Anne Tyler - Engel gesucht

  • Originaltitel: A Patchwork Planet (Erscheinungstermin: 1998 )


    Barnaby Gaitlin, Spross des angesehenen und sozial rührigen Gaitlin-Clans aus Baltimore, wird 30 Jahre alt. Bisher hat er in seinem Leben nicht viel erreicht, lebt zur Untermiete in einem Kellerloch, arbeitet als Möbelpacker und „Mädchen für alles“ für die "Bizeps-Vermietung AG" und ist insgesamt eigenbrötlerisch. Zudem hat er bereits eine gescheiterte Ehe hinter sich und eine Tochter, die sich ihm zunehmend entfremdet und für die er kaum Gefühle hegt (gesteht sich sogar ein, dass er sie sogar abstoßend und langweilig findet).


    Dieser Lebensstil allein genügt eigentlich schon, um seine statusbewusste und ehrgeizige Mutter auf die Palme zu bringen, doch da ist ja zusätzlich noch seine unrühmliche Vergangenheit als jugendlicher Gelegenheitsdieb. Während die anderen Mitglieder seiner kleinen Gang nach Autoschlüsseln, Alkohol und Geld suchen, faszinieren ihn in den fremden Häusern Fotoalben, Liebesbriefe und andere persönliche Gegenstände. Eines Tages hat er Pech und wird bei einem Einbruch erwischt. Folge: Besuch einer Besserungsanstalt für Jungen und ständige familiäre Vorwürfe.


    Fühlte er sich vorher schon von seiner Familie entfremdet und isoliert, wird hierdurch alles noch verquerer. Der Kontakt reißt zwar nie vollständig ab, aber ihm wird insbesondere von seiner Mutter bei jedem Besuch eine gehörige Portion Schuldgefühl eingeimpft. Bissige Bemerkungen zu seinem Lebensstil tun ein Übriges, um die Entfremdung der Familie voranzutreiben.


    Zu allem Überfluss hat jeder der Gaitlin-Familienmitglieder zu einem Punkt im Leben seinen Engel gefunden, der ihrem Leben einen neuen Sinn gab. Nur Barnaby selbst wartet noch auf seine Begegnung.


    Vor diesem Hintergrund lernt er Sophia kennen, als er an einem Wochenende zu seiner Tochter nach Philadelphia fährt. Sie wird auf dem Bahnhof in Baltimore von einem Mann angesprochen, der ihr einen Briefumschlag reicht und sie bittet, diesen in Philadelphia an seine Tochter zu übergeben. Der Reiz des verschlossenen Umschlags beschäftigt Barnaby während der ganzen Fahrt. Noch mehr fasziniert ihn jedoch Sophias erkennbare Contenance – ganz im Gegensatz zu seiner Faszination mit fremden Geheimnissen, ist sie in der Lage, den Umschlag komplett zu vergessen und scheint nicht mal Neugier auf den Inhalt zu verspüren. Obwohl er durch das Belauschen des Gesprächs zwischen Sophia und dem Mann weiß, was sich darin verbirgt, spinnt er diverse Fantasien über die möglichen Inhalte und Motive für die Übergabe.


    So beeindruckt über ihre Zurückhaltung, überlegt er, ob sie vielleicht sein Engel sein könnte und mit dem Versuch sie kennen zu lernen, kommt tatsächlich ein Wandel in seinem Leben zu Stande. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, weil mir persönlich schon der Klappentext der Fischer-Taschenbuchausgabe zu viel verraten hat.



    Leider ist der Roman nicht vergleichbar mit den wunderbaren „Dinner im Heimweh-Restaurant“, „Fast ein Heiliger“ und „Im Krieg und in der Liebe“, andererseits aber stimmiger als „Damals als wir erwachsen waren“. Ich hatte mir das Buch geschnappt, weil ich etwas Wohlfühllektüre benötigte und die wurde mir auch geboten.
    Anne Tyler schreibt wieder liebenswert, großherzig und episodenhaft. Ihre Perspektive bleibt fortwährend bei Barnaby und man erfährt nur durch ihn, wie er seine Familie, Freunde, Arbeitgeber und sich selbst einschätzt. Einen Sprung in die Köpfe anderer Figuren dürft ihr hier nicht erwarten.


    Man entwickelt automatisch Mitleid mit Barnaby und seinem unglücklichen Familienleben und wundert sich nicht, dass er allem gegenüber eine Abwehrhaltung zeigt. In einer Familie, die eine wohltätige Stiftung gegründet hat und seit Generationen leitet, fehlt im privaten Kreis die nötige Liebe, das elterliche Verständnis und ein Gefühl von Heimat. Mich wundert es nicht, dass er in seiner Jugend (und auch später) bewusst schockierend und provozierend aufbegehrt.
    Auch in diesem Roman - wie bisher in allen Romanen, die ich von Anne Tyler gelesen habe – dominiert die Mutter die Familie und lässt die männlichen Familienmitglieder schwächer erscheinen.


    Die Bankangestellte Sophia ist wie ein ruhiger, stetiger Baum, die Barnabys Leben allmählich etwas beruhigt. Doch hält sie alles, was sie verspricht? Und ist sie tatsächlich sein Engel?


    Letztendlich kann ich sagen, dass ich den Roman gern weg geschmökert habe, aber zu den Höhepunkten meines Lesejahres kann ich ihn leider nicht zählen, dazu fehlen bestimmte Elemente. Einiges ist vorhersehbar, manche Ereignisse wurden für meinen Geschmack zu kurz angerissen und obwohl ich die Entwicklung von Barnaby gerne miterlebt habe, hat sie mich nicht so richtig berührt.
    Schön ist es jedoch, wieder Anne Tylers leisem Humor zwischen den Zeilen zu begegnen.


    PS: Zur Zeit scheint der Roman in deutscher Übersetzung vergriffen zu sein.