalle die Identifizierung der Opfer leichter zu bewerkstelligen ist!
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Bewahren Sie Ruhe! Es ist niemand in Gefahr!
Mittlerweile waren auch die Wagen der Stadtverwaltung eingetroffen. Die Mitarbeiter versuchten verzweifelt, wenigstens einen Teil der Beute für die städtische Müllverbrennung zu ergattern. Unter dem wachsamen Auge der Ordnungshüter und geschützt durch die Wasserwände der freiwilligen Feuerwehr, gelang es ihnen bisweilen, ein einzelnes Stuhlbein oder manchmal auch nur einen versehentlich abgestellten gelben Sack in die nahezu leeren Abholfahrzeuge zu befördern. Der erste Tote des Tages entstand nicht durch den Neid der Besitzlosen, sondern durch die Schütte des Abholwagens, als er versuchte einen verschimmelten Tisch vor dem endgültigen Verschwinden zu retten. Es kam, wie es kommen musste: Sein Oberkörper erfuhr später am Tage eine Feuerbestattung, während sein Unterleib von übereifrigen Sammlern und Jägern in einen versifften Transporter geschmissen wurde.
Wir flüchteten uns gerade noch rechtzeitig ins Haus, hoffend, genug Vorräte für die Dauer der Belagerung zu besitzen, und begaben uns auf der Suche nach Informationen sofort wieder ins Netz. Beim weitergehenden Studium der Google-Einträge fanden wir nach langen Stunden endlich auch die Erklärung für das immense Sperrmüllaufkommen in unserem Dorf:
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"1-A-Sperrmüll für die Einwohner von XXX! Bei uns zahlen Sie lediglich den Kilopreis! Greifen Sie zu, solange der Vorrat reicht! Inklusive Transportversicherung! Anlieferung bis Keller Unterkante nur 99,- EURO