"Mein Leben", Marcel Reich-Ranicki

  • Er hat als Kind Demütigung und Zurückweisung erlebt, dann das Warschauer Ghetto überlebt - den Hunger, die Angst, herzbrechendes Leiden. 1943 die Flucht und eineinhalbjähriges Versteckspiel, im Wissen, dass die ihm bekannte Welt untergegangen war. Er hat eine wunderbare Frau getroffen und geheiratet, Teofila, die in den schlimmsten Stunden an seiner Seite war, und der die schönste Liebeserklärung zu verdanken ist, von der ich je gehört habe. Er lebte und arbeitete im kommunistischen Polen, kam Ende der 50er in die BRD und wurde zum bekanntesten deutschen Literaturkritiker, bewundert und gehasst gleichermaßen; was er aus der Zeitungsgeschichte und der deutschen Literaturszene der Nachkriegsjahrzehnte nicht weiß, lohnt sich kaum zu wissen. Die Stationen im Leben von Marcel Reich-Ranicki sind bekannt - wie wenig all das über ihn selbst aussagt, weiß man erst, seit er seine Lebensgeschichte veröffentlicht hat.



    Informationen über den Autor zu geben, ist müßig - die gibt er selbst, in reichem Maß.


    Eine der besten, wenn nicht die beste Biografie, die ich kenne. So viele höchst lebhafte Szenen sind mir in Erinnerung geblieben und vor allem anderen Reich-Ranickis Liebe zur Literatur, die in diesem Leben über allem zu stehen scheint. Selten habe ich so viele wunderbare Zitate entdeckt oder wiedergefunden (und abgeschrieben)
    "Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide // Von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, // Und ringsumher liegt schöne grüne Weide.."
    Der weitaus größte und schönste Teil widmet sich den frühen Jahren. Aber der Rest ist auch nicht zu verachten. Von Freundschaft, die zerbricht, ist da zu lesen, manchmal auch von Abneigung, die immer da war und im Laufe der Jahre nur noch stärker geworden ist: Joachim Fest darf sich glücklich schätzen; andere werden hingemetzelt. Die Begegnung mit Albert Speer, die Auseinandersetzung mit Martin Walser - das IST Geschichte. Auf knapp 600 Seiten finden sich zudem Thomas Bernhard, Golo Mann, Wolfgang Koeppen, Nelly Sachs, Ulrike Meinhof und viele andere, wie man sie wohl noch nirgends fand. Boshafte kleine Betrachtungen zu Adorno und Canetti, zu Fassbinder insbesondere, machen einfach Spaß.
    Wie immer scheinbar unbeleckt von Selbstzweifel, aber eben doch auch als Hadernder präsentiert er sich. Als einer, der sein Leben aus vollen Zügen genießt, eben weil er auch die ganz dunklen Stunden kennt. Sein Leben fasziniert. Begeisternd aber ist seine Liebe zur Sprache und zur Literatur, die aus jeder Seite, aus jeder Zeile spricht und fast von Anfang an und allen Widerständen zum Trotz untrennbar mit dem"Literaturpapst" verbunden ist. Ich sehe ihn jetzt mit anderen Augen.

  • Ich bin nicht gerade ein Fan von Reich-Ranicki, und "Geschichtsbücher" lese ich bekanntermaßen auch nicht - aber dieses Buch war fantastisch. Ich kann nicht mehr dazu sagen, weil es zu lange her ist, dass ich es gelesen habe, aber es ist mir als unbedingt empfehlenswert in Erinnerung geblieben.

    Surround yourself with human beings, my dear James. They are easier to fight for than principles. (Ian Fleming, Casino Royale)

  • Ich lese schon Monate daran, immer mal wieder ein Stück. Sehr interessant, aber auch schwere Kost.

    Liebe Grüße,
    Ninnie



    Es ist ein großer Vorteil im Leben, die Fehler, aus denen man lernen kann, möglichst früh zu begehen.
    Sir Winston Churchill 1874-1965

  • Diese Lebensgeschichte von Reich-Ranicki reiht sich bei mir auch unter die Besten meiner Biografien-Sammlung ein.

    Avatar: James Joyce in Bronze... mit Buch, Zigarette und Gehstock.
    Diese Plastik steht auf seinem Grab. (Friedhof Fluntern, Zürich)
    "An Joyces Grab verweht die Menschensprache." (Yvan Goll)

  • Ich bin anscheinend eine der wenigen, die Marcel Reich-Ranicki mag. Natürlich bin ich nicht immer damit einverstanden, was er sagt, aber ich höre ich trotzdem gerne zu und bewundere ihn schon auch ein bißchen. Und das erst recht, seit ich dieses Buch gelesen habe.


    Seine Biografie habe ich regelrecht verschlungen. Ich fand sie von Anfang an wunderbar und spannend erzählt, ergreifend und doch oft voller Humor, auch wenn die Situationen oft nicht danach waren.


    Ein bewegendes und ereignisreiches Leben lebendig erzählt.

    Viele Grüße
    Shirat


    Ich habe eiserne Prinzipien. Wenn sie Ihnen nicht gefallen, habe ich auch noch andere. (Groucho Marx)

  • Also, ich höre ihm gerne zu, wenn er referiert, und finde ihn einfach köstlich.
    Aber ob ich ihn mag? Schwer zu sagen irgendwie.....

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    Diese Plastik steht auf seinem Grab. (Friedhof Fluntern, Zürich)
    "An Joyces Grab verweht die Menschensprache." (Yvan Goll)

  • Zitat

    Original von MaryRead
    Ich bin nicht gerade ein Fan von Reich-Ranicki, und "Geschichtsbücher" lese ich bekanntermaßen auch nicht - aber dieses Buch war fantastisch. Ich kann nicht mehr dazu sagen, weil es zu lange her ist, dass ich es gelesen habe, aber es ist mir als unbedingt empfehlenswert in Erinnerung geblieben.


    Ganz genauso ist es bei mir auch!

  • bei jokers erstanden und verschlungen. Ich liebe Reich-Ranicki seit ich ihn bei seinem literarischen Quartett erlebt habe. Selten habe ich jemanden mit Sprache, Witz und Esprit so genial umgehn sehen. Und das ist in seinem Buch genauso. Äußerst lesenswert. Natürlich habe ich Mila 18 (wird im Buch auch erwähnt)und ähnliche Bücher vor Jahren gelesen trotzdem erschüttern mich Berichte iüber diese entsetzliche Zeit jedes Mal von Neuem.


    Sein Leben nach dem Überleben ist nicht weniger eindrucksvoll und bar jeder Überheblichkeit. Er ist einfach so. Schrullig, liebenswert, intelligent, messerscharf in seinen Beurteilungen und trotzdem müsste jeder Autor froh sein, von ihm rezensiert zu werden, das käme wohl der Qualität vieler Ergüsse zugute.

  • „Die Literatur ist mein Lebensgefühl. Das lassen, glaube ich, alle meine Ansichten und Urteile über Schriftsteller und Bücher erkennen, vielleicht auch die abwegigen und verfehlten. Letztlich ist es ja die Liebe zur Literatur, die mitunter sogar ungeheuerliche Leidenschaft, die es dem Kritiker ermöglicht, seinen Beruf auszuüben, seines Amtes zu walten. Und bisweilen mag es diese Liebe sein, die anderen die Person des Kritikers erträglich und in Ausnahmefällen sogar sympathisch macht. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Ohne Liebe zur Literatur gibt es keine Kritik.“ (S. 437 Marcel Reich-Ranicki in „Mein Leben“)


    Marcel Reich-Ranicki erzählt in seiner Autobiografie gelebte Geschichte. Sie ist spannend wie ein Roman und doch weiß man, das sind die existenten Erlebnisse eines Mannes. Als Jude in Polen geboren, kam er als 9jähriger Junge ins „Land der Kultur“ nach Berlin. Schon in jungen Jahren lernte er die Literatur und das Theater lieben. Aber nur wenige Jahre später erlebte er ein ganz anderes Berlin. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten lebte er nun in einem Land, in dem Juden zunächst schikaniert, dann verfolgt, deportiert und vergast wurden. Auch seine geliebten Bücher sah er brennen. Er selbst wurde nach Warschau ausgewiesen. Dem Warschauer Ghetto, in dem er mit seiner Frau Tosia unter unmenschlichen Bedingungen ums Überleben kämpft, entkamen beide nur mit viel Glück den deutschen Exekutionskommandos und fanden Unterschlupf bei einem polnischen Ehepaar. Nach dem Ende des Krieges blieben die Reichs zunächst in Polen, unter anderem war er für den Geheimdienst tätig, aber nie verlor er die Literatur aus den Augen. Bis er dann die sich ihm bietende Gelegenheit nutzte und mit Frau und Sohn nach Deutschland zurückkehrte. Beeindruckend ist besonders seine Art, sein Leben zu schildern, in einfachen Worten, unmissverständlich, schnörkellos, ohne Bitterkeit, selbstkritisch und – wie ich finde - sehr berührend und trotzdem unterhaltend. Die Jahre, in denen er ständig um sein und das Leben seiner Lieben bangen musste, beschreibt er mit großer Distanz, dafür sehr detailliert. Wie ein roter Faden zieht sich die Literatur durch sein Leben und letztlich gelang es ihm, auch ohne akademische Ausbildung, seinen Kindheitstraum, Literaturkritiker zu werden, verwirklichen. Er machte sich schnell einen Namen, wurde und wird von den Autoren eher gefürchtet als geliebt. Durch seine Literatursendung „Das literarische Quartett“ wurde er auch in der breiten Öffentlichkeit bekannt, seine Verrisse sind teilweise legendär. Neben den historischen Ereignissen, die Reich-Ranicki in seiner Autobiografie so prägnant beschreibt, gibt er gleichzeitig auch einen Abriss über die deutsche Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, den ich in dieser Form bisher nirgendwo fand. Habe ich MRR als Kritiker schon immer geschätzt, habe ich jetzt auch den Menschen Marcel Reich-Ranicki im Blick und sehe ihn ein wenig mit anderen Augen. Er lebt zurückgezogen, Freundschaften scheinen immer nur Nähe auf Zeit zu sein. Er ein polarisiert, hat eine eigene Meinung und vertritt diese vehement, auch wenn er andere damit gelegentlich brüskiert.
    „Mein Leben“ ist wohl eine der bemerkenswertesten Biografien, die ich bisher las. Dieses Buch bekommt meine unbedingte Leseempfehlung. Marcel Reich-Ranicki hat als einer der letzten Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts viel zu berichten. Deshalb bedaure ich die Lücke, die sich seit der Veröffentlichung seiner Autobiografie auftut.

  • Ist schon länger her, dass ich es gelesen (nein, verschlungen) habe, aber es ist eines der wenigen Bücher, die mir präsent geblieben sind.
    Die Szene, in der MRR schildert, wie seine Mutter in ihrem Staubmantel im Transportwaggon verschwindet, fällt mir auch heute immer wieder ein.
    Wirklich eine beeindruckende Lebensgeschichte eines außergewöhnlichen Menschen und Lesers aus Leidenschaft.

  • Hallo zusammen.


    Ich hatte gerade erst das Hörbuch gehört.
    Es hat mich schon sehr fasziniert aber es recht mir nicht mit nur 2 CD`s. Ich will das Buch unbedingt noch lesen.


    Nach dem Hören habe ich mir dann den Film angesehen. Eine klasse Verfilmung mit einem tollen Matthias Schweighöfer. Er hat alles toll rüber gebracht und ich fand es einfach gut aber wie gesagt mir fehlt noch das Buch. Ich denke das ist wesentlich ausführlicher als Film und Hörbuch zusammen...

    Ein Buch ist wie ein Garten den man in der Tasche trägt.


    z.Zt. vor Augen: Das Alphabethaus - Jussi Adler Olsen


    z.Zt. auf den Ohren: Die Richter des Königs - Sandra Lessmann


    Fieni :lesend