Schreibwettbewerb Februar 2008 - Thema: "Grenzen"

  • Thema Februar 2008:


    "Grenzen"


    Vom 01. bis 20. Februar 2008 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Februar 2008 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!


    Nur für registrierte Mitglieder mit mindestens 50 Beiträgen!


    Eine Bitte: Schickt uns Eure Beiträge als .doc oder .rtf und sendet sie uns als Anhang in einer Mail. Damit kommen dann auch Zeilenumbrüche, etc. richtig bei uns an. In Word könnt ihr dann auch die Rechtschreibhilfe nutzen und unter „Extras“ habt ihr die Möglichkeit „Wörter zählen“.


    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von eyre



    Die Prinzessin Azouzou verlor früh ihre Eltern. Auf dem Sterbebette erklärte ihr die Königin: „Mein Sonnenschein, als ich jung war, warb ein schöner Zauberer um mich. Doch ich fürchtete sein Reich der Dunkelheit und heiratete einen anderen. Sein Fluch traf dich. Du darfst einem Mann nie deine Liebe gestehen, bevor er es nicht zuerst getan hat. Mein Kind, schweige duldsam, sonst geschieht dir ein großes Unglück.“
    Als die Prinzessin ins heiratsfähige Alter kam, erschien ein schöner Prinz. Wider ihres Wissen war dieser Prinz stumm. Er lächelte nur und es dauerte nicht lange, da bahnte sich die Sprache ihres Herzens bis zur Zunge und sie gestand ihm ihre Liebe. Unter Donnern erschien eine schwarze Kutsche und nahm den Prinzen mit sich fort. Azouzou weinte bitterlich und wollte ihn suchen gehen. Ihre Amme reichte ihr ein Tüchlein. „ Es kann dich dreimal über Hindernisse tragen, setze nur einen Fuß darauf.“ Azouzou küsste sie dankend und machte sich auf den Weg.
    Sie kam an einen reißenden Fluss, wo ein Fährmann laut klagte, weil das Seil in der Mitte gerissen war. Azouzou flog mit dem Tüchlein zu der Stelle und verknotete es. Aus Dank gab ihr der Mann ein Zweiglein: „Es leuchtet eine Nacht lang, wenn du es wünscht.“ Wenig später erreichte die Prinzessin eine Schlucht, an der ein Mütterchen weinte, weil die Brücke in der Mitte gerissen war. Auch hier flog das Mädchen mit dem Tüchlein und flickte die Stränge zusammen. Aus Dank gab ihr die Frau ein Ästlein: „Es leuchtet zwei Nächte lang, wenn du es wünscht.“ Kurz darauf begegnete Azouzou eine Stadt, deren Tor eingestürzt war und die Männer, die auf dem Feld arbeiteten, ausgesperrt hatte. Sie gab dem stärksten Mann das Tüchlein, damit er über die Mauer fliegen und das Tor öffnen konnte. Der Dank war ein Stück Rindlein: „Wenn du es wünscht, leuchtet es drei Nächte lang.“
    So erreichte Azouzou das Königreich der Nacht und das Schloss des Zauberers. „Erleuchte meinen Thronsaal sieben Nächte durch und der Prinz ist frei!“, forderte der Grausame. Azouzou entzündete das Zweiglein und es brannte eine Nacht, sie legte das Ästlein dazu und es leuchtete zwei Nächte. Das Rindlein erhellte ganze drei Nächte den Thronsaal. Als es zu verlöschen drohte, rief Azouzou aus: „Ich vermag nicht die siebente Nacht zu erhellen. Doch seid barmherzig. Entlasst den Prinzen und nehmt mich an seiner Stelle.“
    „Du willst bei mir in ewiger Nacht bleiben?“
    „Ja, Herr.“
    „Warum willst du das tun?“
    „Aus Liebe.“
    Da brach die Sonne durch das dunkle Firmament und erleuchtete das ganze Schloss und Azouzou sah den Prinzen neben sich stehen. „Du hast mich erlöst“, sprach er, „ich sollte mein Stimme erst wieder erhalten, wenn ein Mädchen bereit ist, aus Liebe auf das Licht zu verzichten. Durch deinen Mut, hast du den Zauberer besiegt, der bis heute nicht an die Kraft der Liebe glaubte.“
    Sie nahmen sich bei den Händen und kehrten nach Hause zurück, wo sie Hochzeit hielten und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

  • von Tom



    Ich liebe ihn. Das ist mein Problem.


    Am Anfang war er zärtlich und fürsorglich, einfühlsam und verständnisvoll. Die Erinnerung daran welkt wie eine letzte Blume im Spätherbst. Es ist, als blickte ich auf ein Schwarzweißbild, auf das sich ein Farbtupfer verirrt hat. Meistens genügt mir dieser freundliche Klecks.


    Leider.


    Inzwischen weiß ich, dass es ihn enorme Anstrengung gekostet hat, mich anfangs achtsam zu behandeln. Vor der Hochzeit haben wir uns monatelang nur drei oder vier Mal pro Woche gesehen, er hat selten bei mir übernachtet, das Haus seiner Eltern war tabu. Während der ersten Wochen in der neuen Wohnung hat er sich mühevoll zurückgehalten. Manchmal habe ich bemerkt, wie es in ihm knirschte, wie etwas herauswollte, eine drängende Kraft. Er hat sie kontrolliert, mich umgarnt, er lag mir fast zu Füßen, auch im wörtlichen Sinn. Bis er bemerkt hat, dass die Grundlage unumstößlich war. Er hatte mich. Er hat mich noch immer. Es ist zum Verzweifeln.


    Die ersten Schläge kamen wie nebenbei. Ich reagierte nicht schnell genug, wenn er etwas wollte, oder ich war bei Kleinkram nicht seiner Meinung. Erst habe ich die Zeichen missdeutet, die feinen Tropfen auf seiner Stirn, die Rötungen im Gesicht und am Hals. Ich habe ihn angesehen, vermutlich verwirrt, wahrscheinlich besorgt. Dann nicht mehr. Seine Hände sind groß, seine Kraft ist gewaltig. Die erste Schelle warf mich um, und als ich mich wieder aufgerappelt hatte, sah er nicht einmal hin, tat, als wäre nichts geschehen. Wenn ich fragte, reagierte er nicht. Wenn ich laut wurde, schlug er abermals zu. Immer auf gleiche Art, kurz, ansatzlos, aber mit seiner gesamten Körperkraft, und immer ohne Chance für mich, auszuweichen. Sofort danach verwandelte er sich in einen anderen Menschen, blickte ruhig und gelassen, wechselte das Thema, als wäre alles normal.


    Er trinkt nicht und er nimmt keine Drogen. Es ist in ihm. Unveränderlich. Er ist wie ein Glas Wasser mit "Berg", und ich bin ein Tropfen. Man könnte eine Therapie versuchen, aber ihm fehlt jede Einsicht, dass Therapiebedarf besteht. Es ist, als würde er diesen anderen Mann in sich überhaupt nicht kennen.


    Inzwischen schlägt er nicht mehr einfach nur zu. Jetzt ist in solchen Situationen deutlich zu spüren, dass er etwas, dass er MICH zerstören will. Ich spüre aber auch, wie stark er sich verändert. Und wie schnell. Aber ich bin sicher, dass er mich liebt. Das sage ich mir immer wieder, ich bete es mir vor wie ein Mantra, wenn ich im Krankenhaus liege, meine Hämatome und Brüche behandelt werden, die inneren Verletzungen, für die es immer schwieriger wird, plausible Erklärungen zu erfinden. Im vergangenen Halbjahr war ich häufiger in der Klinik als bei meinen Eltern. Meine linke Brustwarze konnte nicht gerettet werden. Die Narbe in der Unterlippe wird bleiben. Ich könnte damit leben, wenn da nicht diese Gewissheit wäre, dass er noch schneller wütend wird, wenn er meine Verletzungen sieht.


    Ich liebe ihn. Das ist mein Problem.

  • von Leserättin



    „Commander?“
    Tessy Gardner hielt ihren Blick auf das Sichtfenster gerichtet. „Wir erreichen die Grenze der Milchstraße erst in 44 Minuten, Fähnrich.“
    Schweigen herrschte in ihrem Rücken und sie lächelte. Den jungen Mann zu verblüffen war nicht schwer. Sie stellte sich vor, wie er sie mit offenem Mund anstarrte, und ihr Lächeln wuchs in die Breite. Nach einem Moment waren seine sich entfernenden Schritte zu vernehmen.
    Vor ihr zogen weiter die Sterne dahin, weiße Punkte in der tiefen Schwärze des Alls.
    Tessy konnte Ewigkeiten damit verbringen, an einem Sichtfenster zu stehen. Sie liebte diesen Anblick; er war ihre Motivation, alles, wovon sie geträumt hatte, seit sie als kleines Mädchen beschlossen hatte, Astronautin zu werden. Und nun war es beinahe so weit, sie würden die Milchstraße verlassen, kein Raumschiff zuvor hatte diese Grenze passiert.
    Der Lift brachte sie auf die Brücke. Tessy ließ ihren Blick über die angespannten Gesichter gleiten. Selbst auf den ebenmäßigen Zügen von Adrienne de Chevalier, ihrem Captain, zeigte sich die Aufregung. 38 Minuten noch.
    Tessy nahm ihren Platz ein, als Erster Offizier saß sie rechts vom Captain. Die beiden Frauen tauschten einen Blick, stummes Verstehen, bevor sie wieder auf den großen Sichtschirm sahen.
    Die ausgeschickten Sonden hatten nur wenige Daten geliefert, was sie wirklich hinter der Grenze erwartete, konnte niemand sagen.
    27 Minuten. Außer dem monotonen Piepen der Geräte war kein Ton zu hören. Im Weltraum war es still, ein physikalisches Gesetz, das in den Sciencefictionfilmen, die Tessy als Kind so gern gesehen hatte, ignoriert wurde.
    11 Minuten. Fähnrich Alexander Riffelman ballte in rascher Folge seine Hände zu Fäusten und spreizte die Finger. Er hörte erst damit auf, als Adrienne ihm einen strengen Blick zuwarf.
    2 Minuten. Die Luft schien sich vor Spannung verdichtet zu haben. Das Atmen fiel Tessy schwerer. Die Grenze war fast erreicht. Nur ein Stück noch, der Antrieb hatte sie bis hierher gebracht, er würde sie nicht im Stich lassen.
    Das Piepen wurde zu einem langen Ton.


    Adrienne de Chevalier blickte auf die Tote herab. Die Verletzungen der jungen Frau waren zu schwer gewesen, obwohl man sie direkt nach dem Autounfall ins Krankenhaus gebracht und an lebenserhaltende Maschinen angeschlossen hatte, hatte ihr Körper nun aufgegeben. Dabei hatte es so ausgesehen, als würde sie es schaffen. Manchmal, wenn Adrienne zu ihr gekommen war, hatten Tessys Augen sich auf sie gerichtet. Niemand konnte mit Sicherheit sagen, ob die sich im Wachkoma befindliche Frau wirklich etwas von dem mitbekam, was um sie herum vorging. Aber Adrienne war überzeugt davon gewesen. Sie hatte mit ihr geredet, sich oft noch nach ihrem Dienst zu ihr gesetzt.
    In Tessys Sachen war ein Sciencefictionroman gefunden worden, der Schlüsselanhänger ein Raumschiff. Adrienne war Krankenschwester, liebte ihre Arbeit, aber Tessy hatte sie an eigene Träume erinnert; als kleines Mädchen hatte sie sich vorgestellt, Astronautin zu werden. Sie hatte Tessy davon erzählt, immer wieder, es hatte sich eine eigene Geschichte entwickelt, in der sie Captain und Tessy ihr Erster Offizier war.
    „Vielleicht bist du ja jetzt dort“, flüsterte sie.

  • von arter



    Ich kann es selbst nicht glauben, aber es ist so. Ich liebe meinen Chef. Daran wäre im Grunde nichts prekäres, wäre ich eine hübsche, verträumte Sekretärin mit masochistischen Neigungen. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn ich bin männlich, sehr glücklich verheiratet und definitiv heterosexuell. Ich liebe meinen Chef auch nicht als Mensch. Meinen Chef kann man eigentlich gar nicht lieben. Er ist ein egoistischer, selbstgefälliger Drecksack, der zu cholerischen Ausbrüchen neigt. Nein, seine Persönlichkeit hat es mir nicht angetan, ich begehre ihn rein körperlich.
    Er hatte mich in sein Büro zitiert. Mit hochrotem Kopf fläzte er sich in seinen Sessel. In der Hand hielt er eine Mappe. Ich kannte diese Mappe. Es war die Konzeption, an der ich in den vergangenen Wochen gearbeitet hatte.
    „Roland, das ist Mittelmaß“, sagte er. Er versuchte mühsam, beherrscht zu wirken. In hohem Bogen flog mein Pamphlet auf den Schreibtisch, wo es mit einem lauten Klatscher landete.
    „Wie lange willst du daran gearbeitet haben? Zwei Wochen?“ Er hatte sich jetzt etwas vorgebeugt. Seine Stimme hatte deutlich an Lautstärke gewonnen.
    „Ich sag dir was das ist: Allerweltskacke.“ Auf seiner Stirn schwoll eine Ader gefährlich an. „Was hast du in den vergangenen zwei Wochen getan? Mit Nora geflirtet? Im Internet gesurft? Kaffe getrunken?“. Seine Artikulation entwickelte sich rapide in Richtung Geschrei. Putzig hatten sich die Haare seines Vollbartes aufgerichtet wie die Stacheln eines Igels.
    „Ich reiß mir den Arsch auf, damit ihr am Monatsende eure Kohle nach Hause tragen könnt und ihr hängt nur eure Zeit ab“. Er erhob sich, umrundete den Schreibtisch und baute sich vor mir auf. Eine erregende Fahne seines Schweißgeruches wehte zu mir herüber.
    Ich trat ganz dicht an ihn heran und schmiegte mich an den unförmigen Körper. Meine Hand fuhr mit gespreizten Fingern durch seinen Bart bis zum Haaransatz hinter den Ohren. Ich kraulte ihm zärtlich den Schopf. Meine Lippen pressten sich auf seinen Mund. Er lies es geschehen - passiv aber willig. Meine linke Hand tastete nach dem Knopf an seiner Hose.
    Ich spürte zärtliche Finger auf meiner Brust, die sich langsam abwärts bewegten. Seidig sanfte Lippen liebkosten meinen Hals. Ich öffnete die Augen. Durch eine Gardine langer blonder Haare sah ich die Schlafzimmerdecke. Eva knabberte an meinem Hals. Durch zusammengepresste Zähne knurrte sie in mein Ohr: „Du Schuft, mit wem hast Du mich betrogen in deinem Traum?“ Ich konnte nicht antworten. Tränen traten in meine Augen, vor Glück, so süß aus diesem abstrusen Hirngespinst errettet worden zu sein. Eva bekletterte mich und ritt auf mir bis zum Morgengrauen.
    Gut gelaunt betrat ich am nächsten Morgen das Büro. „Du sollst sofort zum Chef kommen“, empfing mich Nora, unsere Sekretärin. Ich lachte in mich hinein, als ich an den Traum zurückdachte. In welcher kranken Hirnwindung mochte dieser abartige Schmutz entstanden sein? Ob sich das operativ entfernen lies?
    Mit schwungvollem Schritt betrat ich sein Büro. Da saß er: roter Kopf, Igelbart, Zornesader. Meine Mappe in der Hand.
    „Chef“, kam es aus mir heraus. „Ich liebe dich“.

  • von churchill



    Er ist der vierte Sohn seines Vaters, der Soldat war wie sein Vater und dessen Vater. Auch der vierte Sohn ist Soldat wie seine Brüder, die ebenfalls das „von“ vor ihrem Namen tragen. Alles Demokratische ist ihm suspekt. Die Skepsis ist vererbt. Er dient seinem Vaterland, er schwört auf die Fahne, die sich schneller umfärbt als die Haltung der Soldaten und schließlich von einem Hakenkreuz verschmückt wird. Befehl und Gehorsam bilden den vertrauten Rahmen, in dem er über dreißig Jahre alt wird, bevor er, anders als sein Vater und seine Brüder, die das„von“ vor ihrem Namen tragen, heraussteigt, um sich gegen Befehl und Gehorsam und jenes Gebot, das dem Christen das Töten verbietet, zu erheben und dem Verbrechen und Verführer zu widerstehen. Der zu Vernichtende kommt davon, nicht so der vierte Sohn seines Vaters, des Soldaten. Der als Hoch- und Vaterlandsverräter Hingerichtete gewinnt durch den verlorenen Krieg und die historische Interpretation seines Handelns postum Ruhm, Ehre und national verordneten Respekt.


    Sie ist die einzige Tochter ihres Vaters, des Lehrers und ihrer Mutter, der Hausfrau, die sie die Werte der neuen Republik lehren, das Vertrauen auf die atlantischen Sieger- und Hilfsmächte, den Glauben an die wiedererstarkte, raumfüllende und meinungsprägende Kirche und nicht zuletzt die Hoffnung auf einen nie zum Stehen kommenden Aufschwung der Wirtschaft und des Selbstbewusstseins eines Volkes, das überlebt hat durch Fleiß und Disziplin und Pünktlichkeit und Ordnung und Vergessen und Verdrängen. Sie hat Teil an diesem Aufschwung und darf Abitur machen und studieren, was für Töchter früher nicht üblich war, als diese allein für einen Mann er- und großgezogen wurden. Die Privilegierte bricht aus der Hängematte des Wirtschaftswunders aus und ein in Kaufhäuser und Banken. Sie haust, statt zu wohnen, solidarisiert sich, statt Karriere zu machen, entführt, statt zu arbeiten, tötet, statt Kinder zu bekommen, taucht unter, statt mitzuschwimmen, flüchtet sich schließlich hinter die schützende Mauer, um dort genau das Leben zu führen, das sie auf der anderen Seite bekämpfte, mit ahnungslosem Mann und zwei Kindern, und auch der Hund darf nicht fehlen, der genauso gleich ist wie alle Gleichen in diesem gleichen Staat. Dann brechen die schützende Mauer und der Schein zusammen, alte Fahndungsplakate werden hervorgeholt, und sie wird eingesperrt in ein Gefängnis der einigen und freien Republik, aus dem sie irgendwann entlassen wird und als Hausfrau und Lehrerin ihr Leben fristet, von Zeit zu Zeit unsanft gestört durch Journalisten und Politiker, die meinen, sich gegen die Terroristin profilieren zu müssen.


    Ich bin ein Kind meiner Eltern, eines Angestellten und einer Hausfrau, habe gelernt und studiert und verdiene mein Brot und mein Steak und meinen Computer und meine Bücher mit meist ziemlich ehrlicher Arbeit. Ich lebe als Strauch in einem eingezäunten Garten, als Strauch mit Blüten, an denen sich einige erfreuen und mit Dornen, an denen manche sich stechen. Wachse ich zu sehr und unkontrolliert, und reichen meine Zweige über den Zaun, werde ich zurechtgestutzt. Ich bin ein Kind meiner Eltern und schreibe von Zeit zu Zeit über den Zaun hinaus. Ein bisschen.

  • von Kamelin



    Da Frau K. zu Hause arbeitet, sind Störungen nicht nur lästig, sondern ein regelrechtes Ärgernis. Und wo klingeln die findigen Schüler, wenn sie in das Haus eindringen wollen? Richtig, bei Frau K.! Und die kommen nicht weniger als dreimal am Tag, und: sie kommen nicht allein. Der Postbote klingelt gegen zehn Uhr Vormittags, der DHL Mann gegen Zwölf, DPD liefert um Eins, Hermes bis Sechs.
    Und dann sind da noch die lieben Vertreter:
    „Guten Tag Frau (schielt zum Namensschild unter der Klingel) - ähm - Frau K.! Wollen sie Geld sparen?“ Nun, klare Frage, klare Antwort:
    „Nein! Ich lebe in Saus und Braus, und liebe es meine Moneten aus dem Fenster zu werfen, aber danke der Nachfrage!“ Kaum sitze ich wieder über meinem Rechner, macht es wieder Rrrrrrrrrrring! Die Tür fliegt auf, und eine Hand fuchtelt vor meinem Gesicht herum:
    „Guten Tag Frau - ähhh - (linst aufs Schild) Frau K.! Wussten sie schon, dass der Strom teurer wird?“
    „Ja, das war mir in der Tat bekannt, danke, dass sie extra deswegen vorbeigekommen sind, um mich daran zu erinnern!“ Die Tür fliegt zu, und ich versuche noch einmal, mich auf meinen Text zu konzentrieren. Was wollte ich noch gleich schreiben?
    Rrrrrrrrrrring! Wutschnaubend springe ich auf.
    „Frau K., das wurde für sie bei uns abgegeben!“ Meine Nachbarin Frau Nelke steht vor der Tür, und mein Kampfgesicht entgleitet mir.
    „Bei IHNEN - für MICH abgegeben?“ Das klingt nach einem guten Witz, doch ich nehme das Päckchen dankend entgegen. Erneut beuge ich mich über die letzte Szene, begebe mich in die Worte, lasse meine Umgebung verschwinden, löse mich auf im Wirbel der Zeilen, und höre erneut die Engel singen ...
    Rrrrrrrrrrring! Mein Herz pocht wild, ich schreie Zeter und Mordio, rase zur Tür und und und ...
    „Frau K., glauben sie an Gott?“
    „Wie bitte!“
    „Lesen sie regelmässig in der Bibel?“
    „Hä?“
    „Meinen sie nicht auch, dass Gott in der heutigen Zeit schwer zu finden ist?“
    „Gute Frau, das einzige, das in der heutigen Zeit schwer zu finden ist, ist Ruhe! Und wenn sie nichts dagegen haben...“ Ein Mann kommt die Treppe hochgelaufen und unterbricht mich.
    „Frau K.?“
    „Wer will das wissen?“
    „Haben sie schon mal ihre Telefonrechnung überprüft? Sie glauben gar nicht, was man alles sparen kann, zum Beispiel ...“
    Rrrrrrrrrrring! Mechanisch drücke ich den Öffner, als eine vertraute Stimme durch das Haus grölt
    „Päckchen für Hetzmann - Frau Frau K., nehmen sie das wieder entgegen? Sie sind ja die einzige im Haus!“ Das halte ich für ein Gerücht, und ein Blick auf die ungebetenen Zaungäste bestätigt meine Annahme.
    „Ich bin untröstlich, aber vielleicht nimmt es ja Herr Freenet entgegen oder die Dame von den Anwälten Miriams!“ Damit schliesse ich die Tür und durchforste meinen Sicherungskasten. Ein befreites Lächeln liegt auf meinem Gesicht, als ich die Klingel verstummen lasse. Ich liebe Sicherungskästen - Sicherungskästen sind toll!
    Und gleich morgen bringe ich ein Schild an meine Tür: Keine Werbung, keine Vertreter, keine Verkaufsgespräche, keine kostenreduzierneden Tipps und keine Anwälte Miriams erwünscht!

  • von Voltaire



    Da hatte man mir doch tatsächlich, wie schon unzählige Male vorher, einen gebrauchten Tag angedreht. Einen dieser schon verwesenden Zeitlappen, die nichts und niemanden von Nutzen sind und die man auch nirgendwo unbemerkt abgelegen kann, in der Hoffnung, irgendwer wird sie schon aufheben und mitnehmen. Vielleicht gibt es ja auch für abgelaufene Tage so etwas wie ein Pfandgeld, wenn man ihre verschmierte Hülle zurückbringt, wenn man mit ihnen die Löcher und Risse der vergangenen Zeit versucht zuzustopfen.


    Nun saß ich doch tatsächlich in dieser verqualmten Pinte, ein Etablissement welches sich einen Dreck um dieses unsinnige Rauchverbot kümmerte. Mein abgelehntes Manuskript lag in einer Bierlache vor mir auf dem Tresen. 700 Seiten, eng beschrieben, einzeilig und auf Absätze verzichtend, sicher keine leichte Kost, aber muss Literatur leichte Kost sein? Wird Literatur nicht erst dann zu echter Literatur wenn sie niemand so recht begreift? Trotzdem war jedes Wort für sich, jede Zeile ein eigenes, man möchte fast sagen, Evangelium des Wissens, die Vision für eine bessere Welt. Und das Ganze von mir geschrieben, von mir, diesem Menschen, den man wie einen räudigen Hund aus dem Verlagshaus gejagt hatte. Sie hatten nichts verstanden, sie waren nicht einmal bereit gewesen auch nur eine Seite zu lesen. Ignorantenpack! Literaturfaschisten!


    Schnell kippte ich den Rest des schon schalen Biers in meinen alkoholerprobten Schlund. Mein Blick fiel auf den Barhocker neben mir. Ein weiteres Mal wurden die Beine provozierend übereinander geschlagen und irgendwie schaffte es der Rocksaum noch ein kleines Stück höher zu rutschen. Die zellulitisverformten Oberschenkel schienen mich anzulächeln, aber es war ein zahnloses, ein kaltes Lächeln, ein Lächeln das nichts versprach aber trotzdem umso mehr Erwartungen weckte. Meine Hand war höchstens noch einskommazwei Promille von diesen Oberschenkeln entfernt. Das Versagen und die verzweifelte Einsamkeit auf dem Wege zueinander, die seelenlosen, promillegefühlten Irrlichter dieser Nacht für ein paar Stunden – vielleicht – in kuriosen Verrenkungen sich vereinigend? Wer weiß, wer vermag die Grenzen zu erkennen?


    Nun war es aber höchste Zeit, die einskommazwei Promille lange Wegstrecke bis zu diesen deftigen Oberschenkeln schnellstens zu überwinden; Wodka hieß das Zauberwort, welches mir dabei helfen könnte, die Oberschenkel………..

  • von Wilma Wattwurm



    Morgen darf ich nachhause. Der Arzt war gerade da. Ich bin genesen, sagt er.
    Jippie, endlich! Es ist vorbei.
    Nie wieder Erdbeeren!


    Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen.


    Es war Karneval und wie immer ließen Janine und ich keine Gelegenheit aus, um die Häuser zu ziehen.
    Schon solange wir uns kennen, seit dem Kindergarten, sind wir richtige Karnevalsfreaks, sie noch mehr als ich.
    Das mit den Erdbeeren war ihre Idee gewesen.
    Ursprünglich wollte ich ja als Angela Merkel gehen, aber Janine meinte: „Nee, nee, das zieht nicht bei den Männern. Wir müssen uns was Pikanteres einfallen lassen.“


    Zugegeben, das mit den Erdbeeren war genial. Janine suchte die Stoffe aus und setzte sich an die Nähmaschine. Rote Ballonkleider verziert mit goldfarbenen Pailletten und grüne kelchförmige Filzkappen mit Stiel. Dazu trugen wir rote Strumpfhosen und Armstulpen in derselben Farbe. Und dann der Lippenstift. Geil. Strawberry. Mit echtem Erdbeergeschmack.


    Keine Frage - wir waren der absolute Renner. Die männlichen Jecken umschwirrten uns, ihr fast hysterischer Eroberungsdrang war kaum zu bremsen.
    So tanzten und flirteten wir uns als Erdbeeren von Kneipe zu Kneipe, von Party zu Party, Ausgelassen, feuchtfröhlich, aufgedreht, närrisch. Es war Karneval und die Welt wollte auf den Kopf gestellt werden.


    Am Rosenmontag ist es dann passiert.
    Wir waren noch groggy von der letzten Nacht und um die Müdigkeit zu vertreiben, holte Janine ihre Pillendose hervor. Das Zeug hatte bisher immer geholfen, ein Tief zu überbrücken und ich machte mir daher auch diesmal keine Sorgen. Gierig nahm ich zwei von den kleinen rosaroten Dingern und spülte sie mit meiner Rum-Cola hinunter.
    Schon bald war ich super gut drauf und fühlte mich beschwingter denn je. Ich ritt auf einer hohen Euphoriewelle, die nicht enden wollte.
    Dann auf einmal: Black-out.


    Wie lange diese Finsternis dauerte, weiß ich nicht. Irgendwann wurde ich wach. Ich lag im Bett und alles roch nach Erdbeere, so penetrant, daß mir gleich wieder die Sinne schwanden.


    Als ich zum zweiten Mal wach wurde, lag ich, wie ich später feststellte, bereits in der Klinik.
    Noch immer roch alles nach Erdbeeren und ich fühlte mich auch so, weich und wehrlos. Etwas stimmte nicht: Ich war in meinem Kostüm steckengeblieben, konnte nicht mehr zurück. Ich war eine Erdbeere.
    Angst, befiel mich. Angst, jemand könne mich aufessen.


    Die Tage vergingen, langsam gewöhnte ich mich an mein Schicksal. Weiße Kittel, unzählige Spritzen, ich ließ es über mich ergehen.
    Irgendwann kamen die Fruchtfliegen. Das war die schlimmste Zeit. Das juckte höllisch. Auch wenn ich mich tief unter die Decke verkroch, sie fanden mich.


    Erst als ich anfing, zu faulen und zu stinken, blieben sie weg. Nun brauchte ich auch keine Angst mehr vor dem Aufgegessenwerden zu haben.


    Allmählich faßte ich Vertrauen, zu den Schwestern, zu den Ärzten, zu den Therapeuten.


    Es hat Monate gedauert, doch jetzt bin ich wieder Ich. Zwar benötige ich weiterhin Antipsychotika, aber ich darf nachhause.


    Morgen werde ich entlassen.
    Nie wieder Erdbeeren.
    Nur gut, daß ich nicht wie urpsprünglich geplant als die Merkel gegangen bin. Da hat unsere Bundeskanzlerin wirklich Glück gehabt.

  • von Sabine_D



    Mein neuer Kollege heißt Ralf und ist jetzt schon seit über 2 Monaten bei uns in der Firma.
    Er ist sehr nett und sieht verboten gut aus. Die anderen Kolleginnen sind jetzt auffallend oft in unserer Abteilung. Vor allem seit bekannt ist, dass er Single ist. Er schäkert dann immer mit ihnen, aber mehr scheint da nicht zu laufen.
    Oft schaut er zu mir und lächelt mich an, einfach so, ohne besonderen Anlass. Ich lächle dann zurück und natürlich fühle ich mich sehr geschmeichelt. Ich wäre keine Frau wenn ich es nicht täte.
    Ralf reißt mich aus meinen Gedanken und fragt: „Gehst du morgen auch auf die Faschingsparty?“ „Ja“, erwiderte ich. „Ich habe mich gleich als eine der ersten eingetragen. Ich freu mich schon sehr auf die Feier. Und du? Gehst du auch mit?“ „Ja, ich werde auch kommen. Ich weiß noch gar nicht, wie ich mich verkleiden soll, “ meinte Ralf grübelnd. „Ach, dir wird bestimmt noch etwas einfallen. Ich werde als Wilma Feuerstein erscheinen“ gluckste ich.
    Am Samstag stehe ich mit einem Glas in der Hand und dem künstlichen Knochen im Haar an der Bar als Fred Feuerstein alias Ralf in der Tür erscheint. Laut lachend gehe ich auf ihn zu. „Hallo Fred“ kichere ich ihm zu. „Wiiiiiilma“ kommt es zurück. Laut lachend fallen wir uns in die Arme. Den ganzen Abend über amüsieren wir uns prächtig. Unseren Platz an der Sektbar verteidigen wir hartnäckig mit allen Mitteln. Ralf und ich flirten was das Zeug hält, und ich gestehe, dass es mir richtig gut tut. Sicherlich hat auch der getrunkene Sekt einen Anteil daran, dass ich das so unbefangen genießen kann. „Komm“ flüstert mir Ralf ins Ohr. „Lass uns hier verschwinden.“ Unsere Gläser festhaltend verlassen wir fast fluchtartig die Party und fahren mit dem Fahrstuhl in unser Büro hinunter. Kichernd zieht Ralf eine weitere Flasche Sekt aus dem Schreibtisch uns schenkt uns nach. Dann sieht er mir fest in die Augen und kommt mit seinem Gesicht ganz nah an meines heran. Ich versinke fast in seinem Blick und mir werden die Knie weich. Ein Kribbeln macht sich in meinem Bauch breit. Ist das jetzt die Kohlensäure oder Ralf? Er nimmt mir das noch fast volle Glas aus meiner Hand und stellt es auf dem Schreibtisch ab. Dann küsst er mich zärtlich auf den Mund. Leidenschaftlich erwidere ich seinen Kuss und dränge mich an ihn. Seine Erregung ist deutlich zu spüren. Seine Hände begeben sich auf Wanderschaft unter mein Kostüm. Sind es seine kalten Hände, die mich hart auf den Boden zurück bringen? Ich weiß es nicht, aber auf einmal habe ich das Bild von meinem Mann vor Augen. Und das Versprechen der Treue, das wir uns gegenseitig gegeben haben.
    „Sorry, es tut mir leid“ sage ich zu Ralf. „Bitte lass mich gehen, das hier darf und wird nie wieder geschehen. An diesem Punkt muss Schluss sein.“ Ralf nickt mir mit traurigem Blick zu und ich verlasse das Büro.

  • von Sinela



    „He Süße, lange nicht gesehen. Wie geht es dir denn so? Hast du deinen Traummann inzwischen gefunden oder bist du immer noch solo?“
    Gaby holte Luft, um zu antworten, hatte aber keine Chance gegen Lisas Redefluss. „Dachte ich es mir doch, ist auch kein Wunder bei deiner Figur. Wird Zeit, dass ich dich unter die Fittiche nehme.“
    „Ist wirklich nicht nötig, denn....“
    „Nicht nötig, nicht nötig – auf welchem Planeten lebst du denn? Wenn du dein Leben nicht als alte Jungfer beschließen willst, dann hörst du mir jetzt gut zu, denn ...“


    Während Gaby sich zum wiederholten Male fragte, was sie hier eigentlich tat, trat sie mit Feuereifer in die Pedale des Rades, auf dem sie saß. Der Schweiß lief ihr in Strömen am Körper hinunter und würde ihr Traummann jetzt an ihr vorüberlaufen, dann würde er wohl vor ihrem intensiven Körpergeruch die Flucht ergreifen. Hätte ich mich doch bloß nicht von Lisa bequasseln lassen, ich bin einfach zu gutmütig, dachte sie.
    „He Süße, na wie geht es dir? Mensch, du hast ja schon ein bisschen abgenommen. Immer weiter so!“ Gaby lächelte und fragte sich im Stillen, wieviele Kalorien sie wohl verbrennen würde, wenn sie Lisa ein paar Mal in ihren ach so schlanken Arsch treten würde!


    Genussvoll ließ sich Gaby das Stück Nusstorte auf ihrer Zunge zergehen. Viel zu lange hatte sie auf solche leckeren Sachen verzichtet.
    „Gaby? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Weißt du, wieviele Kalorien in dem kleinen Stück Torte stecken? Da kannst du 1 kg Paprika für essen!“
    „Ich will aber keine Paprika essen, mir hängt das ganze Grünzeugs zum Hals raus!“ Mit einem Seufzen setzte sich Lisa auf einen Stuhl an Gabys Tisch.
    „Ich verstehe es nicht, du hattest doch schon abgenommen mit der von mir empfohlenen Diät. Und das Fitnessstudio war das I-Tüpfelchen, um deinen Körper perfekt zu machen.“
    „Vielleicht will ich ja nicht perfekt sein! Und deine Diät – ich konnte nachts nicht schlafen vor Hunger. Und den ganzen Tag über kreisten meine Gedanken nur um`s Essen. Am Sonntag habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin spazieren gegangen. Wie ich so vor mich hinschlendere, verwandeln sich die Wiesen plötzlich in grüne Bandnudeln. Und bevor ich überhaupt wusste, wie mir geschah, saß ich auf dem Boden und stopfte Gras in mich hinein! Und genau in diesem Augenblick kam mein absoluter Traummann: Jung, schlank, lange braune Haare und strahlend blaue Augen. Er blieb neben mir stehen und fragte mit einem ironischen Grinsen, ob er mir vielleicht helfen könne. Ich klärte ihn darüber auf, dass ich nur Grünfutter für meine Meerschweinchen sammle. Seine Antwort: Ach, und da testen Sie vorher, ob es auch schmeckt? Sehr lobenswert. Ich hätte im Boden versinken können.“
    „Solche Rückschläge kennt doch jeder, man muss...“
    „Nein, muss man nicht. Ich für meinen Teil habe die Grenzen meiner Leidensfähigkeit erreicht und beschlossen, dass ich mich so mag wie ich bin, egal was die anderen Leute sagen. Und falls du es noch nicht wissen solltest: Rund ist gesund!“

  • von Irrstern



    „Mira, das ist verrückt. Hör mir doch zu … Mira?“
    Ohne zu antworten lege ich auf, weil es sinnlos ist, mein Vorhaben noch weiter erklären zu wollen. So sehr ich meinen Bruder auch liebe, er versteht mich nicht. Genau wie unsere Mutter nicht mit Dads Wanderleben zurechtkam. Von Stadt zu Stadt, alle Habseligkeiten in seinem alten Mustang verstaut. Sie ließen sich kurz nach meiner Geburt scheiden, aber Dad kam oft vorbei und erzählte mir von seinen Abenteuern, denn Sören konnte und wollte ihm nicht verzeihen. Wenn sie doch miteinander sprachen, dann endete es im Streit und einmal sagte mein Vater etwas, dass ich wohl nie vergessen werde. „Mein Leben ist weder besser, noch schlechter, bloß anders als deins.“
    Daran denke ich, während unter mir die Brandung gegen die Felsen schlägt. Am Himmel kreisen ein paar Möwen, sonst bin ich allein und selbst der Wind schläft noch.
    „Kein Grab für dich“, sage ich leise. „Nur du und das Meer, Dad. Ich glaube, das hätte dir gefallen.“
    Aus meinem Mustang hole ich die Urne und lasse seine Asche ins Wasser fallen.

  • von kamikazebaer



    Es war Spätnachmittag, der Himmel erstrahlte in einem paradiesischem Blau, nur hier und da mit ein paar Schäfchenwolken gesprenkelt. Ich hatte mir meinen freien Tag redlich verdient. Eigentlich wollte ich gerne ein paar Runden drehen, was uns jedoch wegen der erhöhten Auffälligkeit mal wieder strengstens untersagt war. Also blieb mir nichts anderes übrig, als träge in einer Hängematte liegend, den Tag zu genießen und „Gott einen guten Mann“ sein zu lassen. Gerade wollte ich mich umdrehen um das vorbeiziehende Wolkenschloss nicht aus den Augen zu verlieren, als aus weiter Ferne ein leises Piepsen zu hören war, welches zu einem stetig lauterwerdenden Dauerpfeifen anschwoll. Bevor ich mich darüber aufregte wer von meinen Kollegen so unzuverlässig war, seinen Notfallpager nicht bei sich zu tragen, wurde mir bewusst, dass da Sarah McLachlan’s „Angel“ an mein Ohr drang. Da diese Melodie nur von mir benutzt wurde, verhieß das nichts Gutes.
    Flink sprang ich aus der Hängematte. Von der Erkenntnis angetrieben, dass es sich um einen Notfall für mich handelte, war ich sehr schnell auf den Beinen.
    Wie der Wind eilte ich in die Einsatzzentrale um festzustellen, wem ich diesen Notfall zu verdanken hatte. Natürlich, wie hätte es auch anders sein können. Der tollpatschige Theo, mein „Lieblingsklient“.
    Hastig suchte ich den Radarbildschirm nach Theo’s Aufenthaltsort ab um ihm schnellst möglich aus der Patsche helfen zu können.
    Da endlich!
    Hauptstraße – Alles klar!
    Irgendwie hatte ich auch nichts anderes erwartet.
    Theo begab sich nie in eine harmlose Gefahr. Bei ihm bedurfte es immer des größtmöglichen Einsatzes. Ich legte den Turbogang ein und flog so schnell ich nur konnte zur Kreuzung, an der mein unbedarfter Schützling die Straße überquerte. Er war sich der drohenden Gefahr nicht bewusst. Der Bus rollte mit unverminderter Geschwindigkeit näher. Im rasenden Sturzflug sauste ich dem Asphalt entgegen. Kurz vor dem Aufprall eine Rolle in die Horizontale. Noch eine kleine Kurve und ich geriet gerade noch rechtzeitig zwischen Theo’s Füße. Er stolperte, fiel auf die Straße und entging damit dem rechten Vorderreifen des Busses nur um Haaresbreite. Wir rappelten uns auf und Theo schlug sich den Staub von den Kleidern. Um uns herum eskalierte der Tumult der Augenzeugen.
    Während Theo von all dem überhaupt nichts zu bemerken schien, blickte er mir direkt in die Augen und bedankte sich für seine Rettung.
    Mir lief ein Schauer über den Rücken. Mir war unbehaglich! Konnte das sein? Theo konnte mich doch unmöglich gesehen haben. Wir sind doch für das menschliche Auge unsichtbar.
    Oder?
    Erstaunt begann ich zu grübeln. Hatte ich unvorsichtig gehandelt? Wurde deshalb der irisierende Schleier für einen Augenblick durchsichtig?
    Mittlerweile hatte sich der Trubel auf der Straße gelegt. Immer noch grübelnd stieß ich mich vom Boden ab und brauste so schnell wie möglich zurück zu meiner Hängematte, nur noch der Kondensstreifen am Himmel deutete auf den Noteinsatz hin.