OT: First Term at Malory Towers 1946
1. dt. Übersetzung 1965?
1946 erschien in England der ersten Band einer neuen Internatsgeschichte für Mädchen aus der damals schon längst bewährten Feder von Enid Blyton.
Blyton (1897 - 1968) schrieb seit den frühen zwanziger Jahren, zunächst Geschichten und Bücher für kleine Kinder im ersten Lesealter, dann zunehmend auch für ältere Kinder bis ca. 14, 15 Jahren. Dazu kamen nacherzählte Geschichten aus der Bibel und Bücher über Naturkunde. Bekannt waren 1946 auch schon die ersten Bände einiger ihrer Kinder-Abenteuerromane, wie die ‚Fünf Freunde (The Famous Five) oder die ‚Geheimnis’-Serie (Mystery oder Five Find-Outers) sowie eine etwas ältere Internatsgeschichte über die Zwillinge Pat und Isabel O’Sullivan, im Deutschen: Hanni und Nanni. Blytons Bücher waren so beliebt und bekannt, daß sie selbst in den papier - und energieknappen Jahren des Zweiten Weltkriegs regelmäßig aufgelegt worden waren.
Wir treffen die neue Heldin, die zwölfjährige Schülerin Darrell Rivers - deutsch: Dolly Rieder - zum erstenmal vor dem Spiegel in ihrem Zimmer. Sie bewundert sich in ihrer neuen Schuluniform. Ein schlichter Auftakt, der aber tatsächlich ziemlich raffiniert ist. Ein junges Mädchen sieht sozusagen die eigene Zukunft, die der Internatsschülerin. Noch ist sie es nicht, noch ist sie nur ein Bild, sie muß hineinwachsen in ihre neue Rolle und zusehen, daß sie die Ansprüche, die die Schule an sie stellt, auch erfüllt. Innerhalb von zwei kurzen Abschnitten ist man in der Geschichte.
Den ersten Weg in die neue Schule legt Darrell im Zug zurück, der sie, ihre Mitschülerinnen und einige der Lehrerinnen nach Cornwall bringt. Schon auf dem Bahnsteig lernt sie künftige Klassenkameradinnen kennen, die muntere Alicia (Alice), die verwöhnte Gwendolyn Mary (Evelyn) und die sehr stille Sally (Susanne). Aufgeregt, neugierig und schüchtern im gleichen Maß, tritt Darrell die Reise in die neue Schule an.
Das Leben in der Schule scheint zunächst nicht schwierig, Lernen fällt ihr leicht, sie schließt sich leicht an andere an. Das einzige, was ihr fehlt, ist eine ‚feste’ Freundin, denn das Schulleben ist nach der klassischen Zweierbeziehungen gegliedert. Eine Mädchen braucht eine ‚beste’ Freundin.
Darrell findet sie natürlich am Ende, aber erst nach einigen Verwicklungen und Irrtümern, die bis heute als recht einfallsreich gelten können. Ein Kniff, der die Hauptperson so anziehend macht, ist der, daß die Autorin sie mit einem herben Charakterfehler ausstattet, Darrell kann nämlich jähzornig werden. In dem Fall schlägt sie auch mal zu. Dazu kommt, daß sie zuweilen uneinsichtig ist, wenig Verständnis für andere zeigt und keine große Lust hat, Schularbeiten zu machen. Sportlich, gescheit, offen, aber kein Ideal, das ist Darrell.
Blyton gelingt es ungemein gut, die einzelnen Mädchen mit wenigen Strichen zu charakterisieren. Das gilt ebenso für die Lehrerinnen und Eltern. Sie läßt die Zahl der Auftretenden nur ganz langsam größer werden, hat für jede eine Kurzbeschreibung an guten und schlechten Eigenschaften parat - und beläßt es dann dabei.
Tatsächlich arbeitet sie auf engstem Raum. Es gibt nicht wirklich Spielraum, aber sie spielt innerhalb des engen Raums alle Möglichkeiten durch. Die Kunst des Minimalismus. Die Kunst der Ansammlung kleiner und kleinster Szenen im Schulalltag, ein Blick ins Klassenzimmer, einer in den Gemeinschaftsraum, einer auf die Klasse beim Schwimmen am Pool. Stereotypen, Klischees, aufs Wiedererkennen angelegt und aufs Beste eingesetzt.
Um die Handlung weiterzutreiben, scheut sie gelegentlich auch nicht vor Eingriffen als allwissende Erzählerin zurück, nicht selten wird von außen kommentiert, was gerade passiert ist. Tell, don’t show, und weiter geht’s.
Auch das Vokabular ist äußerst knapp bemessen, es gibt viele Wiederholungen, der Satzbau ist schlicht, es gibt hin und wieder einfache Pointen, ein wenig Schülerinnenslang belebt das Ganze ebenso wie die fehlerhafte Ausdrucksweise der Französisch-Lehrerinnen, die rasch zum Standard-Repertoire werden.
Das richtet sich ganz deutlich an ein sehr junges Lesepublikum, es geht um Wiedererkennen, aber auch darum, emotionale Vertrautheit zu erzeugen, vermeintliche Normalität. Wohlfühlen soll man sich, dabeisein. Mitlachen bei den Späßen und Streichen, mifiebern beim Spiel, mitleiden, wenn es mal ernster wird.
Interessant zu verfolgen in diesem wie in den anderen Büchern der Serie ist der Gedanke der Bewährung, der sich die Mädchen unterziehen müssen. Sie müssen sich in die Gemeinschaft von ihresgleichen einfügen, sich älteren Schülerinnen unterordnen, die Autorität der Lehrerinnen und der Hausmutter anerkennen und sich schließlich der obersten Autorität, der der Schulleiterin unterwerfen. Im Unterricht, in der Freizeit, im Mannschaftssport vor allem, wird das unablässig eingeübt. Gegenseitige Erziehung ist Programm und Mittel. Gefördert wird von allen Seiten, das Unterrichtsangebot ist immens, einschließlich Förderunterricht für besonders Begabte in Musik oder Sport. Was die Schule nicht leistet, leisten die Mitschülerinnen. Hilfsbereitschaft, Sozialverhalten, und natürlich jede Menge Spaß.
Strafen gibt es auch, die ‚gewöhnlichen’ durch die Lehrerinnen, Nachsitzen, Gedichte auswendig lernen, irgendwelche Sätze hundertmal schreiben. Ein erstaunlich und streckenweise unangenehm restriktives Strafsystem. Unangemessen aber kommt es einem nie vor, ein weiterer Kniff der Autorin. Sie zieht einen unweigerlich auf die Seite des Rechts und der Ordnung. Lehrerinnen wissen es eben immer besser und sie liefert den Beweis. Dazu hat sie die Geschichte ja konstruiert.
Aber auch die Klassengemeinschaft darf Strafen verteilen, wenn sie das Gefühl hat, daß jemand sich falsch verhalten hat. Eine davon ist das ‚Schneiden’, also das Verbot an alle, mit der ‚für schuldig Befundenen’ innerhalb eines festgelegten Zeitraums zu sprechen.
Das ist für Kinder eine ziemlich weitgehende Machtbefugnis. Diese Strafe trifft im ersten Band auch Darrell, zu Unrecht, wie es sich herausstellt. Im Mitleiden mit der Heldin liegt dann zugleich eine Mahnung an die Leserinnen. Da schaut her, scheint die Autorin zu sagen, wie schlimm diese Strafe ist. Geht vorsichtig damit um.
Infragegestellt wird dies Art Bestrafung aber nie.
Überhaupt wird in den Geschichten grundsätzlich der berühmte ‚common sense’, der angeblich so gesunde Menschenverstand in hohen Dosen ausgeteilt. Heutzutage liest sich das ein wenig einfach, bedenkt man aber das angezielte Lesealter, so ab 10 Jahren, ist das nicht ganz so schwerwiegend.
Und wozu das alles? Das macht die Direktorin der Schule den Schülerinnen bei ihrer Begrüßungsrede klar: verantwortungsbewußte, nützliche Mitglieder der Gesellschaft sollen die Mädchen werden, aufrecht, fair, verläßlich. Die Welt braucht sie. Ja, Mrs. Grayling (Frau Greiling) sagt:. die Welt.
Das ist schon ein weiter Blick von einer eigentlich recht simpel gestrickten Schulgeschichte aus gesehen. Für Mädchen sowieso. Sie haben also eine Aufgabe in der Welt draußen, nicht bloß in den eigenen vier Wänden zuhause. Da kann eine schon ins Denken kommen.
Anziehend an der Geschichte ist andererseits, daß die Mädchen sich recht frei bewegen, sie reiten, schwimmen, spielen Tennis und Lacrosse (in der deutschen Übersetzung Handball), machen Spaziergänge. Richtige Witze machen und auch mal laut reden und lachen ist üblich und richtig. Die Freizeit darf man überhaupt verbringen, wie man will, dafür ist Freizeit da. Auch hier also Selbständigkeit und ein Teil Selbstbestimmtheit.
Zum Schmunzeln verführt ein anderes ‚Markenzeichen’ Blytons, die Beschreibung der üppigen Mahlzeiten, mit denen die Mädchen verwöhnt werden. Für die englischen Leserinnen 1946, die noch mit Lebensmittelkarten leben mußten, war das sicher etwas, das eher an ein märchenhaftes Schlaraffenland erinnerte. Und selbst in den späten Sechzigern in Deutschland klang es noch ungemein lecker. Die creme - und marmeladegefüllten Kuchen und die Schokoladen-Kekse, die fleischgefüllten Pies mit der knusprigen Kruste, die Schinkenscheiben, die frischen Eier und der goldene Honig auf den noch warmen Brötchen zum heißen Kakao. Blytons Bücher machen immer Appetit und die Schulgeschichten sind da keine Ausnahme.
Die Bücher waren von Anfang an illustriert, die verschiedenen Auflagen zuweilen von ganz unterschiedlichen Zeichnerinnen und Zeichnern. Blyton gehört zu den wenigen AutorInnen, die sich ihre IllustratorInnen selbst aussuchen durfte. Auch die Taschenbuchausgaben sind durchgängig illustriert. Sehr oft sieht man die Mädchen in Bewegung, keine braven Dinger, die still dasitzen und hübsch vor sich hin gucken.
Für die deutsche Übersetzung wurden die Vornamen und Nachnamen der Mädchen sowie einige Namen der Lehrerinnen geändert. Dolly, muß ich sagen, ist keine schlechte Wahl, aber ein wenig niedlich im Vergleich zu Darrell. Der Name stammt übrigens von Blytons zweitem Ehemann, Kenneth Darrell Waters, und ist damit einer derer, die im Englischen beide Geschlechter tragen können. Ob das etwas über die Heldin aussagt?
Malory Towers, das stolze Schloß in Cornwall, mit den vier Türmen und dem Blick über die blaue cornische See, die Blyton so anschaulich und liebevoll beschreibt, wurde zu Möwenfels. Das gefällt mir fast besser.
Verändert hat sich auch die Farbe der Schuluniform. Steht Darrell 1946 in einer braunen Uniform mit orangefarbenem Hutband und ebensolcher Krawatte vor dem Spiegel, präsentiert sie sich in der Ausgabe des Schneider-Verlags von ca. 1965 in dunkelblau und weiß.
Geändert haben sich auch die Titel, die deutschen waren ein wenig aussagekräftiger als die Originaltitel mit ihrem :erstes, zweite usw. Jahr in Malory Towers.
Ein interessanter Auftakt zu einer recht betagten Schulgeschichte für junge Leserinnen, die erst heute so langsam aus der Mode kommt. Was aber noch keinen englische Verlag davon abgehalten hat, sie regelmäßig nachzudrucken. Den Weg in die Kinderzimmer wird sie noch eine Weile finden.