Orgiginaltitel: „Erewhon, or Over the range“ (1872)
Zum Autor
Samuel Butler (* 4. Dezember 1835 in Langar bei Bingham, Nottinghamshire; † 18. Juni 1902) war ein englischer Schriftsteller, Komponist, Philologe, Maler und Gelehrter.
Butler studierte in Cambridge und wanderte 1859, nach einem Streit mit seinem Vater, nach Neuseeland aus, wo er Schafe züchtete. Er beschäftigte sich unter anderem mit der Evolutionstheorie von Charles Darwin. Ende des 19. Jahrhunderts entlarvte er in seinem satirischen Roman „Erewhon“ die religiöse und gesellschaftliche Doppelmoral seiner Zeitgenossen als verkehrte Welt. Er blieb in mancherlei Hinsicht ein Außenseiter, auch in seiner Absage an den ungebrochenen Fortschrittsglauben des Viktorianischen Zeitalters. Butler wurde oft mit Swift verglichen und hatte besonders auf Somerset Maugham, D. H. Lawrence, H. G. Wells und James Joyce großen Einfluss. Seiner anfänglichen Bewunderung für Darwin folgte eine spätere Distanzierung; gleichzeitig näherte er sich in späteren Jahren wieder der Kirche an, deren Orthodoxie er jedoch gleichzeitig kritisierte. Bekannt ist er vor allem durch seine Notizbücher, in denen er oft lustige und kritische Aphorismen zusammentrug. (Quelle: Wikipedia.de)
Zum Buch/Meine Meinung
Ich bin ziemlich begeistert, diesen Autor entdeckt zu haben.
Erewhon“ spielt in einem fiktionalen Land, zu dem der Erzähler zu einer Entdeckungsreise aufbricht. „Erewhon“ ist die Umkehrung des englischen Wortes nowhere (nirgendwo), angelehnt an den griechischen Begriff „Utopia“, den man mit „Nicht-Ort“ übersetzen kann (sagt man mir, ich kann kein Griechisch). Bei dem Roman handelt es sich um eine Utopie in Form einer Satire auf die Gesellschaft im viktorianischen England. Das Buch ist als Reisebericht abgefasst und wird in der Ich-Form erzählt, ähnlich wie auch Gullivers Reisen von Jonathan Swift. Die ersten sechs Kapitel bestehen aus ausführlichen Landschaftsbeschreibungen, die man locker querlesen kann. Richtig interessant wird es, als der Erzähler auf die Einwohner von Erewhon trifft.
Zu seinem Erstaunen muss er feststellen, dass in Erewhon die Dinge etwas anders sind als in seiner Heimat. Wobei der Autor die Gepflogenheiten der Erewhonier erzählt als seien sie völlig absurd, so viel anders als bei uns sind sie dann aber doch nicht.
Sein Gastgeber ist der Kaufmann Nosibor, der sich gerade von einem schweren Anfall von Veruntreuung erholt. Ein Verbrechen zu begehen, wird nämlich als psychische Erkrankung gesehen, die von so genannten Psychoorthopäden oder Seelenstreckern („Straightners“) therapiert wird. Erewhonier, die Verbrechen begehen, werden keineswegs von der Gesellschaft ausgegrenzt, sondern bekommen sehr viel Mitgefühl und unterziehen sich sehr gewissenhaft ihrer Therapie. An einer körperlichen Krankheit zu erkranken, oder ein Unglück oder einen Verlust zu erleiden, wird in Erewhon hingegen als sittliches Verbrechen gesehen und schwer bestraft.
Die Erewhonier sind Polytheisten und glauben an Götter, die Verkörperungen menschlicher Eigenschaften wie Gerechtigkeit, Hoffnung, Liebe usw. darstellen. Der Erzähler versucht, die Erewhonier zum Monotheismus zu bekehren, die Erewhonier glauben jedoch, dass es die o.g. menschlichen Eigenschaften ohne den Glauben an die entsprechenden Götter nicht geben würde. Der Erzähler hält diese Ansicht für völlig absurd. Hätte man je gehört, dass „einer der sich in seinem Verhalten nicht (aus Liebe oder Furcht) von Menschen bestimmen lasse, die er gesehen, er sich von Göttern bestimmen lasse, die er nicht gesehen.“
Kirchenkritik findet man auch in der Beschreibung der Musikalischen Banken. Diese haben prunkvolle Bauten, in denen Knaben und Männer schauerliche Musik machen. Bei diesen Banken haben alle, die als etwas gelten wollen, ein Konto, auf das sie regelmäßig normales Geld einzahlen, das in Anlagen in der bankeigenen Währung umgewandelt wird, die so gut wie wertlos ist. Dem Erzähler wird nicht ersichtlich, dass die auf diesen Konten liegenden Beträge in der Außenwelt unmittelbaren Verkehrswert hätten und selbst die Angestellten der Banken scheinen sich nicht in der eigenen Währung entlohnen zu lassen. Es gibt keine Zinsen, aber jeder Anleger hat ein Anrecht auf einen Gewinnanteil einmal alle dreißigtausend Jahre. Die letzte Ausschüttung soll es vor 2000 Jahren gegeben haben, daher versprechen sich die Erewhonier auch nicht zu viel von ihrer Mitgliedschaft, halten aber trotzdem daran fest. Die Erewhonier glauben, sehr zum Leidwesen des Erzählers, nicht an ein Leben nach dem Tod, diese Idee würde nur dazu führen, dass das gegenwärtige Leben im Wert herabgesetzt werde. Sehr treffend fand ich ihre Ansicht zum Thema Suizid. Die Erewohnier halten Hamlets Ansicht, dass uns nur die Furcht, nach dem Tod könne uns noch Schlimmeres bevorstehen, uns davon abhalte, uns ihm in die Arme zu werfen für Unsinn. „Wenn einer sich die Gurgel abschneidet, geschieht es, weil er in die Enge getrieben ist und an nichts denkt, als wie er dem entrinnen könnte, ganz gleich wohin, sofern er nur aus seiner misslichen Lage herauskommt. Nein. Was den Menschen veranlasst, auf seinem Posten auszuharren, ist nicht die Befürchtung, falls er ihn aufgebe, könnte er aus dem Regen in die Traufe kommen, sondern die Hoffnung, wenn er lange genug ausharre, lasse der Regen vielleicht nach.“
Im letzen Teil des seines Berichtes fasst der Erzähler „Das Buch von den Maschinen“ zusammen. Dabei handelt es sich um ein erewhonisches Lehrbuch, das an den Schulen der Unvernunft (dem erewhonischen Bildungswesen) gelehrt wird. Ich dachte ja, ich guck nicht richtig, was man diesem Buch entnehmen kann. Manchmal konnte ich wirklich kaum glauben, dass Erewhon 1872 veröffentlich wurde. Im „Buch der Maschinen“ kann man von künstlicher Intelligenz lesen, davon dass Sinneswahrnehmungen chemisch und mechanisch vermittelt seien, und dass es in der Zukunft möglich sein werde, „durch die mikroskopische Untersuchung eines einzelnen Haares festzustellen, ob der Mensch, dem es gehört, ungestraft beleidigt werden könne.“. Der Autor hat sich sehr mit der Evolutionstheorie auseinandergesetzt. Darwins On the Origin of Species erschien 1859. Samuel Butler vertritt einen Ansatz, der durchaus aktuell ist und zu dem man Parallelen bei Dawkins und Gould wiederfindet, und zwar die des egoistischen Gens. Butler sagt in einem anderen seiner Bücher „A hen is only an egg’s way of making another egg“, und diese Idee klingt auch in Erewhon durch. Zum Vergleich: Dawkins sagt in Climbing Mount Improbable: “Elephants are for spreading copies of instructions for making more Elephants”.
Ich bin ziemlich beeindruckt von dem Buch, abgesehen davon, dass es Spass gemacht hat, es zu lesen. Die Fortsetzung „Erewhon Revisited“ habe ich mir schon bestellt.
In eigener Sache, da ich ja auch als Seelenstrecker arbeite, musste ich über folgendes Zitat sehr grinsen:
„Die Psychoorthopäden sind sogar so weit gegangen, allen bekannten Formen seelischer Störungen Namen zu geben, aus der hypothetischen Sprache (wie sie an den Schulen der Unvernunft gelehrt wird), und sie nach einem eigenen System einzuteilen, das ich zwar nicht verstand, das sich aber in der Praxis zu bewähren schien, jedenfalls können sie einem Menschen immer sagen, was ihm fehlt, sobald sie seine Geschichte gehört haben, und ihre Vertrautheit mit den Fremdwörtern gibt ihm die Gewähr, dass ihnen sein Fall nichts Neues ist.“
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