Schreibwettbewerb April 2008 - Thema: "Nackt"

  • Thema April 2008:


    "Nackt"


    Vom 01. bis 20. April 2008 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb April 2008 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!


    Nur für registrierte Mitglieder mit mindestens 50 Beiträgen!

  • von Leserättin


    „Mein Name ist James McCullen.“ Er verneigte sich leicht, wodurch das schwarze Haar nach vorne auf seine muskulöse Brust fiel.
    Sandra konnte ihn nur ansehen. Vor ihr stand ein wahrer Traummann. Groß, mit markanten Gesichtszügen, dunklen Augen, in denen Feuerfunken glitzerten und breiten Schultern. Und komplett nackt. Sie befeuchtete sich die Lippen, als sie ihren Blick an ihm abwärts wandern ließ. Seine Männlichkeit reckte sich stolz aus einem Nest schwarzer Haare empor. Es prickelte in ihrem Schoß. Sie trat einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen.
    „Ich freue mich, dir zu Diensten sein zu dürfen und dir all die Freuden zu bescheren, auf die du bisher verzichten musstest“, sagte er mit einer Stimme, die leicht rauchig und doch samtig klang, wie guter schottischer Whiskey, den man mit Sahne vermischt hatte. Er stand nun so nah, dass sie seinen männlich-herben Duft riechen konnte.
    Sandra streckte die Hand aus, um diesen prachtvollen Körper zu berühren. Sie wollte über die von der Sonne dunkelgolden gefärbte Haut streichen, den flachen Bauch hinab. Und sich von ihm lieben lassen, die ganze Nacht, er würde sie verwöhnen, wie kein Mann je zuvor.
    Doch statt Männerbrust fanden ihre Finger nur Kopfkissenbezug.
    Sandra blinzelte und seufzte voller Bedauern. Nur ein Traum. Dieser fantastisch aussehende Highlander war lediglich ein Produkt ihres Unterbewusstseins gewesen.
    Sie stand auf, stellte sich unter die Dusche und versuchte die Traumfetzen heraufzubeschwören. Schwer war das nicht, das Bild war sehr deutlich gewesen. Aber einen solchen Mann würde sie hier sicher nicht kennen lernen. Sie hatte Konrad gehabt, einen Bankangestellten mit Bauchansatz und spärlichem Haar. Und einen solchen Satz wie von ihrem nächtlichen Fantasieliebhaber, hatte sie von Konrad nie gehört. Für ihn war Sex etwas, das man samstags nach der Sportschau machte und wobei er sich nur um seine eigene Befriedigung kümmerte. Wahrscheinlich hielt er das mit seiner Neuen genauso.
    Wasser prasselte auf ihren Körper und erinnerte sie an James McCullen. Wie sich wohl seine Fingerspitzen anfühlen würden, wenn sie über ihren Körper tanzten? Sie seufzte abermals.
    Die Gedanken an Männer zur Seite schiebend fuhr Sandra ins Büro.
    Als sie am späten Nachmittag nach Hause kam, stand ein Möbelwagen auf ihrem Stellplatz. Sandra wartete, doch niemand tauchte auf.
    Leise vor sich hin grummelnd suchte sie einen anderen Parkplatz.
    Sie war gerade in ihrer Wohnung angekommen, als es an der Tür klingelte. Das war es dann wohl mit dem gemütlichen Abend auf der Couch.
    „Guten Abend. Mein Name ist James McCullen, ich bin Ihr neuer Nachbar. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen“, sagte ein umwerfend attraktiver Mann mit einer Stimme, die wie mit Sahne vermischter Whiskey klang.

  • von Daniela


    „Hallo, mein Name ist Georg und ich bin Alkoholiker.“ Jetzt war er raus, der Satz der ihn vor den anderen im Kreis vollständig entblößte. Ihm kam nicht in den Sinn, dass es den andern sieben im Kreis genauso ging. Georg konnte nur denken:“ Jetzt wissen es alle.“ Er fing an zu schwitzen, sein Hemd innerhalb von Sekunden triefend nass, einer Panikattacke nahe. Georg sah die anderen nicht mehr. „Da liegt sie meine Seele. Unbedeckt. Jeder kann nun auf ihr herumtrampeln.“ So war es immer mit Georg gewesen. Er dachte nur an sich – den erfolgreichen Aktienhändler, den goldenen Star auf dem Parkett. An den Georg, der die Millionenerbin heiratete und schließlich drei Stammhalter zeugte. An den Georg, der plötzlich nicht mehr auf dem Parkett glänzte, auf den alle kopfschüttelnd mit dem Finger zeigten, an den, der alles verlor – wegen Insidergeschäften. Er zerfloß in Selbstmitleid, fing an zu trinken und gammelte auf dem tausend Euro teuren Sofa vor sich hin. Er hörte nicht die Vorwürfe seiner Frau Claudia, sah nicht die traurigen Kinderaugen.


    Er erwachte erst aus seiner Lethargie als ein dumpfer Aufprall ihn hochschrecken ließ. Er sah auf die Straße und erblickte seinen mittleren Sohn blutend mit verrenkten Gliedern auf dem harten Asphalt. Georg schrie, stieg aus und taumelte auf sein Kind zu. „Stockbesoffen“, murmelten die Sensationslustigen. Die herbeigerufenen Polizisten führten Georg in Handschellen ab und letztendlich landete er in der Justizvollzuganstalt, wo er nun stand und sagte:“ Mein Name ist Georg und ich bin Alkoholiker. Ich habe mein eigenes Kind totgefahren, das Leben meiner Familie zerstört und mein eigenes auch. Ich brauche Hilfe und werde Euch meine Seele entblößen, sie Euch zu Füßen legen und es stört mich nicht emotional nackt hier zu stehen, denn das ist meine letzte Chance.“

  • von Seestern


    „Was ist das hier?“ Er streicht mit dem Zeigefinger über den blauen Fleck auf meiner Brust.
    Ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt.
    Der Knutschfleck ist zwar inzwischen verblasst und kaum noch als solcher zu erkennen, dennoch bemühe ich mich krampfhaft um eine unbekümmerte Miene und sage lässig: „Keine Ahnung, Du weißt ja, wie empfindlich meine Haut ist.“
    Hast Du eigentlich schon über meinen Vorschlag nachgedacht?“ wechselt er das Thema und stürzt mich damit in die nächste Bredouille.
    „Ich wäge immer noch ab.“
    „Was gibt es da groß abzuwägen? Meine Wohnung ist wesentlich größer und liegt zentraler als Deine, Du würdest Dir die Miete sparen und könntest jeden Morgen neben mir aufwachen.“ Er zieht mich in seine Arme.
    „Ich weiß nicht, wahrscheinlich habe ich einfach Angst, meine Unabhängigkeit aufzugeben …“
    Vor meinem inneren Auge defilieren Bilder von gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten, gemeinsamen Fernsehabenden, gemeinsamen Morgenritualen.
    Schöne Bilder, wenn man sie ab und zu betrachtet. Fade und abgenutzt, hat man sie jeden Tag vor Augen.
    „Du gibst doch Deine Unabhängigkeit nicht auf, wenn Du bei mir einziehst.“
    In seiner Stimme höre ich wieder den gereizten Anflug, der sich einstellt, sobald dieses Thema aufs Tapet kommt.
    „Ich finde, nach zwei Jahren könntest Du Dich langsam entscheiden, ob Du Deine Zukunft mit mir verbringen willst. Und dazu gehört für mich eben auch eine gemeinsame Wohnung.“
    Er steigt aus dem Bett und schließt die Schlafzimmertür nicht grade sacht hinter sich.


    An diesem Nachmittag bespreche ich die morgendliche Szene mit einer Freundin.
    „Weißt Du, ohne mich mit ihm solidarisieren zu wollen, glaube ich, Du solltest Dir langsam darüber klar werden, was Du wirklich willst. Du wirst nächsten Monat 30 und lebst in beziehungstechnischer Hinsicht das Leben eines Teenagers.
    Wärst Du nicht liiert, könnte ich das tolerieren. Allerdings kannst Du dir nicht nur die Rosinen aus dem Kuchen picken. Ich finde, es ist an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen.
    Trenn Dich von ihm und leb Dein promiskuitives Leben weiter oder übernimm Verantwortung für Deine Beziehung.“
    „Eigentlich weiß ich genau, was ich will. Ich habe nur Angst vor dem letzten Schritt, “ sage ich.
    Mein Blick fällt auf die neben mir liegende Zeitung und das „Zitat des Tages“:


    Zage nicht, und dein Nachen wird trotz Sturm den Hafen schaun.


    „Tut mir leid, aber ich muss jetzt los.“
    Ich drücke meiner Freundin einen Kuss auf die Wange und hoffe im Hinausgehen, dass Huber & Söhne noch geöffnet haben, um ein Türschild in Auftrag geben zu können.

  • von kamelin


    Selbst wenn der Tod eines geliebten Menschen schon viele Jahre zurückliegt, kann man das Feuer des Schmerzes noch gut in seinem Inneren fühlen, denn die Brandspuren sind meist nicht ganz verheilt. Der Schmerz mag sich wie ein Drache in seine Höhle zurückgezogen haben, eingerollt, die roten Augen fest verschlossen, der Atem sacht und leise. Schlummernd. Lauernd. Doch ein Gedanke genügt um ihn zu wecken. Manchmal ist es ein Geruch im Wind oder ein Name der irgendwo fällt. Sofort ist er wieder hellwach, als wäre er nie fort gewesen, und spuckt sein alles durchdringendes Feuer.
    Und dann sind sie da, die Erinnerungen und Emotionen die sich einen Weg nach aussen suchen. Nackter Schmerz ohne Ausdrucksmöglichkeit, blanke Trauer, die nie gelebt- und Tränen, die nie vergossen wurden. Keine Tränen, warum eigentlich nicht? Weil einen die Toten nie so ganz verlassen haben? Weil sie immer ein Teil von uns bleiben werden? Oder weil man einen Menschen nicht begraben- und hinter einem Tränenschleier verstecken kann?
    Kann man Drachen zähmen? Vielleicht. Möglicherweise schafft man es, ihn mit der Zeit ein wenig einzuschläfern. Aber nur eine Weile. Man kann auch versuchen ihn zu kitzeln und damit weniger furchteinflössend aussehen zu lassen.
    Ich habe allerdings festgestellt, dass man die Angst vor dem Drachen schmälert, wenn man sich im ersten Schritt seine eigenen Schwächen zugesteht. Das erfordert manchmal mehr Mut als einen Drachen zu bekämpfen. Davon einmal abgesehen hilft es, ihn als das zu betrachten, was er ist: ein Drache. Er ist nicht gut oder schlecht, er ist einfach nur er selbst. Er ist da, weil man ihn mit seinen Erinnerungen herbeiruft und er bleibt so lange, bis man ihn sich angesehen hat. Vielleicht will er, dass man in seine rot glühenden Augen sieht ohne zu blinzeln. Womöglich möchte er, dass man einmal nicht den Helden spielt und sein Schwert zieht. Möglicherweise wartet er ja auf eine Geste des Friedens, eine Hand die sich ausstreckt um seine Schuppen zu berühren, ohne ihn dabei zu verfluchen, zu beschimpfen oder einen Teufel zu nennen.
    Damit man die unsichtbaren Wahrheiten erkennt, die sich hinter den Oberflächlichkeiten seiner glänzenden Schuppen und langen Fangzähne verbergen. Sie sich ansieht, zulässt und aushält ohne zu klagen.
    Denn Eines habe ich in all den Jahren gelernt: Man kann Drachen nicht besiegen, sie sind unbezwingbar. Sie zu bekämpfen bedeutet gegen sich selbst zu kämpfen und diesen Kampf kann man nur verlieren. Aber man kann seinem Drachen zuhören. Sich zu ihm setzen und ihn sich ganz genau ansehen. Dann wird man möglicherweise feststellen, dass er eine Menge zu sagen hat. Über sich selbst und über die Dinge, die man fürchtet und meidet. Denn Drachen nähren sich aus den Ängsten, die von Generation zu Generation vererbt- und nie betrachtet wurden.
    Warum ist es so schwierig sich seinem Drachen zu stellen? Warum fühle ich mich dabei so hilflos und nackt? Die Hand ausstrecken und den Drachen berühren. Ihm zuhören und dabei in die Augen sehen.
    Eine wirkliche Herausforderung, aber die Arbeit lohnt sich und schliesslich nimmt sie einem niemand ab.

  • von Quetzalcoatlus


    Das Wasser funkelte so azurblau wie selten zuvor.
    Es war glasklar. Unerträglich durchscheinend und klar.
    Der große Weißhai peitschte seine Schwanzflosse kräftig durch die klaren Meeresfluten. Seine Kiemen zitterten nervös, während er einem seiner prestigeträchtigsten Jagdgründe entgegenschwamm.
    Warum begegneten ihm keine Fische? Warum schlängelten sich keine Röhrenwürmer durch den schlammigen Grund? Wo waren all die Korallen und Anemonen, die sich sonst als bunter Teppich bis weit in die Ferne erstreckten?
    Das Fehlen des üblichen Gewimmels unterlegener Geschöpfe nahm ihm auch sein Gefühl der Überlegenheit, als habe ihn eine kataklysmische Macht mutwillig seiner Privilegien beraubt.
    Das Seltsamste war jedoch der Meeresboden. Nackt und kahl erstreckte er sich in sämtliche Richtungen als gleichmäßig dumpfe Leere. Eine unterseeische Brachlandschaft, soweit das Fischauge reichte. Die entblößte Weite des Ozeans.
    Nur ein gespaltener Steinbrocken lag in der Gegend, starr und blutleer. Anklagend ragte er in die Höhe, als sei das abgeschlagene Haupt eines Riesen auf eine weite Ebene geschleudert worden, auf dass die Aas fressenden Kreaturen ihm die Haare aus der Schädeldecke rupfen mochten.
    Ein Kopf lugte hinter dem Brocken hervor, dann schwamm der dazugehörige Fisch ins Freie. Der Hai kannte diesen Gesellen, es war ein gewitzter alter Riesenzackenbarsch mit graublau marmorierten Schuppen und narbiger Rückenflosse.
    Die beiden Raubfische waren sich oft bei der Jagd in den Seegraswiesen und Anemonenwäldern in freundschaftlicher Weise begegnet. Der Barsch konnte in Spalten und Hohlräume eindringen und somit dort verborgene Leckerbissen hervorjagen, denen der Hai anschließend im offenen Wasser den Garaus machte. Der Hai konnte dagegen auch größere Beutetiere überwältigen, deren herabgesunkene Überreste der Barsch später vom Meeresgrund pickte.
    Der Weißhai sah seinen alten Kumpan mit fragender Bestürzung an. „Was um Meeres Willen ist hier geschehen?“
    Der Zackenbarsch ließ sich einen Moment auf der Stelle treiben und produzierte Luftblasen. Dann blubberte er grimmig: „Der große Schlund.“
    „Ich habe davon gehört“, quetschte der Hai zwischen seinen Zahnreihen hervor. „Aber ich hätte nie erwartet, dass er sich in meine Jagdgründe wagt.“
    „Mach dir keine Illusionen“, entgegnete der Barsch. „Er ist mächtiger als du. Er ist der unersättlichste Räuber der Weltmeere. Die Gerüchte sind tatsächlich wahr: Er erscheint lautlos aus der Welt über uns. Er ist fast unsichtbar und doch ungeheuer groß. In Eile ist er nie; man kann vor ihm fliehen, wenn man ihn rechtzeitig bemerkt. Aber er reißt unerbittlich alles mit sich, was in seinem Weg liegt: Fische, Muscheln, Korallenbänke – sogar den Boden selbst. Alles verschlingt er und nimmt es mit sich nach oben, wenn er wieder verschwindet.“ Er ließ seinen Blick über die bedrückende Leere schweifen. „Tut mir leid, alter Freund, aber ich fürchte, dieser Nahrungsgrund ist erloschen.“
    „Ja“, seufzte der Hai, „du hast Recht. Hier gibt es für uns beide tatsächlich nichts mehr zu holen.“
    Einen Moment lang sah er den Barsch mit traurigen Augen an. Dann packte er ihn mit seinen kräftigen Kiefern und riss ihn mit einem beinahe anmutigen Ruck seines gewaltigen Schädels in Fetzen.
    Wenig später trieben einige Gräten wie bizarr geformte Quallen taumelnd durch das Wasser, das so azurblau funkelte wie selten zuvor.

  • von Voltaire


    Bernie hat geredet; Bernie hatte mal wieder zuviel geredet. Und Bernie würde nun die Folgen dieser Zwei-Komma-Null-Promille-Rede tragen müssen. Es gab nichts was er zu seiner Entlastung hätte vortragen können. Und egal was er auch gesagt hätte, die zwei Gesichter vor ihm machten nicht den Eindruck als würden sie an irgendeiner seiner Erklärungen auch nur für zwei Pfennig interessiert sein.
    Gerade in der völligen Emotionslosigkeit dieser Gesichter spiegelte sich die ganze Interessenlosigkeit der Männer wider. Bernie war für sie lediglich ein Job der erledigt werden musste; es war ihnen völlig egal warum er jetzt zitternd vor ihnen stand, es war ihnen egal was er jetzt noch hätte sagen können; mit anderen Worten, Bernie existierte nicht für sie, hatte nie für sie existiert. Bernie war ein Job der sauber erledigt werden musste. Gute Arbeit für gutes Geld.

    „Ausziehen!“ Der Größere von Beiden schaute ihn dabei mit ausdruckslosem Blick an.


    „Bitte....ich....“, Bernies Stimme war ein einziges nervtötendes Krächzen, eine Stimme die es nicht verdiente als Stimme auf das Gehör seiner Mitmenschen losgelassen zu werden. Eine Stimme die nichts und niemanden etwas zu sagen hatte. Eine Stimme so unwichtig und uninteressant wie die Zeitung vom gestrigen Tag, Bernies Stimme halt.


    „Ich wiederhole mich nur ungern. Los! Ausziehen.“ Die Schusswaffe in der Hand des Mannes machte Bernie nur allzu deutlich klar auf wessen Seite die besseren Argumente waren. Auf seiner Seite waren sie sicher nicht.
    Bernies Finger zitterten dermaßen, das ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, das Parkinson gegen sein Zittern ein echter Ruhepol war. Sein Hemd fiel zu Boden. Er entledigte sich der Schuhe, echte italienische Halbschuhe für 250 Euro das Paar, und dann musste auch die Jeans dran glauben. Natürlich Designerjeans.
    Langsam streifte er das Beinkleid ab. Nur noch eine Boxershorts in den Farben der Nationalflagge Monacos flatterte um seinen mageren Körper. Gerade als er sich auch dieses Kleidungsstückes entledigen wollte wurde er unterbrochen:
    „Den Lappen kannst du anbehalten. Sollst ja nicht nackt in der Hölle auftauchen.“
    Die beiden Männer lachten. Ein humorloseres Lachen hatte Bernie bisher noch nie gehört. Und dieses Lachen würde er nun mitnehmen, wohin auch immer er jetzt gehen musste.
    Mit geschickten Bewegungen wurden die Schalldämpfer auf die Waffen geschraubt. Bernie wusste das ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Wie gern hätte er jetzt die Gewissheit dafür gehabt, dass alles das was man ihm sein Pastor während des Konfirmandenunterrichtes erzählt hatte auch den Tatsachen entsprach. Er sehnte sich mit jeder Faser seines Körpers nach der Hand irgendeines Gottes, nach einer Hand die ihn führte, nach einer Hand die ihm stützend Trost spendete.
    Der kleinere der beiden Männer schaute ihn an:
    „So Herrmann, es ist Zeit!“
    Zwei Schüsse lösten sich mit einem halblauten Plopp aus den auf Bernie gerichteten Waffen; die Geschosse fanden ihr Ziel. Bernie stürzte zu Boden. Ehe alles um ihn herum in tiefer Dunkelheit versank dachte er noch einen letzten Gedanken:
    „Halt Ihr Schweine! Ich bin Bernie! Wer ist denn dieser Wichser Herrmann?“

  • von schneediebin


    Sieh mich doch nicht so an. Die Luft hat schon alle Stellen meines Körpers berührt, jetzt sollen deine Augen das nicht auch noch machen.
    Ich bin mein Herzschlag. Ich sehe ihn, wie er leicht die Haut unter meiner linken Brust anhebt und wieder sinken lässt. Auf und ab, wie alles im Leben, nicht wahr.
    Ich meine die Hitze zu spüren, die überall von meiner Haut ausgeht. Ich bin still, dabei würde ich am liebsten rausplatzen mit der Frage: „Was denkst du?“. Zu große Angst hält mich davon ab.


    Die Gedanken an das, was bevorsteht, treiben mir die Tränen in die Augen. Und das sollst du ruhig sehen, also zwinkere ich nicht. Ich lasse meine Augen voll werden vom warmen Salzwasser, bis dein Gesicht leicht verschwimmt, bis die Flüssigkeit zu schwer wird. Dann schließe ich die Augen kurz und fühle, wie die Tränen mit einem Mal in die Freiheit entlassen werden, an meinen Wangen entlanglaufen, heruntertropfen.


    Als ich dich wieder ansehe, hat sich dein Blick nicht verändert. Das hatte ich auch nicht erwartet. Wenn ich doch nur wissen könnte, was du denkst. Du sagst es mir ja doch nie, obwohl du es mir versprochen hattest.


    Wortlos legst du dich auf mich. Dein Gewicht beruhigt mich. Es dämpft meinen Herzschlag. Langsam lege ich meine Arme auf deinen Rücken und schließe erneut die Augen.
    Deine Haut ist etwas kühler als meine. Du bist ja auch kühler als ich, schießt es mir durch den Kopf.
    Deine Haut ist nicht so glatt wie meine. Du hast ja auch mehr durchgemacht.
    Doch ansonsten unterscheiden wir uns nicht.


    Doch, das tun wir. Ich will nicht die einzige sein, die dich retten kann, aber ich bin es. Und ich will dich retten. Aber ich weiß nicht, ob du mich retten kannst. Das ist der Unterschied.


    Es ist nie alles gut, so wie bei den anderen. Die anderen müssen nicht deinen Lebensfaden wieder zusammennähen. Die anderen könnten diesen Lebensfaden nie berühren. Aber ich habe die Schere in der Hand. Sie ist nur leicht geöffnet, zwischen ihr ist das dünne Garn gespannt. Es ist schon leicht verfranst und es liegt nur an mir. Wenn ich mich erschrecke, wenn ich ausrutsche, wenn das Gleichgewicht fehlt, dann schnappt die Schere zu und der Faden ist entzwei geteilt.


    Du weißt das und hast mir trotzdem die Schere in die Hand gedrückt. Danke dafür. Aber ich bin vielleicht noch zu klein, zu hilflos, zu nackt um dieses große, schwere Metallstück zu halten.

  • von Ushuaia


    „Herr Bücher, nun machen Sie es sich und uns nicht noch schwerer. Wir haben doch alle Beweise vorliegen.“


    Die Wurstfinger des Beamten klopfen auf die zentimeterdicke Akte auf dem Tisch, sein Tonfall ist eindeutig. Selbst wenn ich das letzte halbe Jahr auf einer Raumstation verbracht hätte, er würde mir immer noch nicht glauben, dass ich unschuldig bin.


    „Spucken Sie es aus, dann kommen Sie vielleicht mit ein paar Jahren Gefängnis davon“, ermuntert mich sein Kollege, der hinter mir steht. „Ihre Beteiligung an dem Anschlag steht fest. Wenn Sie jetzt mit uns zusammenarbeiten, dann …“


    Dann … Was dann? Ich rutsche auf dem unbequemen Stuhl hin und her. Mein Leben liegt ausgebreitet vor ihnen. Es ist erschreckend. Sämtliche Zeugnisse, Steuererklärungen, Bankbewegungen, Urlaubsreisen, Kommunikationsdaten, alle Flüge, der Inhalt meiner Gesundheitskarte, alle Strafzettel. Sie wissen mehr über mich als ich selbst.


    Bin ich tatsächlich am 7. Mai vor zwei Jahren bei rot über die Ampel gefahren? Genauso habe ich vergessen, dass ich manchmal vegetarisches Essen statt Schweinefleisch auf dem Urlaubsflug gewählt habe. Und warum hat Susanne, meine Frau, bei unserer Tunesienreise nicht an der dreitägigen Kamelsafari teilgenommen? Ja warum? Weil wir kurz zuvor mal wieder einen Streit gehabt hatten. Darum. So einfach ist das. Aber nein, nicht für die beiden Beamten. Die Kamelsafari hatte einem konspirativen Treff gedient. Genau. Mit ziemlich viel Sand, stechender Sonne, Kamelflöhen und Blasen am Hintern.


    Verschlüsselte E-Mails, Telefongespräche zu obskuren Handynummern, Autobahnfahrten bei Nacht und Nebel von Frankfurt nach Köln. Verdächtig. Wagen und Nummernschild eindeutig identifiziert. Es ist mein Wagen gewesen. Nur kann ich mich nicht daran erinnern. Letztes Jahr zwei Wochen spurlos verschwunden statt in Kur in Bad Wildungen. Hier hatte der Beamte das erste Mal gestockt. Kann es sein, dass sie tatsächlich nicht herausgefunden haben, wo ich statt dessen war? Sie nehmen an, ich hätte mittels falscher Papiere einen Flug in den Nahen Osten angetreten.


    Wir drehen uns seit Stunden im Kreis. Die beiden werfen mir Fakten und Daten an den Kopf, ich leugne. Wenn das noch lange so weitergeht, muss ich davon ausgehen, dass ich eine gespaltene Persönlichkeit habe. Vielleicht gibt es einen Teil in mir, der ohne mein Wissen nächtliche Autobahnfahrten unternimmt oder im Internet auf dubiosen Seiten herumsurft. Die beiden wollen auch nicht einsehen, dass ich nach 14-stündigen Arbeitstagen keine Lust habe, die Nacht in geheimen Internetforen zu verbringen. Oder dass ich im Urlaub tatsächlich nur Ferien machen will und nicht an terroristischen Trainingslagern teilnehme. Und nein, weder will ich Anschläge planen noch ausführen.


    Aber die Daten sprechen gegen mich. Und Daten sagen die Wahrheit. Immer. Daten sind objektiv und nicht anfechtbar. Seit den verschärften Sicherheitsgesetzen vom 25. Mai 2010, die zu einer Zusammenlegung aller staatlichen Datenbanken geführt hatten, war aus dem gläsernen Steuerzahler und dem gläsernen Internetnutzer der „nackte Bürger“ geworden, wie es die TAZ kürzlich nannte.


    Es hilft nur noch eins. Auswandern. Genau dafür plane ich seit zwei Jahren. Insgeheim. Ohne das Wissen meiner Frau.


    „Ihre Frau …“, der Beamte stockt.


    Schlagartig wird mir alles klar.


    Susanne!

  • von Sinela


    Brr, ist mir kalt. Schlotternd stelle ich mich unter die Dusche und genieße die warmen Wassertropfen, die über meine Gänsehaut perlen. Ich bin allein, im Moment ist niemand außer mir so verrückt, bei diesem Wetter ins Freibad zu gehen um zu schwimmen. Ich schließe die Augen, konzentriere mich auf die Wärme. Ich höre, wie doch noch jemand von den Umzugskabinen kommend die Dusche betritt. Diese Person kommt auf mich zu und bleibt dicht hinter mir stehen. Ich denke noch, was ist denn das für eine blöde Tussi, als ich zwei Hände auf meinem Busen fühle. Erschrocken reiße ich die Augen auf und wirble herum. Ein Lächeln tritt auf meine Lippen, du bist es, wolltest mich überraschen und das ist dir gelungen. Nackt stehst du vor mir, kannst deine Erregung nicht verbergen. Du küsst mich und während unsere Zungen leidenschaftlich miteinander spielen, drückst du mich fest an deinen Körper und streichelst zärtlich meine Pobacken. Du beendest den tiefen Kuss und wir lösen uns voneinander. Ich nehme deinen strammen Max in meine Hand und fahre sanft rauf und runter. Deine Hände reizen meine Brustwarzen, wandern dann zu meiner Klittie, reiben sie sanft. Als du merkst, wie feucht ich bin, bittest du mich, mich umzudrehen und vorzubeugen. Tief dringst du in mich ein, füllst mich vollkommen aus. Die Vorstellung, dass jederzeit noch jemand reinkommen könnte, macht mich rattenscharf. In Nullkommanichts komme ich zum Höhepunkt. Doch das reicht dir noch nicht, ich spüre deine Hände überall auf meinem Körper und als auch du kommst, komme ich ein zweites und ein drittes Mal. Völlig erschöpft stehe ich unter dem warmen Wasserstrahl, fühle, wie du aus mir hinausgleitest. Langsam richte ich mich auf, noch völlig außer Atem. Ich drehe mich um, aber du bist nicht mehr da. War das alles nur ein Traum? Nein, das kann nicht sein, denn meine Haut kribbelt an den Stellen, an denen du sie berührt hast und meine Lippen sind noch geschwollen von deinem Kuss. Mit einem wohligen Seufzen widme ich mich wieder der Körperpflege. Ich denke, ich werde in Zukunft öfter schwimmen gehen!

  • von Luc


    Im Dorf glaubten die Menschen, Mutter Bamako könnte die Zukunft voraussagen. Eines Tages beschloss sie, Guinea zu verlassen, weil ein einsamer Mann in Deutschland auf sie wartete und dort eine weitere Vision in Erfüllung gehen würde. Vor der Abreise gab Mutter Bamako ihrem Sohn einen Stift und einen Zettel.
    „Zeichne alles auf“, befahl sie ihm. Mutter Bamako verkaufte ihr Hab und Gut. Der fette Bootsbesitzer forderte mehr Geld für die Überfahrt nach Europa, als sie besaß. Mutter Bamako bezahlte zusätzlich den Preis der heruntergelassenen Hose. Ihre Sohn Joshua beobachtete die beiden Erwachsenen durch das Schlüsselloch und zeichnete.


    Teneriffa erwartete Familie Bamako in Gestalt eines Patrouillenbootes. Gesteuert von Polizisten, die keinen Willkommensflamenco für illegale Einwanderer tanzen wollten. Stattdessen steckte die Guardia Civil Familie Bamako in einen Container, der in der Sonne blitzte wie abgezogene Haifischhaut.


    Eines Nachmittags blickte Joshua ins Innere der Wohneinheit, was er sah verstörte ihn. Der Chef der Ausländerbehörde hockte nackt in der Mitte des Raums und grinste, als hätte er die Goldreserven von Fort Knox im Rücken. Mutter Bamakos Kopf sauste vor seinem Bauchnabel auf und ab, als förderte sie texanisches Öl zu Tage. Joshua zeichnete. Gleichzeitig tat er den Schwur, niemals solche Erniedrigungen in seinem Leben hinzunehmen wie seine Mutter. In der Nacht durften sie das Lager verlassen. Sie überquerten zwei Grenzen.


    In Kassel angekommen schuftete Mutter Bamako für eine Gebäudereinigungsfirma, vier Euro die Stunde, die Sonntage frei. Die Sonntage verbrachte Mutter Bamako in der Kirche. Dem Pfarrer das Herz ausschütten, über die dicken Männer und Sünden von geringerer Schwere, wie ihr Werner Kummerrad, der Geistliche, attestierte. Sie wusste, sie war angekommen. Werner Kummerrad heiratete sie. Gemeinsam standen sie die Schmähungen der Gemeinde durch, Mutter Bamako hätte Gott den Kummerrad weggenommen.


    Kummerrad gewann nach anfänglicher Euphorie den Überblick über seine sinkenden Rentenansprüche zurück und brach aufgrund seiner neu gewonnenen Perspektivlosigkeit in ein rotweingeschwängertes Jammern aus. Mutter Bamako investierte derweil Kummerrads Erspartes gewinnbringend. „Mutter Bamako“ hieß bald das beliebteste Restaurant der Stadt, dessen Wirt Kummerrad den Gästen die Beichte am Zapfhahn abnahm.


    Joshuas Lehrerin meinte abfällig, seine Sprachkenntnisse würden eine Versetzung in die nächste Klasse unmöglich machen. Joshua verachtete Menschen, die alles wussten und nie etwas erlebt hatten. Er schaffte die Versetzung. Später studierte er Kunstgeschichte und verdiente sein Geld damit, Möbel zu schleppen und Teller zu waschen. Er lebte in winzigen Wohnungen, manchmal hungerte er, um Kompromisse zu vermeiden. Denn Nachts malte er im Atelier eines Freundes wie im Rausch und der Erfolg stellte sich ein. Er verkaufte seine Gemälde zu astronomischen Preisen.


    Mutter Bamako besuchte eine seiner Ausstellungen. Verschämt betrachtete sie die Bilder. Lauter dicke, nackte Männer malte Joshua. Obwohl sie vorher die Zeitungen studiert hatte, schnappte sie nach Luft.
    „Ich habe eigentlich geglaubt du würdest Schriftsteller werden“, sagte sie.
    „Und ich dachte du könntest den Menschen die Zukunft voraussagen, Mutter“,
    „Blödsinn. Ich besitze lediglich Menschenkenntnis. Menschenkenntnis, Glaube und Willensstärke sind unser Erfolgsrezept“, sagte sie pathetisch.
    „Und nackte, dicke Männer“, erwiderte er, reichte ihr ein Sektglas und lachte vom Sarkasmus ergriffen. Mutter Bamako seufzte.

  • von arter


    „Wenn es ihnen nichts ausmacht, ziehen sie sich bitte aus“, sagte der sanftäugige Ägypter mit einem mystischen Lächeln. Schräg einfallendes Licht blendete ihre Augen. Ein eisiger Luftzug ließ sie erschauern.


    Im April hatte sie Vorhänge gekauft. Schwere, dunkle Gardinen bewahrten sie seither vor den begehrlichen Blicken vorbeigehender Passanten. Nun fühlte sie sich frei, aber doch war sie gefangen.


    „300 Dollar und es macht mir nichts aus“, zitterte ihre Stimme. Überlegenes Schweigen spottete über ihre Antwort. Eine Staubflocke schwebte durch den Raum. Sie hatte das Gefühl, sie müsse niesen.


    Im Mai hatte sie sich wandgroße Spiegel montieren lassen. Endlose Räume taten sich danach vor ihr auf. Tausendfache Kopien ihrer grazilen Figur wandelten durch ein schauriges Labyrinth.


    „Wir wollen jetzt nicht über Geld reden“, lächelte der Fremde. Sie rieb sich nervös die Nase. An der Wand klebte eine langbeinige Spinne. Ihr war nach Schreien zumute. Zögernd tasteten ihre Finger nach dem Saum ihres Pullovers.


    Im Juni hatte sie die Spiegel zerschlagen. Ein braunroter Fleck verunstaltete seitdem den kostbaren Teppich. Sie floh aus den beengenden Wänden. Rastlos irrte sie durch die Welt, auf der Suche nach ihrem verlorenen Selbst.


    „Gefalle ich ihnen nicht?“, fragte sie den Mann, der ihr scheinbar uninteressiert den Rücken zugewandt hatte. Eine Klimaanlage brummte in stoischer Gleichmäßigkeit. War es die Kälte des Raumes, durch die sich die kleinen Erhebungen auf der Blöße ihrer Brüste versteiften?


    Im Juli, unter der alles versengenden Sonne Kaliforniens, hatte ihr ein tätowierter Typ mit einer Nymphe auf dem Oberarm das weiße Pulver angeboten. Sie ließ sich entführen in die schrille Welt der Farben. Sich hingeben, sich ausliefern, willenlos sein. Erneut war sie gefangen.


    „Das tut jetzt nichts zur Sache“, sagte der Ägypter in aller Seelenruhe, während er einen beunruhigend gefährlichen metallischen Gegenstand in den Händen haltend auf sie zuschritt. Panische Angst breitete sich in ihr aus. Das war also das Ende. Wohin konnte sie jetzt noch fliehen?


    Als sie im August in ihre Wohnung zurückgekehrt war, hatte sie die massigen Vorhänge heruntergerissen. Gleißendes Licht war in den Raum geströmt, den letzten Winkel erhellend. Nun genoss sie es, wenn Fremde ihren Körper begafften. Oft hatte sie sich nackt an das geöffnete Fenster gestellt, ihnen zugelächelt und sie zu sich hereingebeten. Weißes Pulver gab es jetzt in Hülle und Fülle.


    „Was wollen Sie von mir?“, fragte sie, den Rücken an eine kalte, weiße Wand gepresst. Der Boden vibrierte vom Lärm eines vorüberdonnernden Lastwagens. „Es wird nicht weh tun“, sagte der Araber mit dämonischem Grinsen.


    Der Zusammenbruch war im September gekommen. Sie war nackt in der Lache einer undefinierbaren Flüssigkeit erwacht. Über sie gebeugt, gewahrte sie ein bräunliches Gesicht, aus dessen Richtung unverständlich gedehnte, dumpfe Laute kamen.


    „Ich will noch nicht sterben“, flehte sie.
    „Das werden sie nicht. Sie sind organisch völlig gesund“, lächelte der Fremde beruhigend.
    „Wer sind Sie?“, fragte sie irritiert.
    „Mein Name ist Rachid el Hakim“, antwortete der Arzt. „Wie gesagt, es fehlt Ihnen eigentlich nichts, aber Sie sollten dringend einen Psychologen konsultieren“.


    ‚Ich sollte dieses Mal rote Gardinen wählen‘, dachte sie.

  • von Tom


    Als Kevin mit der Nachricht kam, dass wir als Vorband bei "Tornado Survivors" spielen würden, sind wir ausgetickt. Keine Ahnung, wie er das hingekriegt hat, schließlich sind die TS Helden, die in Amiland Stadien füllen, und wir sind nur eine etwas richtungsarme Kleinstadtcombo irgendwo zwischen Grunge, New Metal und Crossover - was wiederum eine Bezeichnung ist, über die wir gerne streiten. Jedenfalls haben wir uns bei Frido im "Kumpelkeller" die Kante gegeben und einen Gutteil der Gage vorab versoffen.
    Supporting Act ist eigentlich totale Scheiße. Keiner will einen hören, und die Fans schreien zwischen den Stücken nach der Combo, wegen der sie gekommen sind. Applaus gibt es nur, wenn man den letzten Song des Sets ankündigt. Kevin macht das nichts aus, weil er das Publikum sowieso ignoriert, wenn er seine großen Gesten inszeniert, die wild in die Höhe geworfenen Hände, den anklagend in den Nacken gekippten Schädel, wohldosiert, damit seine langen Haare zur Geltung kommen. Zwischen den Stücken redet Berno, unser Schlagzeuger. Kevin steht nur da und starrt an die Hallendecke oder dreht Pirouetten auf der linken Fußspitze. Mütze, unser Gitarrist, kriegt sowieso nichts mit. Wenn der seine Strato im Arm hat, könnte der Papst direkt vor seinen Augen ein Huhn vögeln. Er würde es nicht einmal sehen.
    Und ich? Ich bin der Bassist. Die Bassläufe unserer Stücke gleichen sich weitgehend, und ich habe nur bei zwei Songs die Gelegenheit, ein bisschen was zu zeigen. Herumgehüpfe ist nicht so mein Ding. Ich stehe da, deute tänzelnde Bewegungen an - und starre ins Publikum. Ich kann nicht anders. Ich fixiere die Leute in der ersten Reihe, und wenn ich dabei nicht aufpasse, verliere ich den Anschluss. Das ist halb so schlimm, wenn wir in der "Torte" von unseren Leuten auftreten. Aber fünftausend Menschen, die nach den "Tornado Survivors" schreien - ich mag kaum daran denken.
    Berno sagt, ich soll mich vorher besaufen, beim Bass merkt sowieso niemand, wenn was schiefläuft. Mütze empfiehlt mir, mich ganz auf meine Bassgitarre zu konzentrieren, aber wenn ich das mache, verspiele ich mich. Dann kommt Kevin und erklärt, ich solle mir die erste Reihe einfach nackt vorstellen. Wenn man das tut, verliert man die Angst vor dem Publikum. Behauptet er.
    Also trete ich auf die Bühne, als zweiter. Berno spielt das Schlagzeugintro, ich habe das noch nie so laut gehört, und auf dem Weg zu meiner Position setze ich ein. Ich spüre, wie der Angstschweiß mein Shirt durchnässt, verkacke beinahe den Tempowechsel, mit dem Mütze einsetzen soll, erinnere mich an Kevins Worte und starre die fünfzehnjährigen - hauptsächlich weiblichen - TS-Fans an, die gelangweilt hochschauen.
    Ich bin achtundzwanzig. Ich kann mir unmöglich Fünfzehnjährige nackt vorstellen. Für sowas kommt man in die Hölle. Verflucht. Ich hänge hinterher, Kevin rempelt mich beiläufig an, grinst kurz. Ich schaue wieder in die erste Reihe. Links steht eine, die zwanzig sein könnte. Die Monitorbox verdeckt den Blick auf ihren Oberkörper. Wie die wohl ohne Klamotten aussieht?
    Unser Set funktioniert übrigens auch mit nur drei Bandmitgliedern auf der Bühne.

  • von churchill


    Sie steht vor mir. Von Kopf bis Fuß bekleidet.
    Ich schaue intensiv in ihr Gesicht.
    Geschminkt. Zu grell. Zu bunt. Mein Auge leidet.
    Ich seh sie an. Doch ich ertrag sie nicht.


    Ihr Hut ist groß und lenkt Betrachteraugen
    von rosa- und graugrünen Haaren ab.
    Ich weiß, dass Hüte zum Verbergen taugen.
    Das Hirn, dass hier verborgen wird, ist knapp.


    Die Nase soll sie wirklich gut verstecken,
    die aufgespritzten Lippen bitte auch.
    Statt Falten nur noch Krater zu entdecken,
    ist nicht der Anblick, den ich gerade brauch.


    Sie sieht verlebt aus. Auch schon für ihr Alter.
    Ich kauf ihr gern ne Bluse. Violett.
    Und einen höchst stabilen Büstenhalter.
    Den trägt sie hoffentlich dann auch im Bett.


    Einst warn es Birnenbrüste, hör ich jemand sagen,
    so warm und zart. Ich denk, nun sind sie kalt.
    Sind es noch Birnen, muss ich heute fragen?
    Bestimmt. So circa zwanzig Jahre alt.


    Im Augenblick trägt sie ne rote Robe,
    in der ihr Körper regelrecht versackt.
    Warum ich diese rote Robe lobe?
    Ich hoffe halt, sie wird nie ausgepackt.


    Dann bleibt dem Auge jedes braven Mannes
    der unverhüllte Leib der Frau erspart.
    Wenn sie den Hut abnimmt, ich glaub, dann kann es
    sogar noch sein, dass sie ganz heftig haart.


    Mit einem Ackergaul zu konkurrieren,
    fällt ihr recht leicht bei so nem Hinterteil.
    Wer neben ihr im Bett liegt, der muss frieren
    und sucht am besten in der Flucht sein Heil.


    Schon angezogen bringt sie mich zum Weinen.
    Entblößt sie sich, prüf, ob dein Herz noch schlägt.
    Es könnte sein, dass sie zwischen den Beinen
    eventuell noch Lockenwickler trägt.


    Zieht sie sich aus, dann wird sie es wohl schaffen,
    dass selbst der letzte Rest an Lust vergeht.
    Was grad noch mühsam stand, wird dann erschlaffen,
    auf dass es niemals wieder richtig steht ...


    Sie ist ein hässlich abgewracktes Luder.
    So was erträgt man nur in dunkelblau.
    Zum Glück ist dieses Wrack, mein lieber Bruder,
    nicht meine, sondern deine Ehefrau.

  • von Humpenflug


    Sie war nackt und baumelte apathisch an der niedrigen, grob verputzten Decke.
    Klebrige Striemen überzogen sie. Man hatte sie mit dem Kopf nach unten an deutschem
    Draht aufgehängt. Der Draht war an einen elektrischen Kreislauf angeschlossen.
    Und immer, wenn man den Schalter drückte passierte das Gleiche.
    „Sieht wirklich grausam aus “, ranzte die Halbglatze mit den dicken Armen und dem verschwitzten
    Hemd, „Es ist nicht zum Aushalten!“.
    „Wollen wir sie abhängen? Ja? Es wäre Zeit“, flüsterte die blonde Nickelbrille mit den schulterlangen
    Haaren fast ein wenig verlegen. . Letzte Sonnenstrahlen brachen
    durch ein dichtes Wolkenband. Vögel zwitscherten aufgeregt in den Bäumen drüben am Waldrand .
    Majestätisch kreiste hoch oben ein Wanderfalke. Ohne jede Hast wartete er in vollkommener
    Ruhe den Moment ab, in dem er wie ein Blitz aus dem Himmel herunterschießen und den Tod
    bringen würde.
    „Gut. Aber nicht zu Ikea“, bestimmte der Größere mit der Halbglatze
    „Nein. Ich will eine anständige Lampe, keinen Müll aus China. Eine nackte Glühbirne im Wohnzimmer
    sieht auf Dauer einfach nicht schön aus“, willigte sie ein und holte den Autoschlüssel.
    „Halt. Noch eins. Was hat die Überschrift mit dem Text hier zu tun? Sollten wir das nicht klären,
    bevor wir das Notebook zu klappen?“, bedachte die Halbglatze, runzelte die Stirn und zog die
    Augenbrauen hoch, „Nämlich genau genommen gar nichts “.
    „Spätestens jetzt werden es die Leser bemerkt haben, du Dussel“, sie schüttelte sacht und breit
    lächelnd ihren Kopf.

  • von teufelchen


    Sammelte für eine gute Sache von Tür zu Tür.
    Also- ich klingelte und eine Frau machte auf.
    Mein Spruch rollte ab . Sie : Kommen Sie rein. Ich also rein.
    Klasse Hütte und richtig feudal. Fast beiläufig sah sie mich intensiver an und streichelte meine Schulter. Dann fragte sie mich , ob ich eine Lesbe wäre und ob ich Probleme damit hätte. Ich war verunsichert und drängte zum Gehen. Aber sie wollte mir ihr Fotoatelier zeigen, unterm Dach. Sie wollte ein paar Fotoaufnahmen , gleich hier und auf der Stelle.
    Danach machte sie mir ein heißes Bad. Als ich mich in der Wanne räkelte , war mir natürlich klar, was diese Frau mit mir spielen wollte. Die anfängliche Angst war verschwunden, nur noch Neugierde.
    Sie gab mir einen Bademantel und tocknete mich ab.
    Zum Einschießen ein paar Aufnahmen im Bademantel .Nicht so , mehr nach rechts ! Nicht so steif stehen ! Gut ! Mehr Schulter !
    Mehr Busen ! Langsam bekam ich Wut, nachdem ich unzählige Höschen und T-Shirts nacheinander anziehen musste und pausenlos fotografiert wurde.
    Nach dem Eotoshooting ging sie in der Küche und kam mit belegte Schnittchen zurück.
    Erst beim zweiten Schnittchen sah ich , das sie nichts anhatte !
    Magst Du mich ? fragte sie . Das war ein ziemlich klares Angebot.
    Sie drückte mich auf der Couch und streckte sich ebenfalls lang auf ihr aus den Kopf in meinem Schoß .
    Sie erlaubte mir nur , sie anzufassen , wenn ich das Körperteil laut ausspreche.
    Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Dann hörte ich meine hölzerne Stimme : Ich möchte alles anfassen. Sie brach in ein fürchterliches
    Gelächter aus und küsste mich mitten auf dem Mund .
    Ihre Stimme war leise und weich . Alles, was du dazu brauchst, ist es zu nennen und deine Hand draufzulegen.
    Möchtest du nicht auch , das dieses Spiel unendlich weiter geht ?

  • von flashfrog


    Nein, schön bin ich nicht, wie ich hier so vor dir stehe, nackt und ungeschminkt, den viel zu großen Mund zu einem sarkastischen Grinsen verzogen, dass die spitzen Zähne hervorschauen. Das Gesicht eine Grimasse mit stechenden pfeilscharfen Augen. Eine Fratze, aus der ich die Zunge hervorschnellen lasse wie eine Kröte. Mein Körper ist von verschorften Schrunden und Narben entstellt.
    Ja, schau nur hin, sieh sie dir nur genau an, meine Brüste, meine Schamlosigkeit! Denn an meinem Busen säuge ich keine Schlange, und ich fresse meine Kinder mit Genuss.


    Erinnerst du dich noch an Ostern? Als der Pfarrer die Auferstehung predigte und ich mich neben ihn auf die Kanzel schlich, ihm meine nasse Zunge ins Ohr steckte und ihm kichernd zuzischte: "Das glaubst du ja wohl selber nicht, du scheinheiliger Wicht!"
    Wie ich mich mitten vor den Altar stellte und mich vor versammelter Gemeinde entblößte? Ja, so schnell bin ich durch den Beichtstuhl verschwunden, dass alle, die mich gesehen haben später schwören werden, ich wäre nie dagewesen.


    Ja, weißt du, in solchen Fällen kann ich einfach nicht widerstehn, ich habe eine Schwäche für solche Lügenbolde. Ich liebe zum Beispiel Gerichtssäle in denen Unrecht gesprochen wird von bestechlichen Richtern. Du kennst doch diese schnöseligen Anwälte, diese krawattierten Winkeladvokaten? Ich hefte mich auf dem Heimweg an ihre Fersen und schleiche mich in ihre Träume, lasse sie von Bluthunden hetzen, in stinkenden Morasten versinken, in Spiegellabyrinthen umherirren, bis ihre Frauen die Schreienden wachrütteln.


    Meine zweitliebste Berufsgruppe sind die Politiker: Für jede Lüge hexe ich dem Beck ein Pfund auf die Rippen und der Merkel eine schärfere Falte um den Mund.


    Nicht zu vergessen natürlich die Manager! Wie gern setze ich mich auf so einen vier Quadratmeter großen Mahagonischreibtisch, baumele mit den Beinen und fauche sie an, diese von Koks deformierten Charaktere, die vor Gier den Hals nicht voll kriegen, diese 70-Stunden-Workoholics, diese Seelen An- und Verkäufer, diese Komplexe kompensierenden piefigen Sadisten! Dann speie ich ihnen ins Gesicht und hechte aus dem Panoramafenster.


    Gern setzte ich mich auch bei einem Candlelight-Dinner unaufgefordert mit an den Tisch und spiele den Simultan-Dolmetscher für Liebesschwüre: "Er will damit sagen, er will dich ficken." Dann lege ich seiner betrogenen Gattin eine CD mit dem per Handy aufgezeichneten Film der Szene auf die Fußmatte der Villa. Das ist immer ein Spaß!



    So, und nun zu dir, mein Freund!
    Bitte, du kannst ja gern probieren, die Augen zuzumachen und von 21 rückwärts zu zählen.






    Nützt nichts.






    Nützt gar nichts.






    Ich bin noch da.



    Du kennst mich.


    Und jetzt schau mich an, du Leisetreter!
    Du fauler Sack!
    Du Neidhammel!
    Du eitler Fatzke!
    Du Durchmogler!
    Schau mir ins Gesicht, verdammt nochmal!

  • von Irrstern


    Liebes Tagebuch,
    es tut mit leid, dass ich erst jetzt zum schreiben komme, aber ich habe eine wirklich gute Begründung für die Unverzeihlichkeit. Gestern fand ich nämlich in meiner Badewanne einen nackten Mann. Mich störte nicht unbedingt die Abwesenheit irgendwelcher Kleidung, schließlich habe ich, wie du ja weißt, liebes Tagebuch, schon vier Ehemänner begraben lassen, sondern vielmehr seine bloß Existenz innerhalb meiner Wohnung. Ich meine, schließlich geht es nicht an, dass irgendein Bursche hier einfach so auftaucht.
    Doch ohne lange im heißen Brei herumzurühren, ich stellte ihn natürlich zur Rede und weißt du, was er mir glauben machen wollte? Nein, sicher nicht, deswegen werde ich es dir jetzt erzählen, liebstes Tagebuch. Er meinte, er hieße Quaerotsch, wie genau das geschrieben wird, weiß ich nicht, aber es klang nach Quaerotsch und erzählte mir, dass er irgendwo aus der Nachbarschaft einer Nebengalaxie stammt und sein Vaterschiff ihn bei mir abgesetzte, weil er eine unheimlich wichtige Botschaft überbringen sollte.
    Der Arme, da kam mir schon die Erkenntnis, dass er Drogen nimmt. Nur das erklärt sein seltsames Verhalten, nur leider nicht die Frage, warum er ausgerechnet so hier einbrechen musste.
    Jedenfalls, liebes Tagebuch, wollte er meine Hilfe für seinen Heimatlandplaneten, dort fallen in seiner Phantasie nämlich die Killertubbies ein und nur ich, Achtung, ein Zitat: „könnte mir meiner unselbstkritisch penetranten Art seine Genossen vor dieser Gefahr erretten.“
    Wie taktlos, eine solche Unverschämtheit, als würde ich damit meine kostbare Zeit vertrödeln, ich rief also die Polizei und verbrachte den Rest des Tages damit, diese Unterhaltung für die neugierigen Nachbarn zu wiederholen.
    Nun, auf jeden Fall tut mir er sehr leid, auch wenn es sich keinesfalls um einen Ausnahmeerscheinung handelt, diese jungen Dinger von heute sind ja wirklich verkokst.


    So, liebes Tagebuch, ich muss jetzt unbedingt mein Fernglas suchen
    Wie immer die nur deine
    Felizitas

  • von kamikazebaer


    „Juhu, morgen ist es wieder so weit. Ich kann es kaum noch erwarten. Woher ich das weiß, willst Du wissen? Ganz einfach, ich deute die Zeichen der Zeit. Die Eisheiligen sind vorbei, wir dürfen heute Nacht nicht draußen schlafen und haben fast nichts zu futtern bekommen. Das sind eindeutige Zeichen. Morgen gibt es wieder Pediküre und eine Sommerfrisur. Ich bin schon ganz aufgeregt! Aber die Anderen sind einfach nur dumme Schafe und merken nichts. Irgendwie finden sie auch keinen gefallen daran. Was ist denn so schlimm einmal im Jahr geschoren zu werden, die Klauen gereinigt und geschnitten zu bekommen?
    Vor lauter Aufregung werde ich garantiert nicht schlafen können oder ich träume wie schön es sein wird.
    Ich weiß, ich bin nicht viel besser als die anderen dummen Schafe. Jetzt freue ich mich schon fast ein Jahr darauf und innerhalb von 5 Minuten ist der ganze Spaß vorbei.
    Während Karl mich zum Schermeister bringt, wird er mir wie immer ein paar beruhigende Worte zuflüstern. Als ob ich das nötigt hätte. Davor habe ich doch keine Angst. Ich doch nicht! Endlich auf der Scherbank angekommen, setze ich mich freiwillig in Pose und warte darauf, daß mein Abenteuer endlich beginnt.
    Bin mal gespannt, wo er diesmal anfängt. Kommt erst wieder Kopf, Bauch, Beine und Schwanz oder wird diesmal erst mein Rücken von der Wolle befreit?
    Es ist einfach traumhaft, wie der Scherkopf über meinen Körper gleitet. Die Klinge dringt durch die Locken und berührt meine Haut, ein behagliche Kribbeln durchdringt wohlig meinen Leib. Stück für Stück kommt meine wunderbare Figur zum Vorschein. Wäre ich kein Schaf könnte Heidi Klum einpacken.


    Huch, was herrscht auf einmal hier für eine Aufregung? Warum blöken die Anderen alle so laut?
    Draußen ist es ja schon wieder hell. Bin ich doch eingeschlafen? Verflixt, jetzt habe ich mir die ganze Vorfreude nehmen lassen.
    Eilig muß ich mich nach vorne drängen. Ich möchte mir meine Euphorie nicht durch die Aufruhr der Anderen verderben lassen. Irgendwie kann ich einfach nicht verstehen, warum sie so nervös sind. Es passiert doch nichts Schlimmes. Eigentlich ist es doch nur zu unserem Besten, die Wolle für den Sommer los zu sein. Außerdem müssen wir so nicht in der sengenden Hitze schwitzen. Schön, so nackt fühle ich mich einfach wohler - natürlicher.
    Doch jetzt ist Eile angesagt, Karl ist im Anmarsch.“

  • von Asrai


    „Also so was!“
    Mein Vater war empört. Er umkreiste den neuen Springbrunnen. Mein Onkel lachte:
    „Aber Edward, du bist doch sonst nicht so verbohrt. Das ist jetzt modern!“
    Mein Vater maß ihn mit einem Blick, der die ganze Person seines Schwagers einschloss, vom keck zurückgeschobenen Bowler über die hellen Handschuhe zu den sportlichen Schuhen. ‚Du Geck’, sagte der Blick.
    „Ja, du!“, sagte mein Vater knurrend. „Du würdest dir sowas sofort in den Garten stellen, wenn du einen hättest!“ Mein Onkel gab einen gedehnten Laut von sich, betrachtete seine Hand als wäre sie ihm gerade gewachsen oder längere Zeit abwesend gewesen und sah meinen Vater dann in die Augen. Ich erwartete eine scharfe Erwiderung und griff ängstlich nach der Hand meiner Mutter. Aber mein Onkel wandte sich dem Brunnen zu und begann selbst ihn zu umrunden.
    „Auch wenn dir Kunst nicht sonderlich vertraut ist, Edward“, er wies auf die Statue, die in der Mitte des Brunnens einen Krug hielt, aus dem das Wasser sprudelte. Mein Vater folgte seiner Bewegung widerwillig, „so musst du doch zugeben“, fuhr mein Onkel fort, „dass diese Statue gut gearbeitet ist. Sie ist schön und lebensecht!“ Er hatte recht, fast schien es, als wolle die Frau vom Brunnen steigen und durch den Garten davongehen. Ich hatte nicht bemerkt, dass meines Vaters Blick auf mich gefallen war. Mit zwei großen Schritten kam er auch mich zu und stellte sich so vor mich hin, dass ich zu ihm aufsehen musste und er der Brunnen völlig verdeckte.
    „Genau das ist doch das Problem!“, schrie er und wandte sich dann wieder meinem Onkel zu. „Lebensecht! Komplett nackt ist sie! Und so etwas Vulgäres soll Maria sich ansehen?“ Ich wusste nicht genau, was „vulgär“ hieß, aber es war etwas Schlimmes und daher schämte ich mich. Mein Onkel stützte sich auf den Brunnenrand und klopfte mit dem Spazierstock an seinen Schuh.
    „Edward“, seufzte er. „Da ziehst du einen jungen Künstler an Land, der einmal sehr berühmt werden wird, aber noch zu sehr günstigen Preisen arbeitet, und dann ist er dir zu modern. Wenn du deiner Tochter keine solchen Flausen in den Kopf setzen würdest, dann würde sie sich auch nicht daran stören.“
    „Berühmt! Blödsinn! Das ist nur ein Junge, der pubertierende Phantasien auslebt! Kaum komme ich von einer Geschäftsreise zurück, finde ich so was in meinem Garten!“, brüllte mein Vater. Er war heftiger Mensch, aber dieser Ausbruch überraschte uns alle. Meine Mutter presste meine Hand etwas zu fest und ich schrie leise auf. Abwesend ließ sie mich los. Ich zupfte an ihrem Rock:
    „Du, Mama, stimmt das? Hat ein Junge den Brunnen gebaut? Wann war der denn hier? Hier war war doch nur der Mann, der dich immer Mombischu nennt!“