Gespenster sehen - Marie Darrieussecq

  • OT: Naissance des fantômes - 1998



    Ein junges Ehepaar, sie, er, beide namenlos, seit sieben Jahre verheiratet. Er geht abends noch schnell zum Bäcker, etwas, das er oft tut. Dieses Mal jedoch kommt er nicht zurück.
    Ein Krimi? Eine Ehegeschichte? Ein psychologischer Roman? Die Fabel vom Fall und Neuaufstieg einer verlassenen Frau? Nichts dergleichen.
    Was Marie Darrieussecq den Leserinnen und Lesern in ihrem zweiten Kurz-Roman bietet, ist die Geschichte einer Metamorphose, wieder. Es scheint das Thema zu sein, das sie beschäftigt. Darüberhinaus ist es eine Studie der Leere, nämlich der, die entsteht, wenn aus dem Leben eines Menschen etwas verschwindet, auf das er gewohnt war zu bauen. Ein Teil seiner selbst, etwas, das so wichtig und zugleich so normal war, wie etwa ein Arm oder ein Auge.


    Die Ich-Erzählerin stürzt kopfüber in diese Leere. Dadurch wird die Leere zu einem Raum, zu etwas, das die Ich-Erzählerin umgibt und sie zugleich anfüllt. Die Leere als Ersatz für die Fülle. Die Ich-Erzählerin berichtet von dieser Umwandlung genau, sie protokolliert jede Veränderung. Es ist keine Beschreibung von Seelenzuständen, von Gefühlen, obwohl diese durchaus auftreten. Angst etwa und Wut, das Gefühl des Verlassenseins, der Hilflosigkeit und immer wieder die Hoffnung, daß der Ehemann zurückkehren wird.


    Darrieussecq beschreibet auf diesen ca. 150 Seiten Empfindungen von der Veränderung eines gesamten Kosmos. Die Gemeinschaft mit dem Ehemann ist abrupt zuende, die Welt nicht mehr die, die sie eben noch war. Das hat Auswirkungen nicht nur auf das Körpergefühl der Ich-Erzählerin, sondern auf ihre Wahrnehmung der gesamten gegenständlichen Welt. Die Dinge sind nicht mehr das, was sie waren. Der gemeinsam gekaufte Tisch etwa wird ein Häuflein Moleküle, die sich auflösen und zusammensetzen, das Bett zu Luftströmen. Wände fangen an sich zu bewegen, Räume werden enger und weiten sich, die Zeit selbst faltet sich auf und zu. Tageszeiten, Licht, Materie, alles ist ins Schwimmen geraten.
    Ebenso fremd wird der eigene Körper. Leere breitet sich in seinem Inneren aus, so stark, daß sie Schmerzen bereitet. Was Substanz war, zerfließt, Naturgesetze ändern sich, Nachgiebiges wird zudringlich, Geraden krümmen sich, werden zur Spirale, die sich in die Unendlichkeit erstreckt.


    Die Verwandlung wird mit sehr eigenen Formulierungen und Vergleichen geschildert, die zuweilen so neu und gelungen sind, daß einem beim Lesen die Welt wirklich vor den Augen zu flimmern beginnt. Die Schilderung eines Tagesanbruchs, z.B., den man Sonnenstrahl für Sonnenstrahl verfolgen kann, über die Dächer der Stadt, die Wände entlang bis in die Wohnung der Erzählerin. Ein Abend, an dem sich die direkte Umgebung, ein Vorgarten, in eine Unterwasserwelt verwandelt, und überhaupt die Spaziergänge am Strand. Das Meer in seiner Unergründlichkeit und Weite wird zum einen Gegenpol des sich langsam auflösenden Bodens unter den Füßen. Sand und Salz, Schaum und Wind und fremdartig erscheinende Lebewesen, ein ewiges, rätselhaftes Grau. Dazu der Kosmos, die Sterne, die physikalischen Gegebenheiten von Zeit und vor allem von Licht. Aber auch sein Gegenpart, die Schatten. Die Beschreibungen von der Ausbreitung und dem Verhalten der Schatten gehört ebenfalls zu den wirklich großartigen Stellen in diesem Buch.


    Die ‚Realität’ spielt auch ihre Rolle. Die Polizei taucht auf, die Freundin, die Mutter, die Schwiegermutter. Aus den kurzen Hinweisen auf die - vermeintlich? - tatsächlichen Abläufe des Geschehens lassen sich Rückschlüsse auf den Ehemann, die Ehe, den Charakter der Erzählerin und ihre Familiengeschichte ziehen. Hin und wieder war mir das dann schon wieder zu erdgebunden, Probleme mit der Mutter, das Unglück, nie von ihrem Mann schwanger geworden zu sein. Die Berührung mit der Realität illustriert aber zugleich auf sehr packende Weise das Unvermögen der anderen, mit dem Verlust, den eine der ihren erlitten hat, umzugehen. Ein echte Kommunikation ist nicht mehr möglich. Dies vor allem deshalb, weil der Grund des Verlustes nicht geklärt werden kann. Mit einem ewigen Rätsel kann man nur leben, wenn man es wegdrängt.


    Für die Erzählerin scheint es unmöglich, in die Welt zurückzukehren. Sie hält zunächst eine Fassade aufrecht, hinter der sie abwechselnd versucht, zu verstehen, was geschehen ist, in der sie zeitweise stellvertretend für ihren Mann lebt, in dem sie etwa sein Büro übernimmt, in der sie sich bemüht, die Frau zu werden, die sie vor der Ehe war. Als ob man nahtlos an die Vergangenheit anknüpfen könnte.
    Ihre Wahrnehmung aber hat sich völlig geändert und so gebären die Schatten aus Licht, Luft und tanzenden Molekülen schließlich die Gespenster. Das Gespenst also als Ergebnis einer grundlegenden Veränderung von Zeit und Raum. Ein Gespenst ist der Ehemann, das Ende legt den Gedanken nahe, daß auch die Frau auf ihre Art zum Gespenst geworden ist.
    Hier ist auch der französische Titel etwas genauer als der deutsche, diese Gespenster entstehen, werden geboren. Aus der Phantasie, der veränderten Empfindung, man sieht sie nicht nur, sie kommen aus einem selbst heraus.


    Sehr eigene Lektüre, zuweilen recht intellektuell. Vieles ist großartig gedacht und beschrieben. Die Atmosphäre ist die der Trauer, keineswegs des Grauens, auch wenn manche Verschiebungen unheimlich genug sind. Der Aufbau des Texts mit seinen Einschüben und reflektierenden Betrachtungen aus der Rückschau der Ich-Erzählerin, stört allerdings zuweilen den Lesefluß. Manche Gewichtung der einzelnen Themen schienen mir ein wenig unausgewogen, einige Erscheinungen, die die Erzählerin durchlebt, bleiben mir unverständlich. Eine gewisse Distanz war beim Lesen immer da. Da die Einschübe Rationalisierungsversuchen der Erzählerin gelten, scheint die Distanz gezielt ausgelöst zu sein.


    Es ist müßig, darüber zu grübeln, ob sich das wirklich abgespielt hat, was die junge Frau berichtet, ob sie eine Ehekrise, eine Identitätskrise hat, ob es die peinlich genaue Beschreibung davon ist, wie man Verlust empfindet oder ob sie verrückt wird. Ver-rückt wird hier die Welt und sich auf die Beschreibung einer so umfassenden Veränderung der Welt, der Empfindung, einer einzigen Person einzulassen, lohnt sich.


    Die gebundene Ausgabe von Hanser ist übrigens sehr schön und die Übersetzung des sicher recht komplizierten Stils liest sich ausgezeichnet.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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