Alle Jahre wieder kann ich an Sylvester eine bestimmte Beobachtung machen: Meine männlichen Bekannten/Freunde trinken munter drauflos, sind danach sturzbetrunken und jeder hält es für die normalste Sache der Welt. Hat jedoch eine weibliche Person mal etwas zu tief ins Glas geschaut und daraufhin den Rest des Abends im Bad verbracht, wird darüber noch Monate später gesprochen und gespottet. Das ist doch wirklich nicht fair!
Und an einem zugegeben etwas albernen Nachmittag mit einer Freundin kam uns die Idee zu diesem, natürlich nicht ernst gemeinten, Brief.
Viel Spaß beim Lesen.
Was das Volk bewegt
Sehr geehrte Frau Merkel,
Sie kennen das doch bestimmt: Ein netter Empfang mit den Oberhäuptern benachbarter oder befreundeter Staaten bei dem man, um das gute Verhältnis der Länder nochmals zu unterstreichen, mit einem kleinen Gläschen Sekt anstößt… sollten die Vertreter mehrerer Länder anwesend sein und künftige Handels- oder Friedensabkommen geschlossen werden, stößt man natürlich mit jedem Land einzeln an, den politischen Verbindungen wäre es schließlich äußerst abträglich, falls ein Land sich diskriminiert fühlen würde.
Sind erwähnte Abkommen dann erfolgreich geschlossen worden, wird die ganze Atmosphäre erfahrungsgemäß etwas entspannter und man versucht mehr oder weniger diskret –die Friedensabkommen sind ja unter Dach und Fach- die meist männliche Elite der anderen Länder kennen zu lernen.
Einen diplomatischen Vorteil verschafft Ihnen die Tatsache, dass Mr. Bush Sie bei ihrem ersten Treffen als äußerst „smart“ bezeichnete, und Sie fassen den Entschluss, nicht länger der Versuchung zu widerstehen, die Bekanntschaft mit seiner facettenreichen Persönlichkeit zu vertiefen.
Der Zeitpunkt ist zu Ihrem Glück perfekt: England hat dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gerade seine Unterstützung zugesichert, falls außenpolitische Probleme mit dem Iran schnelle, wohl überlegte Maßnahmen und einen Angriff zum Zweck einer Verteidigung erfordern sollten.
Da Sie und der Präsident viele gemeinsame Interessen haben, wie zum Beispiel den Schuldenabbau der jeweiligen Länder, kommt ein Gespräch schnell zu stande.
Während Sie mit ihrem weiblichen Charme und vor allem Ihren hervorragenden rhetorischen Fähigkeiten versuchen, zur Verbesserung der Umweltpolitik beizutragen, indem Sie Mr. Bush von den Vorteilen, die eine Unterzeichung des Kyoto-Vertrages mit sich bringen würden, überzeugen möchten, werden auch die letzten Reste des Sektes aufgebraucht.
Daraufhin sieht Mr. Bush sich gezwungen Ihnen ein Glas zu reichen, das das aromatische und zu Ihrer Freude alkoholische Endergebnis der hervorragenden Agrarpolitik Ihres französischen Gastgebers betreffend der Weintraube enthält.
Der Abend vergeht wie im Fluge. Sie stellen fest, dass auch Tony Blair eine Persönlichkeit ist, bei es sich lohnt, sie näher kennen zu lernen, und ehe Sie es sich versehen sind Sie strahlender Mittelpunkt des Geschehens.
Der gute Wein hat Ihren Geist leicht und Ihre Zunge schnell gemacht.
Ihr erfrischendes Lachen perlt immer wieder und meistens ohne ersichtlichen Grund durch den Raum und Ihre etwas schlecht koordinierten Bewegungen wecken den Beschützerinstinkt der mächtigsten Männer der Welt.
Kurzum Sie sind –mit Verlaub Frau Merkel- vollkommen betrunken.
Ein Zustand der völlig natürlich und entschuldbar ist. Er macht Sie während und auch nach des Treffens nicht weiter verlegen, erinnern Sie sich doch noch gut an die letzten Verhandlungen und das –man kann es nicht anders nennen- ausschweifende Gelage Ihrer Kollegen, die sich anschließend in einem desolaten Zustand befanden.
Umso überraschter sind Sie, dass Mr.Bush Ihnen ein paar Monate später das obligatorische Sektglas mit einem verschmitzen Augenzwinkern in Richtung Mr.Blair reicht.
Der Rest des Abends verläuft ähnlich. Ein jeder, ob nüchtern oder angeheitert, meint Ihnen sagen zu müssen, nicht erneut eine so beträchtliche Menge Alkohol zu konsumieren wie Sie es einst taten; und der ein oder andere scheint es für nötig zu halten, hin und wieder eine Anekdote des letzten Zusammentreffens zum Besten zu geben… Sie spielen bei diesen kleinen, erheiternden Geschichten natürlich die Hauptrolle.
Es ist nur natürlich, dass Empörung in Ihnen aufwallt obgleich der Ungerechtigkeit, der Sie nun zum Opfer werden.
Empfang um Empfang, Verhandlung um Verhandlung, immer haben Sie sich zurückgehalten und jedes weitere Sektglas mit einem freundlichen Lächeln zurückgewiesen, während Ihre Verhandlungs- und Bündnispartner sich nicht gescheut haben, die Gelegenheit zu nutzen und sich der mehr oder weniger positiven Wirkung des Alkohols hinzugeben!
Nur ein einziges Mal habe Sie sich mitreißen lassen!
Und doch müssen Sie sich belächeln lassen!
Ich sage Ihnen, Frau Merkel: Es geht nicht nur Ihnen so!!
Bei diesem Sachverhalt handelt es sich um eine Form von Diskriminierung der Minderheit!!
Und, jawohl, Sie gehören zu dieser Minderheit… Sie und eine paar andere Frauen und Mädchen, die genau wie ihre Bundeskanzlerin ein Mal, ein einziges Mal der Versuchung des Alkohols erlegen waren und seitdem Spott, Ironie und dem ansonsten generell etwas seltsam geratenen Humor ihrer Freunde des anderen Geschlechts ausgesetzt sind, die es wiederum gewohnt sind, sich solche Fehltritte jedes Wochenende zu leisten- mit weitaus schlimmeren Folgen als ein bisschen übertriebener Fröhlichkeit und akuten Unwohlseins sobald diese Fröhlichkeit verflogen ist.
Und wir, diese Mädchen, sagen Ihnen: Lassen Sie sich das nicht gefallen!!
Sie können etwas dagegen tun!! Sie können etwas für uns tun!!
Denn auch wir anständigen Frauen haben ein Recht darauf einmal in unserem Leben „hackedicht und sternhagelvoll“ zu sein, ohne es noch Jahre danach auf die Nase gebunden zu bekommen!!
Mit freundlichen und verständnisvollen Grüßen
Eine Leidensgenossin