Tom R. Smith: Kind 44

  • Das Buch habe ich schon vor einer Weile ausgelesen, tue mich mit einer Rezi allerdings sehr schwer, zumal ich Thriller recht selten lese und kaum Vergleichsmöglichkeiten habe.


    Das Buch ist hart, sicher, aber kann es etwas anderes sein? Immerhin ist der Protagonist ein Offizier der sowjetischen Staatssicherheit. Was da geschah, entsprach weitgehend meinen Erwartungen bzw. dem, worauf ich vorbereitet war. Gut fand ich, daß die Beschreibungen nicht sehr ins Detail gingen. Man weiß, was passiert, aber das „Blut läuft nicht aus dem Buch heraus“. So konnte ich das recht gut ertragen, zumal die Methoden dem, was ich wußte, recht nahe kamen. Überrascht in der Perfidie hat mich denn allerdings doch [sp]die Sache mit den Widerhaken unter dem Zug der Gefangenen. Wie überhaupt diese Fahrt und Flucht daraus filmreif beschrieben wurde.[/sp]


    Mit Leo und Raisa bin ich durchaus „warm“ geworden, für mich persönlich haben beide glaubwürdig (im Rahmen des Buches) gehandelt. Auch die Verwandlung vom „Saulus zum Paulus“ konnte ich nachvollziehen. Raisas Verhalten Leo gegenüber empfand ich auch stimmig; hieß es nicht, daß sie „Überleben“ will? Ich entsinne mich, vor längerer Zeit die Autobiographie von Jane Seymour (der Schauspielerin) gelesen zu haben, deren Mutter dem Holocaust entkam. Sie (die Mutter) bezeichnete sich als „Überlebende“. Ich kann das jetzt nicht mehr genauer erklären (ist schon zu lange her), doch diese sinngemäße Definition ist mir hängengeblieben und hier wieder eingefallen. Wer weiß, was man selbst in so einem System tun (oder nicht tun) würde, einfach um zu überleben.


    Insgesamt hat das Buch meinen Erwartungen durchaus entsprochen, und ich werde diese Woche den Nachfolgeband „Kolyma“ beginnen. Smith hat mit seinen Protagonisten starke Figuren geschaffen, die mir noch fast zwei Monate nach Leseende ziemlich präsent sind. Das gelingt nicht jedem Autor, und so freue ich mich auf die Wiederbegegnung mit Leo und Raisa.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Im Winter 1933 herrscht große Hungersnot in Russland. Auch der 10-jährige Pavel hungert, zusammen mit seiner Mutter und seinem 7-jährigen Bruder Andrej. Als Pavel jedoch eine Katze im Wald sieht, beschließt er, sie zu jagen, damit die Familie Nahrung hat. Seine Mutter besteht darauf, dass Andrej mitgeht, doch noch während der Jagd wird Pavel von einem Unbekannten angegriffen und verschleppt. Auf Grund der Hungersnot geht seine Familie davon aus, dass auch Pavel einem Jäger zum Opfer gefallen ist - er taucht nie wieder auf.


    Im Winter 1953 ist Stalin an der Macht in der Sowjetunion, in der alles großartig ist, es gibt kaum Verbrechen und Mörder schon mal gar nicht. Leo Stephanowitsch Demidow arbeitet für den Staatssicherheitsdienst MGM, dessen Aufgabe es ist, der Feinde des Staates habhaft zu werden. Zur Zeit ist Leo hinter Anatoli Tarasowitsch Brodsky her, einem Tierarzt, der im Verdacht steht, ein Spion zu sein. Diese Verfolgung muss er jedoch vorerst unterbrechen, denn sein Vorgesetzter, Generalmajor Kuzmin beauftragt ihn, eine Familie "mundtot" zu machen, die den Tod ihres jüngsten Sohnes Arkadi Fjodorowitsch Andrejew als Mord deklarieren - ein Unmöglichkeit in Stalins Reich, zumal der Familienvater selbst für den MGM arbeitet. Nachdem er die Familie "beruhigen" konnte, verfolgt er weiter Brodsky und wird diesem auch habhaft. Doch mit diesem Mann wird sich seine Weltanschauung ändern - erste Zweifel belasten sein Gewissen.


    Als jedoch eine weitere Leiche auftaucht, beginnt Leo zu realisieren, dass es tatsächlich einen Mörder gibt und nicht nur das. Er beginnt zu ermitteln und stößt auf immer weitere vertuschte Kindstötungen und der kleine Arkadi ist gemäß seiner Liste bereits Kind Nr. 44. Leo, der auf Grund seiner Ermittlungen in Ungnade fällt und mit seiner Frau Raisa Gawrilowna Demidowa in die Provinz verbannt wird, untersucht die Morde jedoch weiter, denn er weiß, der Mörder ist real, schlimmer noch, ein Serienmörder und er muss endgültig gestoppt werden. Der Staat jedoch, hat ein Auge auf ihn und versucht mit aller Macht zu verhindern, dass Leo dem Mörder näher kommt.



    Eine unvorstellbare Geschichte! Der Plot wurde sehr detailliert erarbeitet, jedoch fand ich den Klappentext etwas irreführend, da es um die Morde erst ab etwa der Hälfte des Buches geht, vorher ist die Entwicklung des Protagonisten Leo im Vordergrund, was sicher nicht verkehrt ist, jedoch gewöhnungsbedürftig. Den Schreibstil empfand ich als angenehm und abwechslungsreich zu lesen, sodass ich das Buch am Stück gelesen habe, weil ich ja unbedingt wissen wollte, wie sich die Gesichte auflöst. Die Figuren wurden sehr tiefgründig und facettenreich erarbeitet. Besonders gut hat mir Protagonist Leo gefallen, der zu Beginn ein Meta-Amphetamin-einnehmender staatlicher Roboter ist, im Laufe der Story jedoch wirklich ein Gewissen entwickelt und dementsprechend handelt. Mit der Figur der Raisa hingegen konnte ich eher weniger anfangen. Anfangs war sie mir durchaus noch sympathisch, bis zu dem Zeitpunkt, wo sie ihren wahren Charakter gezeigt hat. Ob ich den 2. Band der Reihe "Kolyma" noch lesen werde, muss ich ggf. spontan entscheiden, bis dato konnte mich die Reihe nicht 100%-ig überzeugen.

  • Ich wollte 'Kind 44' schon ewig lesen - aufmerksam geworden bin ich auf den Autor eigentlich durch 'Kolyma', was der Nachfolgeroman zu Kind 44 ist; danach habe ich dann den dritten Band gelesen - und jetzt endlich den ersten.
    Wobei ich rückblickend sagen muss, dass das kein Problem ist, da die Romane in sich geschlossen sind und in unterschiedlichen Lebensabschnitten des Protagonisten spielen.



    'Kind 44' hat mir nicht nur sehr gut gefallen, sondern mich wirklich berührt - hier nun meine Rezension dazu:


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    'Kind 44' spielt im stalinistischen Russland ein paar Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs, in einer von ständigem Mangel und unsäglicher Armut durchsetzten Gesellschaft, die in stetiger Angst vor dem allmächtigen Staat und seiner Geheimpolizei lebt.
    Leo, der charismatische Protagonist aus 'Kind 44' ist ein sowjetischer Kriegsheld und Offizier des MGB, der Geheimpolizei. Er lebt das Leben eines vorbildlichen Sowjetbürgers, der alles richtig gemacht hat. Er sieht gut aus, ist mit einer schönen und intelligenten Frau verheiratet, die von Beruf Grundschullehrerin ist, seine Position erlaubt es ihm, seine Eltern in einer Wohnung unterzubringen, die sie nicht mit drei anderen Familien teilen muss.
    Leos Job besteht im Aufspüren und Verhaften von Gegnern des Systems, und er ist Idealist. Er tut seine Arbeit aus Überzeugung. Er glaubt, dass der MGB durch Angst und Einschüchterung die Grundlagen für eine bessere Gesellschaft legt. Er glaubt daran, dass das System meistens unfehlbar ist, dass es keinen Zweifel daran geben darf und dass deshalb jeder, auf den der Schatten eines Verdachts fällt, auch schuldig sein muss. Er lebt als Privilegierter unter Menschen, die schon am nächsten Tag verhaftet und mit einem Zwangsgeständnis zu 25 Jahre Gulag verurteilt werden können - nur weil ein verzweifelter Nachbar, denunziert vielleicht von einem missgünstigen Kollegen, unter der Folter Namen von Mitverschwörern nennen sollte.
    Echte Ermittlungsarbeit ist nicht gefragt, denn die Sowjet-Ideologie Stalins besagt, dass es im Ideal des Kommunismus keine Verbrechen mehr gibt, da die Menschen ja nun alle glücklich und in Lohn und Brot seien. Aus diesem Grund werden Morde als Unfälle deklariert oder bekannten Unruhestiftern oder Geisteskranken in die Schuhe geschoben, da diese als 'Abnormale' das ideologische Konstrukt nicht bedrohen.
    Leo gerät jedoch selbst ins Schleudern, als er damit beauftragt wird, einen Kollegen beim MGB zu beruhigen, der behauptet, sein kleiner Sohn sei ermordet worden. Der Junge wurde nackt mit dem Mund voller Rinde und schweren Verletzungen auf den Bahngleisen gefunden, doch die Ideologie schreibt vor, dass es ein Unfall gewesen sein muss.
    Leo hegt Zweifel an der offiziellen Version, und sein Untergebener Wassili, der ihn zu Sturz bringen will, um selbst aufzusteigen, nutzt die, um ihn in Misskredit zu bringen...
    Als Leo sich plötzlich auf der anderen Seite wieder findet, beginnt er die Staatsdoktrin und sein eigenes Tun zu hinterfragen, und das Bedürfnis, als Sühne für Gerechtigkeit zu sorgen, wird stärker als sein Überlebenstrieb.


    'Kind 44' ist ein ganz außergewöhnliches Buch, das nicht nur die Härten und Entbehrungen des stalinistischen Russland schmerzlich intensiv zum Leben zu erwecken weiß, sondern auch tief in die menschliche Seele schaut.
    Die Mordermittlungen und das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Leo und seinen Feinden sind rasend spannend, aber viel faszinierender sind die moralischen Abgründe, die Entscheidungen, die die Menschen in diesem Buch treffen und die Gründe dafür. Sogar die, die man hassen will, kann man verstehen. 'Kind 44' ist nicht von klischeehaften Hochglanz-Figuren bevölkert, sondern von echten Charakteren, von Menschen, die ein hartes Los mit mehr oder weniger innerer Stärke aushalten, und die manchmal Dinge tun, die abscheulich sind, und dann wieder Dinge, die wahre Größe erfordern.
    Dieses Buch ist einer der besten und tiefgründigsten Romane, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Es unterhält nicht nur perfekt, sondern regt auch zum Nachdenken an und hallt noch lange nach.


    Empfehlung - nicht nur für Krimi-Fans - und zehn Eulenpunkte.

    Ich hab' mich verirrt.
    Ich bin dann mal weg, um nach mir zu suchen.
    Sollte ich zurückkommen, bevor ich wieder da bin, sagt mir bitte, ich soll hier warten!

  • Ich wollte das Buch schon immer mal lesen und nun ist es mir in unserer Ferienwohnung direkt in den Schoß gefallen. Ich habe es verschlungen! Es war wirklich gut und zum Ende hin scheint man zu ahnen, wer der Mörder ist. Alles sehr gut beschrieben, man konnte sich in alle Personen sehr gut hineinversetzen.

  • Ich habe das Buch letztes Jahr mal gelesen und es hat mir recht gut gefallen, was man von seinen Nachfolgern leider nicht mehr behaupten kann. Ich habe nur sehr lange gebraucht, um rein zu kommen, weil ich mit diesem extrem ausschweifenden Stil am Anfang gar nicht klar kam.


    Grausig und brutal war es allemal, aber ich fand es einen insofern gut, als es geeignet war, ein Bild des Kommunismus in seiner ganzen Brutalität zu zeigen.