Ich greife hier das Thema auf, das in meinem Begrüßungsthread angesprochen wurde. Der Ausgangspunkt war, dass ich auf meiner HP kritisiere, gute Übersetzungen würden vom Publikum nicht angemessen gewürdigt. Damit stellt sich automatisch die Frage, was denn eine gute Übersetzung ist und woran man sie erkennt. Ich will mal versuchen, dazu aus meiner persönlichen Sicht und Erfahrung ein paar Thesen zu formulieren:
1) Eine Übersetzung ohne sprachliche und inhaltliche Schnitzer ist für mich nicht unbedingt eine gute, sondern erst mal „nur“ eine korrekte ... was eigentlich selbstverständlich sein sollte, es aber keineswegs immer ist. Wirklich gut ist eine Übersetzung erst dann, wenn es ihr gelingt, auch die Idee oder eben den „Geist“ (wie SiCollier es ausgedrückt hat) des Originals zu vermitteln. Ich vergleiche das gerne mit einem Lied, dessen Melodie und Text ich angemessen in meine eigene Sprache übertragen muss.
2) Das ist ein ziemlich hoher Anspruch, der sich in der Praxis nur erfüllen lässt, wenn
a) das zu übersetzende Original tatsächlich ein Lied ist und nicht nur ein „Gekrächze“,
b) ich als Übersetzerin die Melodie wahrnehmen und harmonisch auf ein anderes Instrument übertragen kann (Sprachkompetenz),
c) ich den Text des Liedes verstehe und ebenfalls harmonisch übertragen kann (Sachkompetenz)
d) ich bereit bin, mich mental und emotional auf die Botschaft des Liedes einzulassen.
3) Wenn diese vier Voraussetzungen erfüllt sind, wird eine Übersetzung gut ... im günstigsten Fall so gut, dass man beim Lesen gar nicht auf die Idee kommt, es könnte sich um eine Übersetzung handeln. Für mich persönlich gehört es jedenfalls zu den größten Komplimenten, wenn mir jemand sagt: „Mir ist beim Lesen überhaupt nicht aufgefallen, dass es eine Übersetzung war.“
4) Genau darin liegt das Dilemma: Bei einer wirklich guten Übersetzung wird der Übersetzer/die Übersetzerin unsichtbar – und folglich auch nicht wahrgenommen.
5) Es gibt verschiedene Gründe, warum wirklich gute Übersetzungen eher die Ausnahme als die Regel sind:
a) Aus einer schlechten oder mäßigen Vorlage (und davon gibt es leider reichlich) lässt sich auch durch die Übersetzung kein gutes Buch machen.
b) Aktualität wird zunehmend höher bewertet als Qualität; der Zeitdruck wächst, oft arbeiten mehrere Übersetzer parallel an verschiedenen Textabschnitten desselben Buches, die Abgabefristen – nicht nur für die Übersetzer, sondern auch für Lektoren und/oder Redakteure – sind eng und werden immer enger.
c) Die Honorierung richtet sich gewöhnlich nicht nach dem Schwierigkeitsgrad von Texten und schon gar nicht nach der Qualität der abgegebenen Übersetzung. Ob ich mir also viel oder wenig Mühe gebe, ggf. umfangreich nachrecherchiere oder sonstigen Aufwand betreibe, ist gewissermaßen mein Privatvergnügen – auf den Stundenlohn wirkt es sich allenfalls negativ aus, weil ich mehr Zeit pro abzurechnender Normseite aufwende. Bösartig zugespitzt: Dünnbrettbohrer stehen sich finanziell am besten.
d) Die finanzielle Situation der meisten Übersetzer ist so, dass sie jeden Auftrag annehmen müssen, den sie bekommen können, ob sie nun Lust auf gerade dieses Thema und diesen Autor haben oder nicht, ob sie die Vorlage gut oder schlecht finden, sich von dem Text überfordert fühlen oder sich dabei langweilen ... kaum jemand kann es sich leisten, einen Auftrag abzulehnen.
So ... ich denke, das reicht erst mal zur Information und Provokation, und ich bin gespannt auf eure Rückmeldungen.
Annuith