Christopher Hitchens: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

  • Die Diskussion um die Position des Glaubens in unserer Zeit und Welt scheint schärfer geführt zu werden, als das je der Fall war. Während sich fundamentalistische Muslime mit Explosivsätzen ausstatten, um die zivilisierte Welt in die Gottesfürchtigkeit zurückzubomben, erstarken in "God's own country", den USA, die so genannten Kreationisten, die alle Wissenschaft für reinen Ulk halten und davon ausgehen, dass die Welt vor ein paar tausend Jahren erschaffen wurde. Aber das sind nur die Exponenten, die Extreme, die durch die Medien gereicht werden. Religion ist ein Alltagsbestandteil, ob man nun will oder nicht, und selbst der von uns Europäern also so friedfertig empfundene Buddhismus hat seine gewalttätige Seite, arbeitet mit unwürdigen Ritualen und dem Verzicht auf Vernunft. Zudem sind fast alle kriegerischen Auseinandersetzungen, die unser Planet jüngst erleben musste und noch immer muss, auf die eine oder andere Art religiös bestimmt, ob das nun die "ethnischen Säuberungen" im ehemaligen Jugoslawien waren oder ob es sich um den Bürgerkrieg in Ruanda handelt - um nur zwei Beispiele von vielen zu nennen. Gruppen streiten energisch um den vermeintlich goldenen Weg zu Gott, und am Rand dieses Weges stapeln sich die Opfer, ob das nun beschnittene Kinder sind, bei lebendigem Leib ausgeblutete Schlachttiere oder Frauen in entfremdenden Uniformen, gerne bei bestialischen Steinigungen getötet, weil der Schöpfer es angeblich verlangt.


    Glauben ist Thema, und im Rahmen dieser Diskussion melden sich mehr und mehr gebildete Atheisten zu Wort, die lautstark gegen Spiritualität und - im vorliegenden Fall - gegen ihre Folgen Stellung beziehen. Über all dem steht die Frage, inwieweit die Religion - sei es nun diejenige, die buchstabengetreues Handeln auf Basis irgendwelcher Schriften fordert, oder jene, die deistisch oder pantheistisch eine jenseitige Kraft annimmt, die auf regelndes Eingreifen verzichtet - diesen Platz verdient, den sie in vielen Gesellschaften der Erde einnimmt.


    Der weitgereiste Journalist Christopher Hitchens befasst sich in seinem manchmal amüsanten und häufig verblüffenden Buch nur am Rand mit dem Problem, ob Gott existiert oder nicht. Er beantwortet sie indirekt, denn er schildert das Entstehen und auch das Vergehen diverser Religionsgemeinschaften, von denen er einige jüngere hautnahe erleben durfte; in einem Fall wurde er sogar ad hoc zur Gottheit. Dabei werden die vermeintlich heiligen Schriften diskutiert, ihre geschichtlichen und literarischen Hintergründe, die wundersamen Offenbarungen und vieles mehr. Religion ist handgemacht, menschengemacht - eine Idee, die den Vorteil hatte, vor allen anderen entstanden zu sein, die Erklärungen zu liefern in der Lage waren, und deren Erblast deshalb auch heute noch schwer getragen werden muss, obwohl erdrückende Argumente gegen diese Märchen sprechen. Sie wird getragen von kleinen Kindern, die mit mythischen Angstmachern konfrontiert werden, von Frauen, die misshandelt werden, von Gruppen, die ausgelöscht werden, weil sie nicht in das jeweils favorisierte göttliche Konzept passen - oder es sich nicht aufzwingen lassen. Von uns allen, weil der Terrorismus, den wir erleben, religiös motiviert ist. Von Menschen, die sich in Verzicht üben und selbstkasteiend leben, um einem Schöpfer zu gefallen.


    Hitchens führt viele Argumente gegen den Glauben an, den er für blanken Unsinn hält. Religion ist wie gemacht für uns egozentrische Wesen, denn die Idee des persönlichen Gottes, des paradiesischen Jenseits, der Sündenvergebung usw. dient keineswegs der Spiritualität, sondern irdischen Strukturen - nicht zuletzt Machtstrukturen. Es wäre zu viel verlangt, alles aufzulisten, was Hitchens anführt, um etwa darauf hinzuweisen, dass die Bibel in der Moderne als vor allem metaphorisches Werk interpretiert wird, was sie aber zu ihrer Entstehungszeit keineswegs war, folgen doch zum Beispiel (und dies ist eines von sehr vielen) den zehn Geboten Dutzende von landwirtschaftlichen Hinweisen, die erkennbar überhaupt keine Metaphorik enthalten, sondern als Anweisungen für die damaligen Bauern zu verstehen waren - und sind. Diese Regeln waren für eine Zeit gemacht, und in dieser Zeit. Über die Entstehung dieser und anderer "heiliger" Schriften ist schon sehr viel geschrieben worden, und die zweifelhafte Geschichte dieser Werke lässt weit mehr Schlüsse zu, die gegen ihre Inhalte sprechen, als dafür.


    Auch Christopher Hitchens widmet sich der Frage, ob die Religion wenigstens dafür gut ist - oder war -, dass die Menschen moralisch handeln, und er kommt zu dem nachvollziehbaren Schluss, dass das Gegenteil der Fall ist. Moralisches Handeln war bestenfalls bei den einfachen Menschen vorzufinden, aber auch häufig nur aus egoistischen Gründen, aus der Angst vor der alles sehenden Gottheit, aus Hoffnung auf ein glückbringendes Jenseits, das es nicht gibt. Tatsächlich, behauptet Hitchens, ist unmoralisches Handeln bei den Religionsvertretern sogar sehr viel weiter verbreitet als bei nichtgläubigen Menschen. Moral bedarf keiner abstrakten Instanz, die mit dem Höllenfeuer droht, sondern eines Verständnisses für das Miteinander. Auch dem gerne wiederholten Argument, Diktatoren wie Stalin oder Hitler hätten sehr viel mehr Opfer gefordert, ohne religiös motiviert gewesen zu sein, widmet sich der Autor ausführlich, obwohl diese Milchmädchenrechnung eigentlich keiner Argumentation bedürfte. Und vielen, vielen anderen.


    Im Gegensatz zum Beispiel zu Dawkins führt Hitchens die Diskussion um die Grundlagen der Religionen, um Gottesbeweise und -widerlegungen, um die Existenz und Authentizität Jesu, Mohammeds und all der anderen Propheten nur am Rande. Ihm geht es in diesem wirklich spannenden und intelligenten Buch vor allem um die Folgen, denen Menschen weltweit immer noch ausgesetzt sind. Um die vielen Spielarten von drangsalierenden Ritualen, unerfüllbaren göttlichen Regeln, Missachtung, Ausgrenzung, Unvernunft, Völkermord und Gewalt, die mit Religion einhergehen. Keine andere Erfindung der Menschen hat so viele Opfer gekostet, faktische wie vor allem geistige.


    Spannender als Dawkins, entspannter als Onfray, hart, direkt, unversöhnlich, aber vom Verständnis für Beweggründe durchsetzt. Eines der besten Bücher zum Thema.

  • Ich fand das Buch auch klasse. Von den Büchern der "Four Horsemen" (Richard Dawkins, Christopher Hitchens, Daniel C. Dennett und Sam Harris) hat mich das Buch von Christopher Hitchens wohl am besten unterhalten, obwohl mir insgesamt der Stil von Richard Dawkins mehr liegt. Die beiden haben halt einen ganz unterschiedlichen Hintergrund. Dawkins ist Wissenschaftler und Hitchens ist Journalist.


    Was ich an Hitchens bewundere ist, wie er es schafft, mit wenigen Worten genau den Punkt zu treffen und sich auch nicht davor zu scheuen, heilige Kühe wie Mutter Teresa oder den Dalai Lama zu kritisieren (oder heisst es "heilige Kühe zu schlachten"? :gruebel :grin). Dazu kommt noch diese Richard-Burton-Stimme , die ich beim Lesen immer im Kopf habe, mit der bringt er die Dinge einfach auch noch toll rüber.


    Und: er hat mich auf die Idee gebracht, Samuel Butler zu lesen. :anbet

  • Zitat

    Original von Tom
    Ihm geht es in diesem wirklich spannenden und intelligenten Buch vor allem um die Folgen, denen Menschen weltweit immer noch ausgesetzt sind. Um die vielen Spielarten von drangsalierenden Ritualen, [...], Unvernunft, [...], die mit Religion einhergehen.


    daran musste ich denken, als ich diesen artikel hier las:


    Schlecker ohne Gummis


    Das gibt's wohl nur einmal in Deutschland: Eine Drogerie, die keine Kondome verkauft. Wo? In Fulda. Die Katholische Kirche hat was dagegen. "Das ist ja wie im Mittelalter", erregt sich eine Mitarbeiterin der Drogerie.


    aber he, das ist irgendwie noch lustig!


    bo :-)


  • :lache


    Zitat

    aus dem Artikel: "Ich weiß nicht, was daran kurios sein soll", sagt Bistumssprecher Christof Ohnesorge: "Die Kirche kann nicht einerseits mechanische Verhütungsmittel ablehnen, aber andererseits dulden, dass in einem Haus der Kirche mit Kondomen Geschäfte gemacht werden."


    Weltbild verkauft Bücher zum Thema "Verhütung", obwohl die Gesellschafter der Verlagsgruppe Weltbild 14 katholische deutsche Diözesen und die Soldatenseelsorge Berlin sind. Quelle

  • Zitat

    Original von Aeria
    Wow, Tom, eine tolle Rezi! Macht einen wirklich sehr neugierig!
    Das Buch ist nun auf meinen sämtlichen Wunschlisten gelandet.


    ***
    Aeria


    Bei mir steht das Buch auch schon lange auf der Wunschliste und vermutlich werde ich es auch noch irgendwann mal kaufen und auch lesen...obwohl ich durch persönliche Erfahrungen gerade in den letzten paar Jahren mit - für mich gesehen religiösen und anderen Eiferern - jetzt schon weiß, dass nicht nur der Buchtitel einfach stimmt. :-)


    Hoffentlich gelingt es mir wenigstens durch das Lesen dieses Buches doch noch, über einiges wenigstens zu schmunzeln.


    :wave

  • Polemik pur auf etwa 340 Seiten. Das kann man mögen. Hitchens ist wirklich sehr eloquent und versteht es, mit der Sprache umzugehen. Das spürt man selbst der Übersetzung noch ab. Und er ist absolut überzeugt von dem, was er schreibt. In dieser Vehemenz ist das selten bei religiösen Büchern - und dies ist ein solches. Mir begegnet wesentlich häufiger wesentlich mehr Vorsicht und Sorgfalt in der Wortwahl und der Argumentation. Auffällig ist, wie oft Hitchens mit seinen Gedanken springt, vornehmlich dann, wenn seine Argumente schwach werden. Dann werden Zusammenhänge - nein, nicht hergestellt - sondern nahegelegt, die völlig aus allen nur denkbaren Lüften gegriffen sind - ein mögliches Stilmittel der Polemik, und der wachsame, die Vernunft nutzende und kritische Leser bemerkt das auch und stutzt nur kurz.
    Wirklich beeindruckend und bedrückend ist die Liste an Rückständigkeit und Schuld, die Hitchens den Kirchen und Religionen entgegenhält. Aber sie verblasst angesichts solcher Texte wie derer des zweiten Vatikanischen Konzils, der Stuttgarter Schulderklärung von 1948 und den Erkenntnissen der biblischen Archeologen und Exegeten - Alles Texte, denen Hitchens hätte mehr Aufmerksamkeit widmen müssen, um von einem wirklich wissenschaftlich interessierten Leserkreis ernst genommen werden zu können.
    Ein kurzer Blick in die Werke gegenwärtiger christlicher Theologie aller großer Kofessionen zeigt, wie überholt Hitchens' Vorwürfe gerade in Bezug auf die Bibel sind.
    Statt dessen zieht er nach belieben Texte herzu, die er teilweise auch nachweist. Ein großer Teil seiner Quellen kann der geneigte Leser, der sich mehr dafür interessiert leider nicht nachprüfen, denn das Literaturverzeichnis am Ende führt lange nicht alle Texte auf, die angeführt und zitiert werden und im laufenden Text findet sich auf die fehlenden Angaben leider kein Hinweis - schade. Die Vermutung liegt nahe, hier könne gemogelt worden sein, doch sicher ist es nur ein Versehen.


    Grausam beeindruckend ist, was Hitchens über Gewalt und Terror schreibt. Der wirklich kluge Satz: homo homini lupus est wird tatsächlich eindrucksvoll belegt (allerdings reicht dafür auch ein Blick in eine beliebige Nachrichtensendung im TV). Hitchens arbeitet mit erschütternder Deutlichkeit heraus, dass damit auch der homo religiosus gemeint ist. Den Nachweis, dass dieser allerdings einen Alleinvertretungsanspruch darauf habe, bleibt er aber schuldig. Statt dessen - an der Stelle musste ich mich am meisten Wundern - schreibt er einem überzeugten Prediger des christlichen Glaubens, Martin Luther King, sein Christsein ab, offenbar weil er sonst nicht ins (selbstgemalte) Bild passt (S. 216). Statt dessen wird die obskure Behauptung aufgestellt, dass generell gälte: "Je schlimmer der Verbrecher, desto frommer ist er oft." Man bermerke, dass der Umkehrschluss nicht formuliert wird, auch wenn er durchaus intendiert scheint.
    Nun will niemand die Schuld von Menschen, die religiös orientiert sind, leugnen. Hitchens betreibt allerdings eine derart einseitige Polemik, dass er ganz offenbar übersieht, was offenkundig ist: Es gibt mindestens so viele Verbrecher, die keiner Religion anhängen. Dieser Umstand wird geschickt ausgeblendet, indem davon berichtet wird, dass a) auch unter religiösen Menschen einzelne Exemplare manchmal gar nicht so übel sind, und b) durch die Beobachtung, dass: "Schon bei einer oberflächlichen Überprüfung aller großen historischen Persönlichkeiten Amerikas [...] die Freidenker, Agnostiker und Atheisten am besten davon [kommen]." Wer aufmerksam liest, stellt fest: es wird an keiner Stelle geleugnet, dass auch nicht religiös gebundene Leute sich schlimmstens an ihren Mitmenschen vergangen haben. Es wird nur so zurecht gerückt, dass das Licht der Betrachtung einseitig einseitig negativ oder eben einseitig positiv fällt.
    Das mag man als Polemik so schätzen und als klug betrachten. In irgendeiner Form ernst zu nehmen ist eine derart selektive Sichweise keineswegs.


    Fazit:
    Polemik, gepaart mit hervorragender Rhetorik, bewußt gesteuerten Halbwahrheiten, sehr geschickten Darstellungsweisen...
    Als Lektüre recht unterhaltsam, aber gleichzeitig recht anstrengend, da man den wirklich häufigen und oft entlarvenden Gedankensprüngen nur dann folgen kann, wenn man aufmerksam liest, dann aber sind sie der Garant für vergnügliche Lektüre wahrlich beeidruckender Selbstdarstellung.
    Dies alles, nur um eines zu tun: Anhänger für eine fast fanatisch zu nennende Form der Religion der Nichtreligiösen zu gewinnen.

  • Zitat

    Original von licht


    Dies alles, nur um eines zu tun: Anhänger für eine fast fanatisch zu nennende Form der Religion der Nichtreligiösen zu gewinnen.


    Wirklich?...Wäre ja ein wenig viel Aufwand, oder?...;-)


    :wave

  • Das kann wirklich nur ein Atheist schreiben... -.- Ich bin religiös (jüdisch) und ein paar der Glaubenskritiken trifft auch auf uns zu. Aber WARUM wir glauben, dass die Welt vor knapp 6000 Jahren entstanden ist, fragt der Autor danach? Wohl kaum... Und Gewalt passiert im wahren Glauben nicht (damit will ich nicht sagen, welche Religion derwahre Glauben ist, sondern einfach nur, dass dieser Prozess im Inneren abspielt und die neuesten Gewalttaten Fanatismus und nicht Religion sind).
    Tut mir leid, wenn ich mit meiner Kritik hier falsch bin (ohne das Buch gelesen zu haben), aber das musste einfach gesagt werden...


    Wenn nicht ich für mich eintrete, wer dann?
    Wenn ich nur für mich selbst eintrete, was bin ich?
    Wenn nicht jetzt, wann dann?



  • Ah, dann gibt es für mich keine entschuldigung mehr, es nicht zu bestellen... Ich hab seine interviews immer sehr genossen, und da er absterbenshalber keine mehr geben kann, sollte man sich ihn hierzuort wirklich in konservierter form ins regal stellen, gleich neben Dawkins.

    DC :lesend


    Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens I


    ...Darum Wandrer zieh doch weiter, denn Verwesung stimmt nicht heiter.
    (Grabinschrift F. Sauter )

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  • Zitat

    Original von Aeria
    Inzwischen habe ich das Buch gelesen und fand es super, fast noch besser als "Der Gotteswahn" von Dawkins, und um einiges leichter zu lesen als "Das Ende des Glaubens" von Sam Harris.


    Hat jemand weitere Tipps für religions- und glaubenskritische Bücher?


    ***
    Aeria


    Ich empfehle "Angeklagt: Der Papst: Die Verantwortlichkeit des Vatikans für Menschenrechtsverletzungen". Wobei es sich um Vatikankritik handelt und nicht um eine Kritik des Katholischen Glaubens oder Religionen allgemein.


    "Angeklagt: Der Papst" - Geoffrey Robertson
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