Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 396
Originaltitel: Løvekvinnen
Originalsprache: Norwegisch
Klappentext:
Am 13.12.1912 kommt in einem kleinen Dorf in Norwegen ein Kind zur Welt, das über und über mit feinem, hellblondem Haar bedeckt ist. Die Mutter stirbt bei der Geburt, und der Vater, Stationsmeister Arctander, ein harter und pflichtbewusster Mann, will zunächst nichts von seiner Tochter wissen. Eva, die der Leser sofort ins Herz schließt, leidet an einer seltenen Krankheit, einem Gendefekt, durch den ihr ganzer Körper mit langen Haaren bedeckt ist. Ein interessanter Fall für die Wissenschaft, doch zunächst ein Problem für Stationsmeister Arctander und eine Handvoll Eingeweihter, die sich um das Baby sorgen. Arctander, in tiefer Trauer um seine geliebte Frau, ekelt und schämt sich, und das Kind wird versteckt. Gleichwohl verbreitet sich die Kunde des seltsamen Mädchens wie ein Lauffeuer im Dorf. Eine Amme wird gefunden, die sich liebevoll kümmert, und auch Apothekerin Birgerson und der Arzt Dr. Levin stehen dem Kind zur Seite. So wächst Eva heran: Abgeschottet von den neugierigen Blicken der Dorfbewohner und ohne Kontakt nach draußen schafft sie sich eine eigene Welt, bis sie, zunächst schüchtern, dann aber mit großer Durchsetzungskraft, der Enge ihres Zimmers immer mehr zu entfliehen beginnt.
Autor:
Erik Fosnes Hansen wurde 1965 in New York geboren und verbrachte die Schulzeit in Oslo. Mit zwanzig schrieb er seinen ersten Roman "Falkenturm", sein zweiter Roman "Choral am Ende der Reise" erschien 1995, er wurde in 30 Sprachen übersetzt, international zu einem Bestseller und mit vielen Preisen ausgezeichnet. Erik Fosnes Hansen lebt in Oslo.
Übersetzer:
Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959, lebt in Berlin, übersetzt Prosa und Theaterstücke aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen, zuletzt vor allem Jean Echenoz, Yasmina Reza, Jon Fosse, Erlend Loe und Louis-Ferdinand Céline.
Meine Meinung:
Der Beginn von Evas Leben ist alles andere als vielversprechend. Nachdem ihre Mutter gestürzt ist, wird sie etwas zu früh geboren, die Mutter verblutet dabei. Die erste Reaktion des von Trauer völlig überwältigten Vaters ist: "Das ist ein Wiesel!" Eva Arctander wird mit einem vollständig behaarten Körper geboren. Es ist das Ende des Jahres 1912 und ihr Geburtsort ist eine kleine Provinzstadt in Norwegen. In der Wissenschaft nennt sich ihre Krankheit "Hypertrichose" und ist ein sehr seltener Gendefekt. Doch das weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Weder die Apothekerin, die einmal ihre Patin sein wird, noch der Doktor, welcher der von der Apothekerin bestärkten Meinung ist, dass diese Haare noch ausfallen werden, und erst recht nicht der Vater, der seine Tochter keines zweiten Blickes würdigt und sie erst einmal in die Familie des Apothekerehepaares gibt.
Evas Taufe wird am Tag der Beerdigung ihrer Mutter still und heimlich vollzogen und wo die Beerdigung zu prunkvoll und fast schon peinlich überladen ist, ist die Taufe zu karg und armselig. Nur mit viel Überzeugungskraft des Apothekers und des Arztes kann der Vater dazu überredet werden, eine Amme anzustellen und das Kind nach Hause zurück zu holen. Er versucht sein Bestes um vor allen Leuten die Natur seines Kindes geheim zu halten, doch irgendwann sickert es doch durch und es entstehen die wildesten Gerüchte. Schließlich erfährt auch die Presse von dem Fall und veröffentlicht einen "aufklärenden" Artikel. Der Hausarzt Dr. Levin sieht sich ebenfalls gezwungen eine höhere medizinische Institution zu kontaktieren und um Beistand zu bitten, noch hegen alle Hoffnung, dass es Heilung für Evas Zustand gibt. Als der erwartete Professor schließlich eintrifft wird auch diese Hoffnung zunichte gemacht. Eva wird nie ein normales Leben führen dürfen.
Im Alter von 7 Jahren lässt der Vater Eva immer noch nicht aus dem Haus, höchstens mit ihrem Kindermädchen hinter der Bahnstation um etwas Luft zu schnappen und zweimal im Jahr zu Dr. Levins Praxis, denn dieser muss genau Bericht über ihren Zustand und ihre Entwicklung führen und diesen an den Professor weiterleiten, so lautet die Vereinbarung. Da sie keinen Kontakt zu Spielgefährten haben kann, denkt sie sich ihre eigene kleine Welt aus. Darin wird der Tisch zu einem fernen fremden Land und die Bilder des Kartenspieles sind seine Einwohner, allen voran ihr geliebter Kreuz-Bube Prinz Arima. Außerdem liest sie sehr viel und hat großen Gefallen an Zahlen, denn Eva hat eine besondere Begabung. Sie ist Synästhetikerin, das bedeutet, sie kann die Zahlen förmlich vor sich in der Luft sehen, in unterschiedlichen Farben. Ebenso geht es ihr mit den Noten der Musik. Eva hat eine wunderbare Stimme, offenbar das einzige Erbe der Mutter.
Das Verhältnis zum Vater hat sich über die Jahre gebessert und er scheint sie auf seine Art zu lieben und auch beschützen zu wollen. Das hat zur Folge, dass er versucht Evas Einschulung herauszuzögern, was dieser den Eintritt nur noch mehr erschwert als es soweit ist. Die anderen Kinder kennen sich nun schon ein Jahr, sie wird noch mehr zur Außenseiterin als sie es sowieso schon ist und muss viele Demütigungen über sich ergehen lassen.
Eines Tages kommt die Einladung des Professors zu einem medizinischen Kongress nach Kopenhagen. Eva soll den wissenschaftlichen Häuptern Europas präsentiert werden. Sie und ihr Vater treten die weite Reise, die erste in Evas Leben, an. Wird sie dort etwas mehr über sich selbst, diesen "Fall", erfahren können? Sie hofft es und begibt sich vertrauensvoll in die Hände der Gelehrten...
Der Prolog beginnt mit den reißerischen Ankündigungen von Zirkusattraktionen, durchsetzt mit Gedanken einer Person die selbst zu diesen Attraktionen gehört und die den Leser wissen lässt, was dem Publikum für Lügen aufgetischt werden und welche Behauptungen wahr sind. Im krassen Gegensatz dazu, ist der Rückblick auf das Leben das sie einst führte in sehr stillen Tönen, gefühlvoll und alles andere als reißerisch gehalten.
In einer angenehmen Sprache und auch nicht ohne dass man über die Naivität und Einfältigkeit der Bewohner des kleinen Ortes manchmal schmunzeln muss, erzählt uns der Autor die Geschichte von Evas Geburt und Leben. Dabei kann es dem Leser schon mal passieren (zumindest ging es mir so), dass er ein paar Seiten lang ganz vergisst an welcher "Krankheit" Eva leidet. Sie ist einfach ein Mädchen, dass sich seine Gedanken zu der, zugegeben sehr eingeschränkten, Welt um sie herum macht. Erst als sie immer mehr in Kontakt mit anderen Menschen gerät, werden der Leser und auch sie selbst immer häufiger recht unsanft mit der Nase auf ihre Andersartigkeit gestoßen.
Das Buch ist in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten wird die Geschichte von Evas Geburt bis zu ihrem 6. Lebensmonat geschildert. Mit dem zweiten Abschnitt umgeht der Autor geschickt die Jahre des Ersten Weltkrieges und präsentiert Eva als siebenjähriges Mädchen, das für sein Alter bereits sehr gebildet und klug ist, aber furchtbar einsam. Im dritten Abschnitt schließlich zeigt sich uns Eva von einer etwas anderen Seite. Sie ist ca. 12-13 Jahre alt und die Geschichte wird nicht mehr nur aus der dritten Person erzählt sondern auch immer häufiger in Tagebucheinträgen und Ich-Perspektive aus ihrer erwachsenen Situation heraus. Das wird oft gewechselt. Wenn Eva sich selbst nur noch als "Fall" sieht oder ihr das Kind von damals einfach zu fremd geworden ist, erzählt sie plötzlich wieder in der dritten Person. Das ist stellenweise etwas gewöhnungsbedürftig, aber dann kommt man ganz gut rein.
Mir persönlich gefiel vor allem der zweite Abschnitt besonders gut. Das einsame Kind rührt den Leser durch seine Phantasie und die Dinge die es vom Vater gelernt hat. Fast zieht sich einem das Herz zusammen, wenn aus Evas Sicht erklärt wird, wie Einsamkeit funktioniert. Mit fast der gleichen Sachlichkeit mit der ein paar Seiten weiter vorn noch die Funktionsweise einer Lokomotive erklärt wurde. Die emotionale Kälte des Vaters, bei dem offenbar nicht nur die Türen sondern vor allem das Herz "ordnungsgemäß verschlossen" sind, scheint hier auf Eva abzufärben, man hört seine Stimme in ihren Worten.
Die letzten ca. hundert Seiten fielen für mich im Vergleich zum restlichen Buch etwas ab. Eva ist ein Teenie mitten in der Pupertät und das merkt man leider auch bei mehr als einer Gelegenheit. Einige ihrer Handlungen kann ich hier überhaupt nicht mehr nachvollziehen, was vermutlich nur realistisch ist. Trotzdem für mich ein Grund dem Buch nur 8 von 10 Punkten zu geben, statt eigentlich 9 für die ersten dreihundert Seiten.
Das Buch hat mich dazu gebracht über Evas Krankheit und auch die anderer sogenannter "Freaks" zu recherchieren, die ihre körperlichen Besonderheiten in Wandershows präsentierten. Diese erfreuten sich noch vor 100 Jahren größter Beliebtheit. Viele schlossen sich mehr oder weniger freiwillig solchen Shows an, denn eine große Wahl hatten sie nicht. Ein normales Leben unter anderen Menschen war für fast keinen dieser Akteure mehr möglich. Auch in Deutschland gab es einen sehr bekannten "Star" dieser Szene: Lionel der Löwenmensch, der sich auf Ansichtskarten des Oktoberfests finden lässt. Und der "Elefantenmensch" John Merrick, dessen Schicksal auch verfilmt wurde, dürfte sogar heute noch vielen ein Begriff sein.
Es würde mich interessieren, ob es noch mehr Bücher aus einem ähnlichen Blickwinkel wie dieses gibt. Vielleicht auch eine Biographie von John Merrick oder einer anderen Person aus den Shows in der vor allem die normale, menschliche Seite gezeigt wird und wie diese Menschen mit ihrem Schicksal umgingen. "Das Löwenmädchen" hat auf jeden Fall einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen und ich kann es nur empfehlen.