'Professor Unrat' - Kapitel 02

  • Unrat ist verwundert, dass ihm ihr Aufenthaltsort nicht genannt wird. Seine verquere, unratsche Logik: Wenn ihm seine Schüler schon nicht die Verse Vergils korrekt aufsagen konnten, müssten sie zumindest über die Künstlerin Fröhlich Bescheid wissen.
    Er unterscheidet seine Schüler nur in die Kategorien des Primus und den Versagern, die verworfene für ihn sind und deshalb ihre Zeit in der Halbwelt verbringen müssen. Dass sie ein ganz normales Leben führen, kann er sich nicht vorstellen. Dazu ist der Abstand zwischen ihm und der Rest der Welt zu groß.


    Unrats Weltbild ist total verschoben. In seiner Umwelt vermutet er nur Bedrohung. Ehemalige Schüler, die ihn nicht grüßen, sogar die Umwelt gegen ihn aufhetzen und ihm seinen Namen geben.


    Heinrich Mann macht das geschickt mit den Perspektiven. Wenn z.B. ein ehemalige Schüler Unrat überhaupt nicht hasst, sonder gleichgültig ihm gegenüber oder sogar wohlwollend an seinen ehemaligen Lehrer und Schulzeit zurückdenkt. Unrat wäre mehr als verblüfft, denn er geht grundsätzlich von Hass und Feindschaft aus.


    Dieser Aspekt des von der Gesellschaft entfremdeten Individuums interessiert mich am meisten am Buch. So ein Protagonist ist in der Literatur weit verbreitet, aber sonst ist er in der Regel nicht lächerlich gestaltet, ich denke da z.B. an Harry Haller in Hermann Hesses Steppenwolf.

  • :write


    Ich finde es interessant zu sehen, dass Unrat sich außerhalb der Schule genauso verhält wie innerhalb. Er versucht, mit den Leuten in der Stadt so umzugehen wie mit seinen Schülern, was aber nicht funktioniert. Deshalb kommt er wohl zu dem Schluss "Mit dem Volk war keine Verständigung möglich: er hatte die Erfahrung gemacht" (S. 32)


    Das Lächerliche und auch das Mitleid entsteht vielleicht durch die Ohnmacht von Unrat. Denn er kann ja keinen "hineinlegen", der nicht mehr sein Schüler ist.

  • Trotzdem ist Unrat kein unglücklicher Mensch. Er ist überzeugt, zu den höheren und Mächtigen zu gehören und gestaltet seine kleine Welt, er kämpft seinen einsamen Kampf. Mit seinem ruhigen Privatleben als Witwer, der seine Frau gewiss nicht vermisst und der Trennung von seinem "verworfenen" Sohn hat er sich ganz gut eingerichet.
    Nur seine künftige Beziehung zu Marlene Dietrich, äh ich meine Rosa Fröhlich kann seinen üblichen Trott verändern.

  • Ja, das stimmt. In seinem "verschobenen Weltbild" - wie du es genant hast - gehört er zu den Mächtigen und er fühlt sich überlegen. Der Kampf füllt sein Leben aus.


    Gut, dann entsteht das Lächerliche möglicherweise durch die Diskrepanz der Unratschen Wahrnehmung mit der "realistischen" Wahrnehmung, die auch der Leser hat. Und das Mitleid durch die Tatsache, dass Unrats Machtposition außerhalb der Schule gegen Null tendiert.


    Ich vermute, wenn wir Unrat nur in der Schule agieren sehen würden, wie er seine Schüler "hineinlegt", ein Jahr wiederholen lässt, Schulkarrieren verbaut etc. käme kein Mitleid mit ihm auf. Oder? :gruebel

  • Ich habe kein Mitleid mit Tyrannen, mögen sie noch so traurig wirken. Interessant finde ich ihn schon. Meine Sympathie mit der Figur entsteht eigentlich erst später.


    Ein Glück, dass diese Situation in unserer Gesellschaft heutzutage anders ist. Heute ist alles in Ordnung. Solche Lehrer (oder Vorgesetzte) gibt es nicht mehr. :grin


    Im Netz sind Vergleiche des Romans zu Pennälergeschichten wie Feuerzangenbowle oder schlimmer, die klamottigen Filme mit Peter Alexander und Theo Lingen aus den 70zigern zu finden.
    Diese Meinung lehne ich ab. Unrat ist eine ganz eigene, eigentlich humorlose Figur. Es ist Heinrich Mann zu verdanken, dass er mit Witz rüberkommt.

  • Ist Lübeck als Handlungsort klar erkennbar und kommt es schlecht weg durch den Roman?
    Heinrich Mann ist in Lübeck geboren. Es gibt das Hafenmilieu und den Dialekt (Plattdeutsch).
    Also müsste es Lübeck sein, erwähnt wird es im Roman aber, glaube ich, nicht.


    Hier ein Link zu Auf den Spuren des Films Der blaue Engel in Lübeck, der für Lübeck als Originalschauplatz des Romans spricht:
    www.learn-line.nrw.de/angebote/leselust/pdf/engel.PDF


    Lübeck hat eigentlich trotzdem meine Sympathien, zum Beispiel durch das Buddenbrook-Haus.

  • In meinem Buch gibt es am Ende eine 3seitige editorische Notitz. Dort steht u.a., dass im Nachlass von Heinrich Mann (Stiftung Archiv der Akademie der Künste zu Berlin) keine Manuskripte oder Notizen zu "Professor Unrat" vorhanden sind. Nur dass Mann seinem Lübecker Schulfreund Ludwig Ewers folgendes berichtet hat: "Jetzt soll eine höchst ausfallende Geschichte in Druck gehen; weniger erotisch als geistig ausfallen. Ich hoffe sie Dir im März schicken zu können. Sie spielt übrigens in Lübeck, und Du wirst 'den Lehrer', zu meinen Zwecken verarbeitet, darin wiederfinden. Das war die Arbeit des Sommers."


    -

  • Diese Notiz finde ich sehr interessant.
    Ich finde, man merkt es dem Text an, dass Mann sehr wenig Distanz haelt, dass sein Erzaehler sich mit ereifert. Dass der Unrat ein lebendes Vorbild aus Manns Umfeld hatte, erklaert mir vieles daran - und ich blide mir ein, hier das Fruehwerk, den unreifen Roman zu erkennen.
    Was meinem Vergnuegen daran keinen Abbruch tut.


    Interessant finde ich Herrn Palomars Einschaetzung, der Unrat sei kein ungluecklicher Mensch. Ist er aber zu einer Art von Glueck faehig bzw. wuerde sein Verfasser ihm das zugestehen? Ich muss sagen, dass ich ihn - trotz seiner Duenkel - fuer eine als zutiefst ungluecklich dargestellte Figur halte, ja, dass Mann bei mir den Eindruck erweckt, er wuerde dieser Figur auch nicht das Kleinste "gelingen", zum Glueck gereichen lassen.


    Herzliche Gruesse von Charlie

  • Zitat

    Original von Charlie
    Interessant finde ich Herrn Palomars Einschaetzung, der Unrat sei kein ungluecklicher Mensch. Ist er aber zu einer Art von Glueck faehig bzw. wuerde sein Verfasser ihm das zugestehen? Ich muss sagen, dass ich ihn - trotz seiner Duenkel - fuer eine als zutiefst ungluecklich dargestellte Figur halte, ja, dass Mann bei mir den Eindruck erweckt, er wuerde dieser Figur auch nicht das Kleinste "gelingen", zum Glueck gereichen lassen.


    Ich fasse es so auf: Unrats einzigen Erfolgsmomente sind, wenn er wieder einen fasst oder einen verhassten Schüler in seiner Karriere behindert. Diese Erfolgserlebnisse sind sicher keine Glückserlebnisse.
    Ansonsten ist mit seiner Position zufrieden und hat sich in seinem ruhigen, ereignislosen Privatleben eingerichtet.Er empfindet sonst nichjt viel.
    Natürlich ist Unrat kein glücklicher Mensch, aber dadurch, dass er außerhalb der Gesellschaft lebt, kennt er viele für die meisten Menschen bekannte und gewohnte Gefühle nicht (zu diesem Zeitpunkt im Roman) und ist sich des Mangels, seines Unglücks nicht bewusst. Allerdings leben einige Menschen so.


    Ob Unrat später durch seine Bekanntschaft zu Rosa annähernd glücksfähig wird (dass würde auch bedeutend, er wird dann auch Unglück spüren), kann in den späteren Teilen gelesen werden.

  • Grundsaetzlich stimme ich vielen Deiner Punkte zu - aber gibt es denn dieses ruhige, ereignislose Privatleben? Ist denn nicht alles, was Unrat "lebt", gepraegt von der einen Besessenheit (siehe z.B. Behandlung des Sohnes und der Witwe)?


    Zu Rosa spaeter!


    Herzliche Gruesse von Charlie

  • Hab ich Euch jetzt alle vergrault?


    Oder wollen wir spaeter nochmal anfangen, weil's jetzt irgendwie nicht so klappt?


    Ich fand es jedenfalls herrlich, dem Buch nach so vielen Jahren wiederzubegegnen und haett' gern noch mehr Mann (oder auch noch mehr Maenner) mit Euch gelesen.
    Jetzt oder wann immer es Euch besser passt.


    Alles Liebe von Charlie

  • Zitat

    Original von Charlie
    Hab ich Euch jetzt alle vergrault?


    Charlie, DU hast doch niemanden vergrault! :knuddel1


    Bei der geringen Teilnehmeranzahl ist es schwierig. Es gibt auch noch so viele andere Leserunden, die gleichzeitig laufen.


    Sollte Professor Unrat doch noch weiter gelesen werden, bin ich aber sicher wieder dabei. Schließlich hatte ich mir extra für die Leserunde das Buch noch einmal neu gekauft. Und ich finde es auch noch immer genauso gut wie beim ersten Mal lesen vor vielen Jahren. :-)

  • Nach einem guten Kapitel auf das zweite umzusteigen birgt viele Gefahren, nicht zuletzt durch die Erwartungen die geweckt werden. Und so bin ich gerade begeistert, denn das zweite Kapitel finde ich wunderbar. Die sich steigernde Paranoia Unrats, seine immer präsente Fehlbesetzung im Alltag (außerhalb eines Schulrahmens) ist so nachfühlbar, dass man sich ein wenig wie er selbst gehetzt von den Blicken und dem (potentiellen) Nennen des Namens fühlt.


    Begeistert hat mich besonders der Anfangs- und Schlusssatz. Grandios.
    "Auch Unrat aß (...)" Dieses Verdeutlichen, dass auch Unrat ein Mensch ist, auch er von etwas abhängt, Bedürfnisse hat, ja, eigentlich sich in nichts von den anderen Menschen unterscheidet. Der folgende Satz fängt schließlich an mit "Aber wie es alle Tage ging, warf im rechten Moment, (...) Unrat fuhr auf." Die Abgrenzung, seine (Be)Sonderlichkeit und sein gespaltenes Verhältnis zur Umwelt hebt ihn hier erneut heraus, aus dem Alltag. "Aber" schneidet hier in die Normalität ein, grenzt ab. Anstatt sich auf dem Sofa auszuruhen, wie er es vorhatte und offenbar wollte, schreckt er auf, weil die Nachbarin Geschirr hinunterfällt. Die Umwelt stört ihn, und er beachtet und missachtet sie gleichermaßen so stark, dass er sich und das, was er will/wollte, sogleich vergisst oder nicht mehr umsetzen kann. Sofort kommt der Gedanke zurück zu Lohmann und dem Heft. Die Verbindung ist nicht zufällig. Unrat fühlt sich von seiner Umwelt missachtet, sein Autorität steht ständig auf dem Spiel (wie sich in diesem Kapitel in dem Stadtspaziergang hervorragend zeigt und immens von der Intensität her für den Leser entwickelt). Die Verbindung von der Nachbarin, die sein Ruhebedürfnis missachtet (überall lauert ein unnahbarer, unfassbarer böses Wille ihm gegenüber) zu Lohmann, der für ihn gerade die Personifikation der Missachtung seiner Autorität (die er mit seiner Person gleichstellt und hierin liegt sein größtes Problem) darstellt, musste also erfolgen. Unrat will Rache. Dies treibt ihn fort aus der Wohnung.


    Der Abschluss ist tragisch und menschlich. Die Einstellung verlässt Unrat im letzten Abschnitt und führt vor Augen, wie sehr er seine Umwelt nur noch unter der Brille eines bösen Willens betrachtet - und es auch gar nicht mehr hätte anders können: "Gegen so´n Namen kann auf die Dauer keiner an."
    Unrat, der als Tyrann, Spottfigur und Sonderling vorkommt, ist letztlich auch das geworden, was die Umgebung seines Alltags beständig in ihm gesehen hat/ haben will. Hier wird gleichfalls angedeutet, dass Unrat einmal anders war, zwar schon etwas sonderlich (Anfang Kapitel eins), aber adrett und noch nicht der Unrat, der er nun ist.
    Der Lehrer ist für die Schüler die Figur des Anstoßes, der Rebellion, des Spotts, der Angst und der ewigen Feindschaft. Unrat hatte nichts außerhalb dieser Rolle, wodurch er sich hätte definieren können. Seine Ehe war ein Nutzgeschäft, sein Sohn ein Schüler (wie die anderen auch) und so recht hatte er keinen Zugang zum Leben und zu den anderen als Mensch (und eben nicht als Lehrer, als Autorität, als Standbild).
    Deswegen kann er auch nicht mit den anderen kommunizieren, wie hier bereits gesagt wurde: er meint, dass hier keine Verständigung möglich ist.
    Es ist im wahrsten Sinne des Wortes bezeichnend, dass diese ganze Entwicklung über das "Nennen des Namens" (aus seiner Sicht geht es ja sogar darum, dass sie ihm seinen (!) Namen gegeben haben. Er identifiziert sich sogar damit) geschieht. Wie Anrede und der Umgang mit dem Namen eines Menschen sind der Spiegel seiner Rolle und Anerkennung in der Gesellschaft. Sie zeugen von Respekt oder dem Gegenteil, Freundschaft oder Spott, nichts kann einem schlimmer anlasten als eine Namensgebung.
    Dass es Unrat ärgert, wie sehr sich Lohmann diesem Ritual verweigert und ihm somit seine letzte Identifikationsbasis (der Autorität) verweigert, ist bezeichnend. Er ist für Lohmann nichts. Nichtmal ein pedantischer Unrat, wie für die anderen.
    Bin auf diese Beziehungsentwicklung weiterhin gespannt!


    Interessant ist, dass die Worte, welche im Schulgebrauch (des ersten Kapitels auftauchten) hier nicht mehr in Anführungszeichen stehen. Fassen und Hineinlegen wandert immer mehr in den Normalgebrauch des Erzählers über.
    In diesem Kapitel ist mir Unrat irgendwie ... naja, man bekommt einen Zugang zu seiner Sichtweise. Er ist fast menschlich.


    Ein bisschen Probleme hatte ich anfangs mit dem Dialekt. :help

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Natürlich ist Unrat kein glücklicher Mensch, aber dadurch, dass er außerhalb der Gesellschaft lebt, kennt er viele für die meisten Menschen bekannte und gewohnte Gefühle nicht (zu diesem Zeitpunkt im Roman) und ist sich des Mangels, seines Unglücks nicht bewusst.


    Kann man nicht sogar sagen, dass Glück für Unrat keine Rolle spielt?
    In dem Sinne, weil er sein Streben und Leben auf anderes hin bestimmt.
    Er wirkt so, als mache er sich gar keine Gedanken darüber, dass er glücklich sein/werden könnte.
    Als ob es sowas für ihn nichts gibt.
    Bei den anderen nimmt er es, mein Eindruck, auch nicht unbedingt war. Er nimmt von seiner Umwelt eigentlich nur Autoritäts- und Missachtungsverhältnisse war. Wenn er einen Schüler bemerkt, wie er Angst oder ähnliches hat, dann nur in Bezug auf seine Person - falsch, seine Autorität, an die er seine Person flächendeckend bindet.
    Aber die allgemeinen Sorgen und Lustigkeiten nimmt er kaum als das, was sie sind. Ausdrücke vom Leben. Lohmanns Gedicht an Rosa sieht er sofort in derselben Missachtungseinstellung (im Hinblick auf seinen Namen).

  • Zitat

    Original von Waldlaeufer
    Natürlich ist Unrat kein glücklicher Mensch, aber dadurch, dass er außerhalb der Gesellschaft lebt, kennt er viele für die meisten Menschen bekannte und gewohnte Gefühle nicht (zu diesem Zeitpunkt im Roman) und ist sich des Mangels, seines Unglücks nicht bewusst.


    Kann man nicht sogar sagen, dass Glück für Unrat keine Rolle spielt?
    .[/quote]


    Den Gedanken kann man, finde ich, so festhalten.
    Unrat wuerde sich zweifellos weigern, dieses Wort zu definieren oder die Frage, was er persoenlich darunter verstehe, zu beantworten. Sie wuerde ihn verstoeren.
    Ja, finde ich gut, Glueck spielt keine Rolle. Unantastbarkeit schon eher.
    Interessant ist es, darauf zu achten, was sich hier verschiebt, wenn er auf Rosa trifft.


    Freut mich, dass ihr weiter mitlest! Wir muessen ja nicht jeden Tag etwas schreiben - solange wir wissen, wir "sehen" uns hier beim Unrat wieder.


    Alles Liebe von Charlie