Jahres-Gewinner Schreibwettbewerb 2007!

  • Liebe Eulen,


    hier findet Ihr alle Monats-Gewinner-Beiträge des Jahres 2007.


    Vom 01.01.2008 bis zum 10.01.2008 habt Ihr die Möglichkeit, Euren Favoriten des Jahres 2007 zu wählen. Für die Abstimmung wird ein Extra-Punktethread eingerichtet, in dem Ihr wie üblich 3-2-1 Punkte verteilen könnt.


    Der Jahres-Gewinner des Schreibwettbewerbs 2007 erhält von uns einen Büchergutschein von Amazon.de über


    25,- EUR.


    Viel Erfolg!

  • "Not. Wer?"
    Thema: Räuber
    Autor: Eny
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    Dort drinnen herrscht weißes, steriles Licht, in dem sich die Schläuche unter der Decke abzeichnen. Auf einem Monitor malt die hellgrüne Linie spitze Berge und Täler, auf dem anderen sind es flache, geschwungene Wellenlinien. Vermutlich ist im Raum ein beruhigendes, pulsierendes Piepen zu hören, aber kein Laut durchdringt das schalldichte Glas, an das ich mein Gesicht presse.
    Ich höre, wie hinter mir eine Tür aufgeht und drehe mich um. Zwei Männer betreten das Vorzimmer, den ersten kenne ich nicht, der zweite ist Herr Mainhardt, mein Anwalt. Er kommt direkt auf mich zu. „Herrgott, Sie sehen ja fürchterlich aus. Ich habe ihnen ein neues Jackett mitgebracht.“
    Ohne einen Blick durch die Glasscheibe zu werfen, hilft er mir aus meinem blutverschmierten Sakko und schleudert es achtlos in die Ecke. Das neue sitzt genauso perfekt.
    „Hier.“ Mainhardt schiebt mir eine Brieftasche in die Hand. „Zählen Sie nach, ob alles drin ist.“ Ich will ihm sagen, dass nichts fehlen kann, weil der Dieb nicht die Zeit hatte, etwas herauszunehmen, aber er hat sich schon wieder umgedreht. Ich lasse meinen flüchtigen Blick über Ausweise und EC-Karten wandern. Alles da. Auch das Geld ist vollständig, es sind zwei lilafarbene und viele grüne und orange Scheine.
    Ich schaue zurück in den Raum hinter der Glasscheibe und bemerke, welche Farben das blutverklebte Haar des Jungen hat: Orange und grün. Über den Ohren und am Hinterkopf wurde es abrasiert, aber in der Mitte sind mehrere Büschel als stachelige Irokese stehengeblieben.
    „Herr Doktor, wir reden hier von einem Raubüberfall!“ Ich bemerke, dass die Stimmen hinter mir laut geworden sind. „Paragraf 32, Strafgesetzbuch. Notwehr. Sagt ihnen das etwas?“
    „Schon.“ Der Arzt hört sich ziemlich kleinlaut an. „Aber die Polizisten wollen Ihren Mandanten sprechen.“
    „Er wurde von diesem Punk da drinnen überfallen! Mit einem Messer! Was wollen Sie eigentlich?“
    Ich atme durch und drehe mich um. „Schon gut. Ich komme mit.“
    Der Doktor seufzt erleichtert. Mainhardt schüttelt genervt den Kopf. „So landen Sie noch zur Anhörung vor dem Staatsanwalt.“ Trotzdem öffnet er die Tür.
    Ich werfe einen letzten Blick hinein auf den Jungen hinter der Scheibe, dann drehe ich mich um und verlasse das Vorzimmer.
    „Wird er durchkommen?“, frage ich, während wir den Flur entlang eilen.
    „Der Staatsanwalt?“ Mainhardt lacht. „Natürlich nicht. Die Anklage sind Sie los, bevor er auch nur Luft geholt hat. Es war Notwehr, vor Zeugen. Machen Sie sich da keine Sorgen. Aber schließen Sie Ihr Jackett.“
    Ich knöpfe es bis oben zu, damit man den Blutfleck auf meinem Hemd nicht mehr sehen kann. Schweigend.

  • "Wasser"
    Thema: Zwilling
    Autor: Roxane
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    Wenn sie mit den Fingerkuppen ganz sacht die Wasseroberfläche berührte, schien ihre Schwester erschrocken zurückzuzucken, doch im nächsten Moment fing sie sich wieder und hob das Kinn, stolz, nein, nicht sie, sie würde nicht zurückzucken, sie nicht. Sie war wie sie, scheu, einsam, aber stolz. Selbst wenn sie einen kleinen Stein, hineinwarf, verschwand sie nicht.
    Sie war froh darüber; ihre Schwester war die einzige, die nicht ging, sie hatte sie noch nie im Stich gelassen, und sie war genau wie sie, fast wie ein Zwilling. Ein Zwilling, ging es ihr durch den Kopf, schöne Worte, das passte irgendwie; Zwillinge.
    Wenn sie jetzt sprang, würde es keiner merken, nur ihre Schwester - ihre Zwillingsschwester -, war das nicht schön? Wir beide zu zweit, dachte sie, sie wird mich nicht verraten, jeder andere würde es tun, sie nicht.

    In Gedanken war sie bereits unter der Oberfläche, tief drunten, kühles Blau nahm ihr die Sinne, gleichzeitig waren ihre Sinne schärfer denn je: Strudelndes, gurgelndes Wasser, egal, wohin man sah, der Geschmack von Salz in Mund und Nase, hellblaue Fontänen, gekrönt von weißer Gischt und gold geädert von der milde strahlenden Sonne, so stellte sie sich Wasser vor, von oben, aus der Sicht eines Vogels: blau-gold, weiße, zitternde Lichtflecken, wie ein schimmernder Film über dem Meer, tief unten rote Leuchtfische, große, neugierige Walaugen, das Lachen hunderter Delfine; Schwärze, unendliche Schwärze, hin und wieder durchzogen vom schwachen, flatternden Schein eines golden leuchtenden Seepferdes.

    Ruhe überkam sie, sie wusste, wie es sein würde, sie tauchte eine Hand ins Blau, atemlos. Jetzt, spring, sie wusste, dass dies der Moment war, tu es - still deinen Durst, trink.


    Schillernde Dunkelheit umfing sie, tiefer, sie sank tiefer, bis zum Abgrund, wo nichts mehr atmete, keine Farben, kein Geräusch. Leise, fast zärtlich, wurde sie auf dem sandigen Boden abgesetzt, trübes Braun wirbelte auf, wie Staub, ging es ihr durch den Sinn, natürlich war es das nicht, das gibt es nicht - Staub im Wasser, das ist Unsinn.
    Ihre Vorstellung, tief drunten würde sie von buntem Leben empfangen werden, schwankte, geriet ins Taumeln - stürzte in dem Moment, als ein kleiner Fisch freundlich ihre Nase anstupste - Herzlich Willkommen -, sie die Finger ausstreckte, um seine glatten Schuppen zu streicheln - und in ein Sandwölkchen griff, das sich langsam im Wasser zersetzte, sie verspottete mit seiner dunstartigen Konsistenz; hier unten gab es keine Fische, nicht einmal Rochen, nicht einmal Plankton.
    So war also das Leben nach dem Tod - noch mehr Tod, ätzende Leere, schleppende Düsternis?
    Und wo war eigentlich ihre Schwester? Wo war ihr Zwilling?
    Schwesterherz?
    Boshaft gab die Stille das Wort zurück, ein-, zweimal reflektierten es die Felsen, dann verlor es sich in der titanischen, schwarzen Unendlichkeit.

    Panisch schnappte sie nach Luft, die ganze Zeit über hatte sie nicht geatmet, fassungslos starrte sie auf das Bild ihrer Schwester. Noch ein letztes Mal strich sie ihr übers Haar, die Wasseroberfläche kräuselte sich wie zum Abschied.
    Sie stand auf und lief ins Haus.
    Einmal noch sollte sie es versuchen - Leben.

  • "Mutprobe"
    Thema: Strom
    Autor: Tom
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    Basti warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. Dann hob er den Fuß, um zu prüfen, ob an seiner Sohle noch etwas zu sehen war. Natürlich durften wir nicht rauchen, wir waren ja erst dreizehn, und Bastis Vater schlug ihn sogar, wenn er nur zwei Minuten zu spät nach Hause kam.
    „Das ist doch gefährlich, oder?“
    Wir standen an den Gleisen der S-Bahn, die hier durch ein verwildertes Stück Wiese mit viel Gestrüpp führten. Es dämmerte bereits, aber die Stromschiene mit ihrer Holzummantelung war gut zu erkennen.
    Basti grinste nur.
    „Kann man dabei sterben?“
    Jetzt lachte Basti. „Keine Ahnung.“
    Er sah mich an. „Deine Mutter hat dir sicher erzählt, daß Kirschkerne, die man herunterschluckt, den Blinddarm verstopfen, oder?“
    Ich nickte. Außerdem Kaugummis und Hühnerknochen.
    „Das ist nämlich Unsinn.“
    „Und das hier?“ Ich zeigte auf die dunkelbraune Verkleidung der Stromschiene.
    „Das“, sagte er und nickte dabei langsam. „Vermutlich auch.“


    Endlich kam Kati, wegen der wir das alles machten, hatte Basti jedenfalls gesagt. Sie legte mir die Hand auf die Schulter, was seltsam kribbelte, und fragte ihn: „Und? Welche Sensation willst du mir zeigen?“
    Basti grinste und zog den Reißverschluß seiner Jeans herunter. Sogar im Dämmerlicht konnte ich sehen, wie Kati errötete. Sie nahm die Hand von meiner Schulter, drehte sich zur Seite und sagte: „Ich weiß, wie das aussieht. Eklig.“
    „Ich will dir nicht meinen Schniedel zeigen“, erklärte Basti. „Wir werden auf die Stromschiene pinkeln.“
    Kati atmete geräuschvoll ein und nahm die Hand vor den Mund. „Davon. Davon könnt ihr sterben.“
    Sie sah besorgt aus. Ich nickte.
    „Quatsch“, sagte Basti.
    „Doch.“
    „Quatsch.“
    Er überstieg vorsichtig die Stromschiene und stellte sich zwischen die Gleise, genau an der Stelle, an der ein Stück der Verkleidung fehlte.
    „Kommst du?“ fragte er mich. Ich sah Kati an, die langsam den Kopf schüttelte.
    „Feigling“, sagte Basti.
    Ich zuckte die Schultern, wobei ich so tat, als wäre es mir wirklich egal, und folgte ihm. Dann holten wir unsere Pimmel heraus. Ich zitterte.
    „Auf drei.“
    „Ich muß überhaupt nicht.“
    „Auf drei.“ Er grinste breit. „Eins. Zwei.“
    Kati hatte sich weggedreht.
    „DREI.“
    Unsere Strahlen trafen kurz nacheinander auf den abgescheuerten Stahl. Ich hatte absichtlich daneben gezielt und lenkte meine Pisse erst auf die Stromschiene, als ich sah, daß bei Basti nichts passierte. Ich hatte erwartet, daß es knallen und er zu Asche zerfallen würde, aber es geschah überhaupt nichts.
    Und offenbar bemerkte er meinen kleinen Betrug nicht.
    „Schau doch“, sagte er, aber Kati schüttelte den Kopf.


    Am nächsten Tag küßte mich Kati, vor allen Mitschülern, als wir uns auf dem Schulhof trafen.
    „Du bist ganz schön mutig“, sagte sie, und es klang stolz. Ich grinste, aber mein Gesicht brannte.
    Im Matheunterricht saß Basti neben mir.
    „So sind die Weiber“, sagte er. „Man muß ein bißchen zaubern, damit sie aufmerksam werden.“
    „Aber das war doch gefährlich.“
    „Nicht wirklich. Außerdem hatte ich es am Tag vorher ausprobiert.“
    „Warum?“ Ich war verblüfft.
    „Freunde tun so was füreinander.“
    Dann sah er mich an. „Du hättest nicht mogeln müssen.“

  • "Natürlich"
    Thema: künstlich
    Autor: churchill
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    „Natürlich“ lautet heute die Parole.
    Was nicht natürlich ist, das ist nicht echt.
    Und was nicht echt ist, dient uns nicht zum Wohle.
    Natürliches ist gut und niemals schlecht.


    Natürlich liebe ich nur echte Pflanzen.
    Ich hasse jeden falschen Weihnachtsbaum.
    Doch würde ich mit Heather Mills mal tanzen,
    so spürte ich ihr neues Bein wohl kaum.


    Wer mag schon Frauen, die beim Tanzen humpeln?
    Da übersieht man jenes fremde Teil.
    Und denk ich dran, wie manche Brüste schrumpeln,
    dann lob ich Silikon und werde geil.


    Ich halte nichts von aufgespritzten Lippen,
    doch sind der Frauen Lippen allzu schmal,
    dann möcht’ ich nie an diesen Lippen nippen,
    denn solche Frauen schmecken meistens schal.


    Natürlich schiefe Nasen, große Ohren,
    natürlich ist an vielen Stellen Speck,
    natürlich bin ich gegen Schneiden, Bohren,
    Natur muss bleiben. Ich schau lieber weg.


    Natürlich gilt das Ganze auch beim Schreiben.
    Natürlich schreibt man Prosa, kein Gedicht.
    Denn dort, wo immer Silben übrig bleiben,
    da fließt natürlich unsre Sprache nicht.


    Natürlich schreibt der Könner ne Geschichte,
    auf rund fünfhundert Wörter aufgebläht.
    Natürlich bin ich nicht, wenn ich hier dichte,
    ganz auf der Höhe und nicht up to date.


    Natürlich wird Natürlichkeit stets siegen.
    Natürlich ist mein Grinsen aufgesetzt.
    Auch Ikarus wollte – natürlich – fliegen
    und hat sich dann (natürlich) bös verletzt.


    Natürlich bin ich niemals nicht dagegen.
    Das Unnatürliche, es liegt mir fern.
    Ja, manchmal macht’s mir Spaß, mich aufzuregen.
    Natürlich nicht natürlich. Aber gern.

  • "Casting"
    Thema: Spiel
    Autor: Tom
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    „Mir ist das peinlich“, sagt Fred.
    Ich nicke. Mir auch.
    Wir stehen in der Lobby dieses Vertreterhotels, in das wir geladen wurden, um auf unsere Quizkandidatentauglichkeit geprüft zu werden, zwischen Hausfrauen, die ihr Halbwissen in Plastiktüten mit sich herumzutragen scheinen, und Gruppen pickeliger Schülerinnen, die sich mit Trivial-Pursuit-Kärtchen abfragen.
    „Laß uns gehen“, sagt Fred.
    „Ich brauche das Geld“, antworte ich. Er nickt.


    Ein Berufsjugendlicher schleust uns in den Konferenzraum, jeweils zwanzig Pärchen, wir sind in der ersten Gruppe. Wir bekommen Klebeetiketten mit unseren Vornamen, und werden gefragt, woher wir uns kennen.
    „Er ist mein Zuhälter“, erklärt Fred ernst.
    Ich stoße ihm den Ellenbogen in die Rippen. „Er macht nur Spaß. Fred hat mir mal das Leben gerettet.“
    Der Berufsjugendliche macht sich Notizen. Wir setzen uns, mein Nachbar riecht nach Alkohol; es ist wie im Warteraum des Arbeitsamts. Jedenfalls sehen die anderen so aus: Fernsehsüchtige Pleitegeier.


    Der Vorturner erklärt den Ablauf. Wir müssen uns gegenseitig vorstellen, paarweise, und danach gibt es zwanzig Fragen, Allgemeinwissen. Fred gähnt laut. Zwei kichernde Postpubertäre behaupten, die weltbesten Freundinnen sein und Tokio Hotel zu lieben. Ein Fünfzigjähriger wollte angeblich schon immer Quizkandidat werden, und er stellt seinen Begleiter als irgendeinen Nachbarn vor. Es folgen drei Ehepaare, eine Akademikerin mit ihrer Putzfrau, ein Uropa mit Urenkelin, vier mal zwei Freundinnen im Abiturientenalter. Dann sind wir dran.
    „Ich darf vorstellen, das ist Fred, seines Zeichens bester Anstreicher der Welt. Er hat mir vor zwei Jahren das Leben gerettet, als ich in der U-Bahn überfallen wurde. Und außerdem hat er für lau meine Wohnung tapeziert.“
    Fred steht auf und grinst. „Das ist Gürsel, mein Zu ... äh ... mein Freund. Er hat irgendwas mit Logie studiert, und ich hoffe, ihn früher oder später davon abbringen zu können, bewaffnete Skins in intellektuelle Gespräche verwickeln zu wollen.“
    Niemand lacht, aber der Berufsjugendliche schreibt. Es folgen zwanzig läppische Fragen. Fred will ständig dazwischenquatschen, etwa bei der Frage, wer „Schloß Gripsholm“ geschrieben hat. Ich kneife ihn, und deshalb sagt er etwas leiser „Astrid Lindgren“.


    Wir kommen als einziges Paar in die zweite Runde, Videocasting. Die anderen schauen uns mißbilligend an, und Fred sagt laut: „Schlau sein ist nicht alles. Man muß auch noch gut aussehen.“


    Sechs Wochen später sitzen wir im Zug nach Hamburg.
    „Wie heißt dieser Typ noch mal mit Vornamen?“ fragt Fred. „Jörg“, antworte ich.
    „Jörg“, wiederholt Fred. „Ich hoffe, daß das nicht gefragt wird.“ Er grinst und haut mir auf die Schulter. „Alles wird gut“, sagt er. „Ist doch nur ein Spiel.“
    Die Show rauscht an mir vorbei, Fred legt drei Vetos ein, weil mir jede Peilung fehlt. Wir gewinnen hunderttausend Euro. Immerhin kommt die letzte richtige Antwort von mir: Laizismus.


    Am Flughafen umarmen wir uns lange.
    „Wir sehen uns“, sagt Fred.
    Ich nicke und klopfe auf den Koffer mit den fünfzig Riesen.
    „Es ist besser so“, sage ich und taste nach der Narbe am Bauch. „Angst macht die Seele kaputt.“
    Er nickt. „Ich verstehe dich“, sagt er. „Und in der Türkei ist es sowieso viel schöner.“

  • "Anonyme Eulen"
    Thema: Sucht
    Autor: Tom
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    „Mein Name ist LeseSpaß und ich bin eulensüchtig.“
    Die anderen applaudieren höflich, LeseSpaß nimmt gequält lächelnd Platz und schaut aufmerksam in die Runde. Wolke nickt ihm aufmunternd zu und wendet sich an GastRedner.
    „Beim letzten Treffen haben wir über Dein Problem gesprochen, aber ich habe das Gefühl, daß Du noch etwas loswerden wolltest.“
    GastRedner legt die Heavy-Metal-Zeitschrift beiseite, zwinkert kurz Doc Hollywood zu, der ein Motorrad-Magazin liest, und erhebt sich dann von seinem Klappstuhl.
    „Mir ist das alles zu kindisch“, erklärt er und setzt sich wieder.
    Magali springt auf, aber bevor sie etwas sagen kann, ruft Tjorvensmum: „Kinder sind die Zukunft!“
    Waldlaeufer zieht melodramatisch die Augenbrauen hoch und blättert anschließend hektisch in einem Reclam-Heftchen.
    Magali läßt sich nicht beeindrucken: „Manchmal sind die Eulen wie ein Stummfilm mit Untertiteln.“ Sie lächelt etwas irr und setzt sich wieder.
    Doc Hollywood schlägt die Beine übereinander und murmelt: „Möge Euch der Saft niemals ausgehen. Doc, Entsafter.“
    „Darf ich auch etwas sagen?“ fragt Ikarus.
    Die Gruppe stöhnt.
    „Natürlich“, sagt Wolke und wirft einen warnenden Blick in die Runde.
    „Ich bin letztens Zeuge eines Gesprächs geworden, ganz unfreiwillig, und hätte gerne Eure Meinung dazu.“
    Churchill bekreuzt sich stumm, Bernard spricht ein stilles Gebet.
    „Möchte jemand eine Caipirinha?“ fragt Batcat. Im gleichen Augenblick öffnet sich die Tür und ein Sechzehnjähriger stolpert herein.
    „Bin ich hier richtig? Ich habe da ein ganz tolles Buch entdeckt, das im BoD-Verlag erschienen ...“
    Bevor der Neuling den Satz beenden kann, hat Tom ihn mit einem Handkantenschlag an die Kehle niedergestreckt. Doc und Beowulf applaudieren kurz verhalten, Ikarus kämpft offensichtlich gegen Tränen an, und Waldlaeufer hat endlich gefunden, wonach sie gesucht hat. In das Geklapper von Oemchenlis Stricknadeln deklamiert sie: „Actio recta non erit, nisi recta fuerit voluntas.“
    Voltaire blickt kurz auf, deutet ein Kopfschütteln an und versucht dann, den Neuankömmling wiederzubeleben. Er unterbricht das Schweigen der Runde, in dem er ad hoc das ihm unbekannte BoD-Buch des Neuankömmlings rezensiert. Seine Wiederbelebungsversuche allerdings bleiben vorläufig erfolglos.
    „Ich wollte eigentlich schweigen“, sagt Licht und sucht Blickkontakt mit jedem Anwesenden. „Und ich bin mehr denn je der Meinung, daß Schweigen jetzt geboten wäre.“ Er verschränkt die Arme und schließt die Augen.
    Tanzmaus schiebt die gewaltigen Buchstapel auseinander, die vor ihrem Stuhl aufgebaut sind, und fragt: „Sind wir schon fertig?“
    Babyjane kommt hereingestürmt. „Tschuldigung, aber ich mußte noch einen Mann verhaften, der draußen einen Striptease aufgeführt hat.“ Sie lächelt. „War übrigens ganz knackig. Batty, ist die Caipi fertig?“
    Batcat grinst und reicht BJ ein Glas.
    GastRedner protestiert: „Ich dachte, das wäre virtuell.“
    Lilli nickt zustimmend und stickt dann weiter an ihrer Robbie-Williams-Fandecke.
    Der Neuling hustet plötzlich und erhebt sich dann.
    „Ich würde Euch gerne ...“ Er ist kurzatmig und faßt sich an den Hals, wobei ihn Doc interessiert beobachtet. „Buchpartys. Das ist eine tolle Sache.“
    „Schade“, sagt Wolke, wobei sie auf die Uhr schaut. „Die Zeit ist vorbei. Wir treffen uns nächste Woche wieder. “
    Bis auf den Sechzehnjährigen sagen alle zu.

  • "Wolkenfängerin"
    Thema: Frei
    Autor: Lotta
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    Aline hat ihr Zimmer mit Wolken tapeziert. Sie hängen an den Wänden und an der Decke, sind flaumigweiß und gewittergrau. Regentropfensammler, die aus fast nichts bestehen und sich irgendwann ganz auflösen.


    Ich klopfe. Wenn sie die Tür einen Spalt breit öffnet, sehe ich die Wolkenbilder, sehe außerdem Wasserflaschen, die sich auf dem Schreibtisch türmen und ein mit weißen Laken bezogenes Bett. Alles in diesem Raum versucht, weniger zu werden. Wie Aline. „Komm, wir gehen spazieren“, sage ich, mit einer viel zu lauten, fröhlichen Stimme. Sie steht vor mir, undeutlich und sanft, fährt sich durch das fleckige Haar und atmet angestrengt.


    Sie trägt ihre hauchdünne Haut wie einen schweren, regendurchnässten Mantel, dessen Gewicht an ihrem schmalen Körper zehrt. Manchmal glaube ich, dass sie ihn loswerden möchte, Stück für Stück, habe Angst, dass es gelingt, dass ich irgendwann ihre Zimmertür aufstoße und sie sich endgültig aus ihrem blassen, zerbrechlichen Gefängnis gehungert hat. Ich laufe immer ein paar Schritte hinter ihr, aus Furcht, sie könne stürzen und fallen, könne vielleicht niemals wieder aufstehen.


    Aline: ein Mädchen, das die Rolltreppen rückwärts hoch und runter läuft, unumstritten die beste Kirschkernweitspuckerin, Paradiesvogel und Regenbogenkind, das kein Eis essen kann, ohne dass ihm die Schokolade am Kinn herunter tropft. Lachend, immer lachend, auf Bäume kletternd, mit limonadenverklebtem Haar Seifenblasen und Küsse in meine Richtung pustend, ununterbrochen, grenzenlos. Es gibt so unendlich viel Welt.


    Klipp-klapp. Der Armreif rutscht ihr über den Arm, fällt zu Boden, holt mich zurück in die Gegenwart, an den Waldrand, an dem sie hustend stehen geblieben ist. Ihre Lippen schimmern bläulich. Lauf weiter, flehe ich sie stumm an, lauf doch endlich. Wie früher. Noch bevor du angefangen hast, dich ins Bad einzuschließen und bevor deine Lippen zum ersten Mal süßlichbitter schmeckten. Sie keucht. „Gehen wir zurück“, flüstert sie, „bitte.“


    „Ich will schlafen“, sagt sie leise, als wir zu Hause sind, „ich bin so müde. Mach das Licht aus. Mach endlich das Licht aus.“ Haarsträhnen fließen über das Kissen, während sie den Kopf dreht und wendet. Ich kenne dieses Kissen: sie hat es nach mir geworfen, einmal, nachdem wir uns im Wohnzimmer eine flauschigwarme Matratzeninsel gebaut hatten. „Wie eine Wolke“, hat Aline gemeint und mir die Decke über den Kopf gestülpt. Ich bleibe hier, bis sie schläft. Nur dann kann ich sie betrachten, ohne dass sie sich unter meinem Blick windet und krümmt. Vorsichtig lege ich mich neben sie, greife nach ihren kalten Fingern, die mit einem seltsam weichen Flaum bedeckt sind und sich anfühlen wie kleine, zarte Äste.


    Ich bin ganz ruhig, als man ihren Körper leer vorfindet, als ich feststelle, dass Aline endgültig daraus verschwunden ist. Ich sehe zu, wie sie ihn begraben, einen Käfig um den Käfig bauen, hölzern, zehn Meter unter der Erde. Einzig meine Hände betrügen mich, sie zittern, zittern so sehr, als tasteten sie nach unsichtbaren Spuren von Aline, die möglicherweise noch im Wind schweben, verloren und unbestimmt.


    Vielleicht ist sie irgendwo. Aline, Rolltreppenrückwärtsläuferin, kleines Luftwesen, schönste Wolkenfängerin der Welt. Vielleicht ist sie jetzt frei.

  • "Aus blauem Glase"
    Thema: Traum
    Autor: Seestern
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    Spanninger zählte die Streifen der Schlafzimmertapete und atmete auf, als der Wecker klingelte.
    17.386.
    Er stieg schwerfällig aus dem Bett und markierte den 17.386sten Streifen mit Bleistift.
    Gestatten: Spanninger. Insomnambule. Streifenzähler.
    Immerhin aufregender, als die Decke anzustarren und darauf zu warten, dass die Straßenlaternen ausgingen und die Vögel ihr Morgenlied anstimmten.
    Spanninger schlurfte ins Bad, stellte sich vor den Spiegel und kniff sich fest in beide Wangen. Die roten Flecken, die daraufhin aufflammten, bildeten einen unangenehmen Kontrast mit seinem fahlen Teint, passten aber zu den blutunterlaufenen Augen, die ihm aus dem Spiegel entgegen glotzten.


    „Der Chef möchte Sie sehen.“
    Die Sekretärin stellte Spanninger einen Espresso auf den Schreibtisch und schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln.


    „Herrgott noch mal, Spanninger! Was ist bloß los mit Ihnen?“
    Das Gebrüll des Chefs drang wie in Watte gepackt an Spanningers Ohr. Dieses wattige Empfinden begleitete ihn seit Wochen.
    „Wenn sich nicht bald etwas ändert, sehe ich mich gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen! Und jetzt gehen Sie an die Arbeit. Und versuchen Sie wenigstens, heute keine Fehler zu machen!“
    Spanninger wandte sich mit hängenden Schultern zur Tür.
    „Ach, und noch was: Ihre Kunden übernimmt bis auf weiteres der Kollege Neuner. Sie sehen ja aus wie Hingekotzt. Eine Zumutung ist das!“


    Mit Hilfe zahlreicher Espressi überstand Spanninger auch diesen Arbeitstag. Der Termin, von dem er sich erhoffte, was Ärzte, Medikamente und autogenes Training nicht geleistet hatten, war um Fünf.


    Die alte Dame, die ihm die Tür öffnete, sah anders aus, als erwartet.
    Spanninger hielt nach einer schwarzen Katze oder esoterischen Accessoires Ausschau. Er schnupperte nach dem Duft von Räucherstäbchen. Nichts.
    „Wir haben einen Termin. Mein Name ist …“
    „Spanninger. Ich weiß. Lassen Sie uns gleich zur Sache kommen.“
    Sie bat ihn herein.
    „Es gibt nur eine Möglichkeit.“
    Sie reichte Spanninger einen bläulich schimmernden Stein und wies ihn an, diesen eine Nacht lang unter sein Kopfkissen zu legen. Danach sollte er ihn „verschenken“.


    Einen Monat später betrat Spanninger mit einem flotten Liedchen auf den Lippen das Büro. Letzte Nacht hatte er von sonnenüberfluteten Bergwiesen geträumt.
    „Der Chef möchte Sie sehen.“
    Die Sekretärin rollte vielsagend mit den Augen.


    „Auf dem Schreibtisch des Chefs türmten sich die Espressotassen.
    „Hören Sie, Spanninger …
    Ich werde die nächsten Tage nicht hier sein und möchte Sie bitten, in dieser Zeit meine Kunden zu betreuen.“
    „Selbstverständlich. Es geht Ihnen wohl nicht gut. Sie sehen ja aus wie …“
    Beim Hinausgehen fiel Spanningers Blick auf die Zimmerpflanze neben der Tür, aus deren Übertopf es bläulich schimmerte.

  • "Konstruktive Kritik"
    Thema: Schlüsselerlebnis
    Autor: flashfrog
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    Am siebten Tage aber, als Gott eigentlich mal so richtig ausspannen wollte, wurde ihm schnell langweilig. Da nahm er einen Klumpen Lehm zur Hand und begann, ein wenig herumzubasteln. So schuf er den Kritiker.
    Kaum hatte Gott dem Kritiker das Leben eingeblasen, da legte der auch schon los:


    "An sich durchaus eine nette Idee, so eine Schöpfung, aber die Umsetzung ist ehrlich gesagt leider wenig überzeugend. Irgendwie wirkt das hingeschludert, lieblos zusammengebastelt, nicht zu Ende gedacht.
    Mir erschließt sich beispielsweise nicht, wie du am 1. Tag Tag und Nacht machen kannst, wenn du erst am 4. Sonne und Mond erschaffst. Das ist unlogisch. Und wie können die Bäume am 3. Tag Früchte tragen, wenn die Bienen erst am 6. auf der Bildfläche erscheinen? Das funktioniert so nicht, das ist einfach nicht plausibel.
    (Übrigens, die Äpfel hier, die sind aber garantiert Bio und ungespritzt, oder? Weißt du, ich hab einen empfindlichen Magen.)
    Und wieso laufen hier eigentlich alle splitternackt herum? Ich hole mir garantiert einen Sonnenbrand. Und dauernd wird es Abend und Morgen - viel zu viele Wiederholungen, das solltest du straffen, sonst wird es über die Jahrtausende langweilig.
    Dann hast du da also diese ganzen Tiere erschaffen: Einige sind ja recht gelungen und handwerklich solide gemacht, aber die Elefanten beispielsweise sind mir viel zu dick aufgetragen, die Rochen sind einfach zu platt, die Eisbären bleiben blass, die Giraffen wirken irgendwie gestelzt, die Bäume hölzern, die Fische sagen mir nichts, den Bergen fehlt die Tiefe.
    Wie gesagt, die Grundidee gefällt mir ja, aber das wirkt doch alles sehr konstruiert. (Hast du eigentlich schon mal was von Darwin gehört? Solltest du bei Gelegenheit mal lesen, da könntest du noch was lernen! Und was sagt eigentlich deine Frau dazu, wenn du den ganzen Sonntag im Hobbykeller verbringst? - Mein Gott, Sinn für Humor hast du wohl gar keinen?)
    Also, auch, wenn das hier dein Debüt ist, überzeugt es mich nicht, es reißt mich einfach nicht vom Hocker. Deine ästhetische Konzeption zeigt zwar gute Ansätze, alles in allem nicht unsympathisch, die Inszenierung kommt aber insgesamt doch ziemlich amateurhaft daher.
    Ganz nett, recht originell und von einigem Unterhaltungswert, ein gewisses Talent ist erkennbar, aber da hättest du einfach mehr draus machen müssen, aus so einer Schöpfung, hier wurde eine Chance verspielt. Schade.
    Okay, der Mensch ist eine ganz witzige, schräge Idee, aber in der Umsetzung hapert es dann doch gewaltig: Die Konstruktion ist unpräzise, unausgegoren, und die Pointe viel zu vorhersehbar!
    Auch sprachlich ist das eher schwach, da müsste noch gefeilt werden: 'Seid fruchtbar und mehret euch in vernünftigem Maße', und: 'Macht euch die Erde untertan, aber macht sie nicht kaputt' – Das ist doch selbstverständlich und banal, das würde ich nochmal überarbeiten und kürzen!
    Die Story geht für mich irgendwie nicht auf. Ich kann den Sinn des Ganzen nicht erkennen,
    mir fehlt da einfach ein schlüssiges Ende -"


    Da nahm Gott den zappelnden Kritiker in die Hand, drückte ihn wieder zu einem Lehmklumpen zusammen und knetete daraus eine Schlange.

  • "Ein neuer Morgen"
    Thema: Fremde Sprache
    Autor: Sabine_D
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    Mist, fluche ich, es ist schon wieder so spät.
    Wütend auf mich und meine Unfähigkeit aufzustehen wenn der Wecker klingelt, schnappe ich mir Jacke, Schlüssel und Tasche und renne aus der Wohnung.
    Ich muss wieder einmal einen Dauerlauf einlegen, um meine S-Bahn noch zu bekommen.
    Auf dem Fußweg ist so ein Gewühl, als wenn hier gleich der New York Marathon startet. Ich muss in Schlangenlinien zwischen den Menschenmassen hindurch hetzen. Das kostet zusätzliche Minuten und bessert meine Laune nicht wirklich. Ich nehme mir die Zeit auf meine Armbanduhr zu sehen, dabei passiert es. Ich pralle auf ein Hindernis und finde mich auf dem Hintern sitzend wieder. Im ersten Moment total verwirrt, sehe ich mich um und bemerke Passanten, die kopfschüttelnd an mir vorbeihasten.
    Der Grund für meinen Sturz steht vor mir und schaut mich an.
    Er reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Ich lächele ihn dankbar an, klopfe Jacke und Hose ab und humpele mit hochrotem Kopf weiter Richtung S-Bahn. Mein Knöchel schmerzt, Wahrscheinlich habe ich ihn mir beim Sturz verstaucht.
    Das war es dann mit der Pünktlichkeit für heute. Der Tag fängt nicht gut an. Eigentlich ist er schon so gut wie gelaufen. Von meiner S-Bahn habe ich nur noch die Rücklichter gesehen.
    Ich drehe mich zu den Fahrplänen um und finde mich vor dem Mann wieder, der den Sturz auslöste.
    Ich merke wie mir wieder die Röte ins Gesicht steigt. „Geht es Ihnen gut, haben Sie sich wehgetan? Sie waren so schnell fort, dass Sie mich gar nicht mehr gehört haben als ich Ihnen hinterher rief“ sagt er zu mir.
    Ich nicke nur, unfähig mich zu rühren. „Wo müssen Sie denn hin?“ kommt seine nächste Frage.
    Ich lächele ihm stumm zu. Er sieht mich nachdenklich an. Gerne würde ich ihm sagen, dass ich ihn verstehe, ihm aber nicht antworten kann. Zumindest nicht so, dass er es versteht. Er lächelt immer noch und wartet auf meine Antwort.
    Ich verziehe meinen Mund, wie immer wenn ich nervös bin, und schaue ihn nur schweigend an. Ich weiß, dass mein Verhalten die Menschen irritiert.
    „Na dann“ sagt er, dreht sich um und geht. Im Gehen dreht er sich noch einmal nach mir um und verschwindet im Gewühl.


    Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich drehe mich um und stehe meiner besten Freundin gegenüber. Wir sagen uns Guten Morgen. Gleich darauf fängt sie mit beiden Händen an zu reden. Ich lasse sie ausreden und antworte ihr, ebenfalls in unserer Gebärdensprache. In diesem Moment sehe ich aus den Augenwinkeln heraus den Mann am Bahnsteig stehen. Er blickt zu mir herüber und lächelt mir zu.

  • "Zugvögel"
    Thema: Briefe
    Autor: Lotta
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    Miriam bläst gerne den Puderzucker von Schokoladenhörnchen herunter und malt Lippenstiftschmetterlinge an die weiße Wand. Steht oft ganz dicht an den Gleisen und hört den Zügen beim Vorbeirauschen zu. Lehnt an dem gelben Postkasten und schiebt sehnsüchtige Blicke durch den Schlitz.


    Irgendjemand ist immer da, der sie am Ärmel zupft, der mit den Fingerspitzen an die Fenster ihrer Traumwelt klopft und ruppigsanft den Reißverschluss ihrer Jacke schließt: „Komm, kleine Ausreißerin, komm nach Hause.“


    Zu Hause: das ist ein buntes Gebäude, in dem verlorene Kinder gesammelt werden, damit sie in ihren Erinnerungen schwimmen lernen. „Hier haben wir die Briefkastenfee“, sagt der Irgendjemand und hebt seine Mütze zum Gruß. Der Direktor nickt, dankt, bleibt versonnen an der Tür stehen und lauscht den vielen Stimmen seines Menschenfundbüros.


    Die Briefkastenfee ist schon um die Ecke geflitzt, mit einem Heimwehlächeln auf den Lippen und einem Bündel Stifte in der Hand. Sie sitzt am Schreibtisch und baumelt mit den Beinen. Liebe Mama, schreibt Miriam und entschwebt der Zeit.


    „Bist du wach, kleine Träumerin? Aufstehen, Liebes.“
    Wenn Mama, Tagschläferin und Dunkelschwärmerin, früh auf war, wurde es ein ganz besonderer Tag. Ein Zuckerwattetag, den man in schaumigweißen Kleidern verbringt. Mit Frühstück im Bett, Seifenblasenbädern in Kokosnussshampoo und schulfrei für Prinzessinnen. Ein Dubadididum-Tag. Mit Ideen und Wortgewändern, in die man schlüpfen und in denen man die Welt vergessen konnte: „Weißt du, was wir machen, kleine Miriam? Wir sind Lückenspringer. Wir springen in die Lücken dieser lückenhaften Welt und sehen zu, wie das Leben über den Rand schwappt und fließt.“


    Buchstaben stolpern unbeholfen über das Papier.


    „Steh auf, Mama. Steh doch endlich auf.“
    Das Leben stockte, gerann zu kleinen, wehrlosen Tröpfchen. Ein Frühlingsmorgen in Weltuntergangsstimmung. Rosafarbene Tabletten auf dem Küchentisch. Ein glückliches Foto mit zerbrochenem Glas. Viel zu fremde Menschen mit viel zu lauten Stimmen.
    „Kommen Sie, bitte, Sie sind in keiner Verfassung …“
    „Das Mädchen. Jemand soll das kleine Mädchen wegschaffen!“
    Eine Seifenblase, die zerplatzt. Ein Lippenstiftschmetterling, der fortfliegt. Eine weinende Frau mit klebrigen Haaren. Dubadididum.
    „Miriam … ich komme dich holen. Versprochen. Wir schreiben uns. Briefe. Weißt du, was Briefe wirklich sind? Zauberwesen, Zugvögel mit bunten Flügeln. Sie wissen immer wohin.“


    Miriams Hand schmerzt. Die Buchstaben hüpfen, sind Tintenkleckse, Spiegelbilder, sind winzige Packesel, die Wünsche ins Traumland transportieren.


    Der Direktor ist ein Mann mit Brille, Bart und warmen Augen. Seine weißen Haare sind Schneeflocken, die langsam zu schmelzen beginnen. Natalie wirbelt herein, windig, die neue Sekretärin: „Die Post – ach, und das war auch dabei.“
    Weiße Umschläge, sorgfältig beschrieben, traumgefüllt. Verschmiert mit himmelblauer Stempelschrift: UNZUSTELLBAR ZURÜCK.
    „Was ist das?“ fragt Natalie, ungeschulte Weltenretterin.
    „Das? Oh, das … Briefe von Miriam.“
    Er öffnet eine Schublade, randvoll mit Zetteln, Briefe ins Niemandsland.
    „Ihre Mutter. Ein Unfall … sie ist zwei Wochen nach der Einlieferung gestorben.“


    Irgendwo schreibt sich Miriam eine Welt aus Papier. Unter ihren Fingernägeln klebt Farbe, ihre Augen sind müde Fenster zu fernen Zeiten. In ihren Händen hält sie selbstgemachte Tintenhoffnung, Zugvogelgepäck, reisefertig. Denn Zugvögel wissen immer wohin.

  • "Mitteilung"
    Thema: Geheimnis
    Autor: churchill
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    „Ich muss dir etwas erzählen. Du darfst es aber keinem weitersagen!“
    Ich kenne diesen Blick. Diesen Augenblick. Wenn ihre Augen ihr Gesicht verlassen, um in meins einzudringen.
    „Dann lass es.“
    „Was soll ich lassen?“ Ich habe sie verwirrt. Interessant.
    „Dann erzähl es nicht.“


    „Aber ich muss es jemandem erzählen. Und zwar dir. Ich will es mit dir teilen“
    „Ich werde es mitteilen.“
    „Wem?“
    „Allen. Und noch ein paar anderen.“
    „Das darfst du aber nicht.“
    „Eben. Deshalb lass es.“


    „Bist du denn gar nicht neugierig?“
    „Nein. Nicht neu.“
    „Du bist schrecklich. Ich will dir etwas unter dem Siegel der Verschwiegenheit verraten. Und du?“
    „ Ich werde den Verrat verhindern.“
    „Warum denn?“
    „Weil ich es brechen würde“
    „Brechen?“
    „Das Siegel.“


    „Du weißt ja gar nicht, worum es geht ...“
    „Doch. Um ihn oder sie. Oder um beide. Oder um dich und mich. Was ändert das?“
    „Vielleicht ist es ja etwas ganz Wichtiges, und du wirst es nie erfahren.“
    „Was ich nicht erfahre, kann nicht wichtig sein. Für mich“


    Triumph schleicht sich in ihre Stimme.
    „Ha! Falsch!“
    Mein Schweigen relativiert das Hoch ihrer Stimme und Stimmung.
    „Es ist wichtig. Sehr wichtig sogar. Für die Zukunft. Wenn du wüsstest, was geredet wird ... Es würde alles ändern!“
    „Mag sein.“
    „Warum willst du es dann nicht wissen?“
    „Was soll sich ändern? Es ist, wie es ist. Ist es wichtig?“
    „Wenn das stimmt, was ich gehört habe ...“
    „Ach, es stimmt vielleicht nicht mal? Ist es wenigstens etwas Gutes?“
    „Na ja. Wie man’s nimmt.“
    „Ich nehme es nicht.“


    Sie ist hartnäckig. Sie gibt nicht auf.
    „Sei nicht so kindisch. Ich sag’s dir jetzt einfach, ob du willst oder nicht.“
    „Ich will nicht“
    „Also: Pass auf. Ich habe gehört …“
    Ich setze mich, nehme das Notizheft und einen Kugelschreiber, schaue sie an und präsentiere ihr den vermutlich erwarteten erwartungsvollen Gesichtsausdruck.


    „Was machst du?“
    „Ich passe auf.“
    „Willst du jetzt etwa mitschreiben?“
    „Natürlich. Mitgeschriebenes lässt sich genauer mitteilen.“
    „Du sollst es aber nicht mitteilen!“
    „Sagst du.“
    „Ja, natürlich sag ich das“
    „Und ich schreibe mit, weil schöne, wahre und wichtige Dinge festgehalten werden müssen für die Welt um und nach uns. Weil sie geteilt werden müssen. Mit- und verteilt. Ausgeteilt.“
    „Du nimmst mich nicht ernst!“
    „Doch. Sogar außerordentlich ernst. Schließlich willst du mir etwas Bedeutungsvolles sagen.“


    Sie ist verstimmt. Total verstimmt. Ihre Augen sind ins eigene Gesicht zurückgekehrt. Diese Situation wird anhalten. Mindestens drei Minuten, wenn nicht noch länger. Drei mitteilungslose Minuten. Drei Minuten für mich.
    Sie dreht mir den Rücken zu, schlurft aus dem Zimmer, gebeugt, schwer tragend am allein zu schulternden Rucksack der neuesten Interna. Einmal noch dreht sie sich um:
    „Und ich habe gedacht, wir sagen uns alles.“
    Da hat sie sich getäuscht. Ich mich auch. Es sind nicht einmal zwei Minuten gewesen.