Michael Cunningham - Die Stunden

  • Cunningham beschreibt in diesem Buch jeweils einen Tag im Leben von 3 Frauen in den Jahren 1923, 1949 und am Ende des 20. Jahrhunderts, die alle durch Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ miteinander verbunden sind.


    1923 in Richmond, einem Vorort von London: Virginia Woolf schreibt den ersten Satz ihres Buches – das später „Mrs. Dalloway“ heißen wird – nieder: „Mrs Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen.“ Die Schriftstellerin ist auf der ständigen Flucht vor ihren Kopfschmerzen und vor dem Hören von Stimmen, die sie allmählich um den Verstand bringen. Aus diesem Grund überredete sie ihr Mann Leonard, die pulsierende Hauptstadt London zu verlassen um in Richmond zu mehr Ruhe und Erholung zu kommen. Doch Virginia ist unglücklich in Richmond, sie sehnt sich nach London zurück. Während sie die Vorbereitungen für den Besuch ihrer Schwester trifft, kreisen ihre Gedanken ständig um ihre Protagonistin Clarissa Dalloway und feilt sie den ganzen Tag am Konzept dieses neuen Werkes.


    Laura Brown ist mit dem liebevoll-biederen Kriegsveteranen Dan verheiratet und lebt mit ihrem sehr anhänglichen 3jährigen Sohn Ritchie im Los Angeles des Jahre 1949 und erwartet ihr zweites Kind. Nach außen hin muss sie sich zwingen, die von ihr erwartete Rolle als treusorgende Mutter und pflichtbewusste Hausfrau zu spielen. Doch nur sich selber gesteht sie ein, wie unbefriedigend dieses Leben für sie ist. Ihre Liebe gilt den Büchern und nimmt sie die Unpässlichkeiten ihrer Schwangerschaft zum Vorwand, um noch ein wenig länger als normal im Bett zu bleiben und Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ zu lesen, der sie sich innerlich sehr verbunden fühlt. Eine enorme Todessehnsucht prägt Laura Brown und spielt sie immer öfter mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen.


    Clarissa Vaughn kauft Blumen, denn sie hat sich bereit erklärt für ihren aidskranken Freund und ehemaligen Geliebten, dem Schriftsteller Richard, der sie liebevoll „Mrs. Dalloway“ nennt, anlässlich einer Literatur-Preisverleihung eine Party auszurichten. Aufgrund der Besucherliste werden immer wieder Erinnerungen wach und lässt sie so Phasen ihres Lebens Revue passieren.


    In jeweils abwechselnden Kapiteln erzählt Cunningham vom Innenleben der Protagonistinnen, aber auch der Personen in deren Umkreis, von Liebe, Glück und Freundschaft. Ruhig, kunstvoll, formvollendet und durchdacht verwebt er die Parallelen, die sich aus den ähnlichen Situationen und Gefühlslagen der drei Frauen ergeben. Jede möchte für sich ausbrechen, fühlt sich überfordert, kann oder will das Glück nicht erkennen. Eine latente Todessehnsucht und Melancholie sowie die bekannten und wiederkehrenden Namen (Clarissa, Mrs. Dalloway, Richard) runden dieses Bild ab. Eine gekonnte Wendung zum Schluss verbindet das Schicksal der Frauen überraschend.


    Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ habe ich vor längerer Zeit gelesen. Es ist sicher nicht Voraussetzung zum Verständnis für „Die Stunden“ doch jedenfalls förderlich, um in Cunninghams Buch versinken zu können. Ganz große Literatur, von mir eine echte Empfehlung!

  • Danke für die Rezi! :wave


    Das ist anscheinend die literarische Vorlage zu dem Film "The Hours'", den ich dieser Tage aufgenommen habe, und dessen genialer Soundtrack (von Philipp Glass) schon den ganzen Abend bei mir aus den Lautsprechern klingt. Da wird das Buch dann auch nicht lange auf sich warten lassen.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Tolle Rezi! :-)


    Habe das Buch vor einigen Monaten gelesen und es hat mir sehr sehr gut gefallen. "Mr Dalloway" kannte ich vorher nicht, habe es mir aber im Anschluss an die Lektüre gekauft und gelesen.


    Den Film dazu habe ich mir letzte Woche auch auf Video aufgenommen und nach dem mir die Rez das Buch wieder so schön in Erinnerung gerufen hat, werde ich ihn mir vielleicht gleich mal anschauen. ;-)

  • Geniales Buch, genial verfilmt! :anbet


    Ich habe mir seinerzeit im Anschluss an die Buch/Film-Kombi "Mrs. Dalloway" noch einmal vorgenommen, durch das ich mir sehr genervt damals im Studium gequält habe - und ich finde, Cunningham hat mir den erneuten Zugang dazu enorm erleichtert; bei der 2. Lektüre hat es mir - mit Cunningham bzw. dem Film im Hinterkopf - sehr gut gefallen.


    Wer durch "The Hours" / "Die Stunden" neugierig(er) geworden ist auf Virginia Woolf, dem möchte ich die grandiose Biografie von Hermione Lee empfehlen:

  • Mit dem Roman war ich gar nicht einverstanden.


    Ich hatte zuerst den Film gesehen, weil ich nicht begriffen hatte, daß ein Roman dahintersteckt - ich gehe nie in Literaturverfilmungen.
    Den Film habe ich u.a. wegen Julianne Moore ausgewählt. Hier hat sie mich für einmal enttäuscht. Aber dafür kann sie nichts, weiß ich, seit ich das Buch gelesen habe.


    Das Beste am Film ist die Musik von Glass und da ich Glass nicht für einen sehr hellen Stern am Komponistenhimmel halte, sagt das genug.
    :grin


    Nun habe ich eine persönliche Regel und die besagt: schlechter Film = gutes Buch und umgekehrt, natürlich.
    Ich habe mir damals also ungehend den Roman besorgt.


    Der aber stellte sich als Ausnahme meiner Regel heraus.


    An dem Roman war alles gut, was von Virginia Woolf persönlich stammt bzw. aus ihren Tagebüchern und Briefen. Es sind nicht wenig Originaltexte, die der Autor übernommen hat. Dazu jede Menge Informationen aus ihren Biographien.
    Das ist nicht gekennzeichnet, weil es sich ja um einen Roman handelt bzw. um Zitate, die 'man' eben kennt, wenn man Virginia Woolf kennt.


    Das, was von Michael Cunningham selber stammt, also der eigentliche Romans, war in meinen Augen bescheiden.
    Nicht ein Charakter hat mich überzeugt. Was als Erkenntnisse und Lebensweisheiten präsentiert wurde, war eher einfach gehalten.


    Ich fand es ziemlich unmodern, sentimental, sprachlich aufgeblasen.
    Die dritte Geschichte mit Clarissa und dem aidskranken Freund war für mich einfach nur noch, nun, publikumswirksam.


    Hier ist jemand der Faszination von Woolfs Können erlegen, ohne ihr auch nur nahe kommen zu können.



    Ey, endlich mal wieder ein kontroverses Buch hier!
    :grin



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • Oh ja, den Film mit Meryl Streep, Nicole Kidman und Julianne Moor fand ich zauberhaft.
    Aber das Buch, ich bin bis zum Schluss einfach nicht mit ihm warm geworden. Vielleicht lag es daran, dass ich vorher den Film gesehen habe? Ich weiß es nicht.
    Die Idee an sich finde ich toll. Da wird abwechselnd über drei Frauen, die in unterschiedlichen Zeiten leben, berichtet. Über einen einzigen Tag aus ihrem Leben. Und alle verbindet etwas mit "Mrs Delloway".


    Ich kam nur langsam rein in die Geschichte. Schon der Prolog ist sehr traurig und beklemmend.
    Clarissa will am Abend eine Party für ihren todkranken Freund Richard geben. Er ist Schriftsteller und soll mit einem Preis ausgezeichnet werden. Er nennt sie Mrs. Delloway.
    Virginia setzt sich, nachdem sie aufgestanden ist und sich einen Kaffee geholt hat, in einen Sessel und ohne zu wissen, wie sie beginnen soll, greift sie zur Feder und schreibt: "Mrs. Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen."
    Laura Brown ist verheiratet, hat einen Sohn und sollte eigentlich aufstehen, da ihr Mann Geburtstag hat. Doch sie liest "Mrs. Dalloway".


    Jede der Frauen hat zu kämpfen. Mit guten und schlechten Momenten. Solche Geschichten liebe ich eigentlich.
    Auf jeden Fall werde ich das Buch noch einmal lesen. In ein paar Jahren. Vielleicht habe ich dann einen besseren Zugang und kann es auch genießen und vor allem den Pulitzerpreis würdigen, den es erhalten hat.

  • Ich habe das Buch vor vier Jahren geschenkt bekommen und jetzt endlich gelesen. Zuerst wollte ich es nicht lesen, weil ich vorher noch Mrs Dalloway lesen wollte, das habe ich zwar schon vor langer Zeit getan, aber The Hours subbte weiter - zu unrecht!
    Mir hat die Verknüpfung der Ebenen (es gibt insgesamt 3 Ebenen, Mrs Woolf, Mrs Brown und Mrs Dalloway) sehr gut gefallen, und ich konnte einige stilistische und inhaltliche Anknüpfungen an Woolfs Roman finden. Ich liebe Geschichten, in denen verschiedene Handlungsstränge miteinander Verknüpft sind und ich fand zudem interessant, wie die Beziehungen und Charakterkonstellationen im "Mrs Dalloway" Teil des Buches modernisiert worden sind. Krieg, bzw. die (psychischen) Folgen von Krieg spielen ja eine wichtige Rolle in Mrs Dalloway, deshalb fand ich es schön, dass auch dieses Thema auf einigen Ebenen auftauchte.
    Zudem mag ich Romane, die den Schaffensprozess von Romanen und das Leben ihrer Autoren - fiktiv oder real - behandeln, deshalb gefällt mir dieses Buch!