Alfred Döblin, Berge Meere und Giganten

  • Alfred Döblin war nicht nur ein sehr experimentierfreudiger und produktiver Romancier, dem wir wichtige praktische Impulse und Muster für die Entwicklung des Romans im 20. Jahrhundert verdanken, er war auch ein bedeutender Theoretiker, der sich in seinen programmatischen Schriften gegen die "psychologische Manier" der Romanautoren wandte und die Hinwendung zu einer "entseelten Realität" forderte, die sich auf "das Exemplarische des Vorgangs und der Figuren" konzentrieren solle.


    Diese Forderung wird in Döblins erstmals 1924 erschienenem Zukunftsroman Berge Meere und Giganten sehr plastisch greifbar. Die Figuren, die Döblin auftreten lässt, sind von geradezu märchenhafter Flachheit und die Situationen, in die sie geraten, sind exemplarische Schlaglichter und politische Wendepunkte, die aus den etwa 600 imaginierten Jahren erzählter Zeit herausgegriffen werden.


    Die Handlung des Romans zerfällt grob in drei Teile. Die ersten beiden Bücher durchmessen in zumeist stark raffendem Tempo die Geschichte der Menschheit bis zum großen Uralischen Krieg Anfang des 26. Jahrhunderts, der alles in Schutt und Asche legt. Die nächsten drei Bücher widmen sich anhand der Vorgänge im Märkischen beispielhaft dem Ringen der Menschheit um den einzuschlagenden Weg ihrer Entwicklung. Grob gesagt existieren unter den Menschen zwei opponierende Gruppen: Die Herrschenden, die die immer weitere Entnaturalisierung und Technisierung des menschlichen Lebens propagieren, und deren Gegner, die sich nach einigen Jahrhunderten synthetischer Nahrung und schrecklicher Erfahrungen mit den Kriegstechnologien wieder dem einfachen und naturnahen Leben zuwenden wollen.
    In einem dritten Teil, der die letzten vier Bücher umfasst, wird von den technologiefreundlichen Machthabern versucht durch ein landplanerisches Projekt gigantischen Ausmaßes, den immer schwelenden Konflikt zwischen den beiden Parteien endgültig zu lösen: Island wird gesprengt, um an seiner Stelle ein offenes Lavabecken zu erzeugen, dessen Energie von Schleiern aus Turmalinen aufgenommen wird; diese Schleier werden per Schiff nach Nordwesten transportiert, um mit ihrer Hilfe Grönland zu enteisen. Das so gewonnene Land soll den technikfeindlichen Siedlern zur Verfügung gestellt werden. Doch die Turmalinschleier haben einen unvorhergesehenen Effekt, von dem eine Kettenreaktion ihren Ausgang nimmt, die droht, der gesamten Menschheit ein für alle Mal den Garaus zu machen.


    Döblins Roman kann eigentlich als nicht weniger denn monumental bezeichnet werden. Allein der umspannte Zeitrahmen ist mehr als ungewöhnlich und wäre in einem herkömmlichen Romankonzept sicherlich nicht auf den engbedruckten 511 Seiten zu bewältigen gewesen. Die Sprache ist von überbordender Bildhaftigkeit, in den Dialogen manchmal von fast biblischer Feierlichkeit.
    Das fehlende Komma im Titel Berge Meere und Giganten ist Programm. Bei fast allen unverbundenen Aufzählungen, deren Glieder nur aus jeweils einem Wort bestehen, weigert Döblin sich standhaft, Kommata zu setzen. Dieses Stilmittel nervt zwar bisweilen ein bisschen, unterstreicht aber die sprachliche Überfülle.


    Inhaltlich ist die Verankerung Döblins in der klassischen Moderne unübersehbar: Die pseudodemokratischen Strukturen der vorgestellten nächsten 600 Jahre sind noch imprägniert von einer feudalen Kaiserzeitlichkeit; Zeichen der typisch modernen Obsession zur Kategorisierung finden sich außerdem allenthalben.


    Auch das monströse landplanerische Projekt, das Sach- und Menschenmaterial in unvorstellbaren Mengen verschlingt, ist eine typische Idee der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als bekannteste reale Entsprechungen seien nur genannt das Atlantropa-Projekt, das durch Austrocknung des Mittelmeers eine Landbrücke zwischen Europa und Afrika herstellen sollte, oder der sowjetische Dawydow-Plan, der die Schaffung eines Sibirischen Meeres vorsah; bekanntestes durchgeführtes europäisches Projekt (von nicht ganz so monumentalen Ausmaßen) ist die Trockenlegung der Zuijdersee.


    Insofern ist Döblins Roman ein eindringliches Bild der Zukunftsvisionen seiner Zeit und in seiner Fokussierung auf biotechnologische Elemente auch noch höchst aktuell. Dass er dabei die Entfernung von der Natur als das Grundübel menschlicher Entwicklung begreift, macht Döblin in einer drastischen Bildhaftigkeit klar, die in meinem Kopf tatsächlich ein Kino ablaufen ließ. Alles in allem ein nicht wirklich leicht zu lesender, aber nicht weniger faszinierender Text, der zT wie ein riesiger motivischer Fundus der SF-Literatur wirkt.