Schreibwettbewerb Januar 2008 - Thema: "Kunst"

  • Thema Januar 2008:


    "Kunst"


    Vom 01. bis 20. Januar 2008 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Januar 2008 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!


    Nur für registrierte Mitglieder mit mindestens 50 Beiträgen!


    Eine Bitte: Schickt uns Eure Beiträge als .doc oder .rtf und sendet sie uns als Anhang in einer Mail. Damit kommen dann auch Zeilenumbrüche, etc. richtig bei uns an. In Word könnt ihr dann auch die Rechtschreibhilfe nutzen und unter „Extras“ habt ihr die Möglichkeit „Wörter zählen“.


    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von Irrstern



    „Ist es nicht ausdrucksstark? Diese Dynamik, einfach wunderbar, fantastisch…“, sagte der Mann im limonengrünen Anzug zu seiner Begleitung, die immer mal wieder nickte, wenn ein Adjektiv fiel.
    Epos in surreal hieß das Werk, vor dem sie standen. Viele verrostete Suppendosen, aneinandergeschweißt, hin und wieder klammerten sich an den Rändern pinke Wäscheklammern fest.
    Gerade dachte ich darüber nach, ob die Künstler oder doch eher die Besucher mal zum Psychologen müssten, kam einer meiner Bekannten auf mich zu und fragte: „Na, amüsierst du dich gut?“
    „Klar“, antwortete ich.
    „Fabelhaft, soll ich dir ein Glas Sekt besorgen, Liebes?“
    Ich nickte und schaute aus dem Fenster. Jenseits der Wirklichkeit dieser Räume strahlten von Wolken verdeckt die Sterne.

  • von Booklooker



    Ich bin aufgeregt. Schon in der Schule habe ich davon geträumt, dass ich einmal meine eigenen Fotografien ausstellen darf.
    Als ich 16 war habe ich, weil ich sauer war, Bilder von meinem Freund zerrissen. Einen Tag später - nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, fiel mir auf, dass es unglaublich aussieht, aus verschiedenen Portraitfetzen wieder ein neues Gesicht zu machen.


    Und heute ist es soweit. Ich habe eine Ausstellung in der Lagerhalle, ganz hier in der Nähe. Ich habe viel Arbeit in dieses Projekt gesteckt. Ob auch alle meine Freunde kommen? Was ist mit meinen Eltern? Sie waren nie einverstanden damit, dass ich mich lieber der Kunst zugewendet habe als richtig zu arbeiten. Es waren sehr harte Zeiten mit wenig Geld. Aber irgendwann wurde ich entdeckt. Zufällig. Bei einem Fotowettbewerb für eine Fachzeitung. Seitdem ging es immer nur bergauf. Alle meine Freunde haben bei meinen Experimenten mitgemacht und sind noch immer begeistert von meinen Ideen.


    Ich fühle mich so gut wie schon lange nicht mehr. Ich überlege mir jetzt schon, welche Projekte ich als nächstes in Angriff nehme.


    Was ist das für ein Geräusch? Es hört sich durchdringend an... Und warum fühle ich mich auf einmal so schlapp?
    Ich versuche, die Augen zu öffnen und finde mich in meinem Bett wieder. Bereit zum heutigen Arbeitstag. Ich habe noch sehr viel Arbeit im Büro liegen.
    Vielleicht sollte ich mir als nächstes überlegen, meinen Traum wahr werden zu lassen. Und nicht immer so viel zu zögern.

  • von Prombär



    „Aber Frau Krausemann! Sie können dieses Bild doch nicht ernsthaft zu diesem Wettbewerb einreichen wollen?! Es brüskiert mich! Na na… Sie müssen doch nicht gleich zu weinen anfangen. So beruhigen Sie sich doch! Ich geben Ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit, um ein neues Werk zu schaffen. Ich weiß, es ist nicht viel Zeit, aber Sie müssen verstehen, dass ich selbst in einer Notlage bin: Dieses Werk, wie Sie es nennen, beschämt unsere Universität. Ich kann nicht zulassen, dass unser Ruf durch eine einzige Studentin einen Schlag erleidet und glauben Sie mir, Ihr Werk würde Wellen schlagen… keine angenehmen Wellen, wie ich hinzufügen darf. Allerdings möchte ich keinen meiner Studenten ausschließen und Sie haben viel Potential, Frau Krausemann. Bündeln Sie Ihre Energie und schaffen Sie ein Meisterwerk. Und dieses… Bild... Nehmen Sie es mit, vernichten Sie es von mir aus, ebnen Sie den Weg für ihr wahres Ich. Ich denke nämlich nicht, dass ihm mit diesem Bild Genüge getan wird. Nun hören Sie auf zu weinen, machen Sie sich an die Arbeit… husch husch… Morgen um diese Zeit will ich ihr neues Werk vorgestellt haben.“


    Es war ein wunderschöner Tag, der Himmel war hellblau und Schäfchenwolken flauschten über die schier endlose Weide, brachten den Menschen den lang ersehnten Sommer.
    Doch das alles bekam Susanne nicht mit. Drei Pullover hatte sie an, darüber noch eine Jacke, ihre Füße steckten in zwei Paar Socken, sodass sie gerade noch in die Schuhe passten. Ihr war kalt. Zitternd räkelte sie sich gen Himmel und versuchte die Sonnenstrahlen einzufangen. Um Fassung bemüht, hüpfte sie von einem Bein auf das andere, um das lange Sitzen beim Direktor auszugleichen. Die Tränen brannten ihr in den Augen und als der Bus kam, nahm sie keinen Sitzplatz, was ihr seltsame Blicke einbrachte, doch daran war Susanne schon gewöhnt. Als sie ausstieg, stolperte sie über das schwere Bild, das sie müheselig hinter sich herzog. Obwohl sie nicht schwer gefallen war, schaffte sie es nicht ihren schwachen Körper zu heben und aufzustehen. Es war keiner da, der ihr die Hand reichen konnte, so versuchte Susanne auf allen Vieren zu ihrem Haus zu gelangen, ihr Bild über den Asphalt ziehend. An der Türklinke zog sie sich beschwerlich hoch, schleppte sich erschöpft ins Badezimmer, wo sie sich am Boden niederließ. Mit Mühe klappte sie den Toilettendeckel hoch, beugte sich über und wollte zitternd das ausführen, was sie sich die Tage zuvor verwehrt hatte. Da sie nie mehr als drei Orangen gegessen hatte, spuckte sie nur Blut.
    Weinend brach sie zusammen, wünschte sich, tot zu sein.


    Sie hatte sich selbst gemalt, so wie sie sich sah, ein kleines Häufchen weißegelber Farbe auf einer weißen Leinwand. Fließend verschwindend in dieser weiten Welt, weniger werdend, unberührt und federleicht, nach Perfektion strebend, aber immer unvollkommen, schwebend über die Erde gleitend.

  • von ninnie



    Ich hatte keine Ideen. Nein, falsch! Nicht nur keine Ideen, sondern gar keine Ideen. Vor meinem weißen Blatt saß ich nun schon Wochen. Mit der Zeit hatte sich eine Art Antipathie entwickelt. Je öfter ich dieses Blatt ansah, desto genervter war ich.
    „Na, wird das noch was?“ Mein Kunstlehrer wusste immer schon, wie man Salz in Wunden streut.
    „Klar. Ich warte auf die Inspiration.“ Pah, von wegen, das wird nix und das wusste ich ganz genau. Er vielleicht auch.
    „Na, dann warte mal nicht zu lange, in zwei Wochen ist Abgabe.“
    Ich lächelte und versuchte den Eindruck zu erwecken, als ob alles genau nach Plan verlief.
    „Aber selbstverständlich. Wenn die Muse erst mal küsst, läuft alles wie geschmiert.“ Ob er mir das nun glaubte oder nicht, damit war das Thema beendet und die Stunde glücklicherweise auch.
    In der Pause schlenderte ich, immer noch in Gedanken bei meinem weißen Blatte, durch den Pausenhof.
    „Was ist denn mit dir los?“, fragte Laura-Christin. Sie war eine Schülerin, die man hassen musste. Immer gute Noten, vorbildliches Benehmen und eine künstlerische Begabung, die für drei gereicht hätte. Aber hässlich wie die Nacht und das baute mich auf.
    „Nix“ Kurz und bündig, das musste genügen.
    „Du schaust so traurig.“
    „Lass mich in Ruhe, es ist alles ok.“ Musste man bei diesen Leuten immer so ausführlich werden?
    „Ist es wegen deinem Bild für den Kunstunterricht?“ Sie lächelte hämisch.
    „Nein, es läuft prima“
    Sie zog mich in eine Ecke.
    „Ich mal dir eins für 20 €.“ Das klang, als ob sie mir Drogen verkaufen wollte.
    „Was? Warum? Äh ich meine, machst du das öfter?“ Traue keinem, der was dealen will, sie könnte ein Spitzel sein.
    „Ja, mache ich, meist für die Oberstufe, die sind cooler drauf und können die Klappe halten. Wenn es rauskommt, sind meine tollen Noten im Arsch.“
    Ich konnte es nicht fassen, diese kleine Streberin dealte mit Kunstgegenständen. Und dann noch so günstig, da musste ich zuschlagen.
    Die nächsten zwei Wochen ließ ich mich im Kunstunterricht nicht mehr blicken. Arztbesuche, kleinere Atteste und eine ominöse Allergie ermöglichten mir den Ausfall.
    Dann war Abgabe.
    „Also wirklich Lena, das ist ja geradezu phantastisch!“ So euphorisch klang dieser Mann selten.
    „Ja, ich sag´s ja, wenn einen die Muse erst mal küsst.“
    „Ich könnte mir gut vorstellen, dass du für unseren diesjährigen Schulkalender die Illustration übernehmen könntest, das wirkt sich auch immer gut auf die Noten aus.“ Mit einem kleinen Augezwinkern kniff er mir kameradschaftlich in den Arm.“
    Na toll, das würde ja ein teures Schuljahr werden.

  • von Linda



    „Ach, das war schön, Darling! Wir sollten öfter ins Theater gehen“, sagte Stella und klappte die Speisekarte zu.
    „Ja, da hast du recht. Ich fand das Stück auch sehr gut.“
    Beide saßen im Restaurant und lächelten sich zu.
    „Danke für das gelungene Theaterstück!“, seufzte Stella und nahm seine Hände. Sie bestellten, und blickten sich tief in die Augen.
    „Alles okay, Liebling?“, fragte Paul.
    „Ja, ich denke an dieses Bild. Ich verstehe nicht, wie man sich über ein Bild, was ja Hauptgegenstand des Theaterstücks war, so streiten konnte.“
    Paul nickte. „Stimmt. Wegen eines so blöden Bildes darf man eine Situation einfach nicht derart eskalieren lassen.“
    „Wenn man es genau nimmt, dann war es ja gar kein Bild“, überlegte Stella.
    „Was meinst du damit?“
    „Na ja, es war rein weiß. Das ist auch gar kein Bild. Nur eine Leinwand.“
    „Aber sie war doch angemalt.“
    „Schon, aber nur weiß. Dann hätte man die Leinwand auch so lassen können.“
    „Gut, aber das ist eben Kunst, meine Süße.“
    „Das ist doch keine Kunst. Da hatte der eine Schauspieler schon recht. Wie sagte er? ‚Eine weiße Scheiße’.“ Stella fing an zu lachen, während Paul nur milde lächelte.
    Der Kellner kam und brachte den Weißwein.
    Stella gluckste noch immer. „Das war der beste Spruch zu diesem Leinwand-Ding.“
    „Ich weiß gar nicht, warum du da so lachst. Dieser Mann hat das Bild doch total beleidigt.“
    „Paul, das war kein richtiges Bild. Deshalb kann man es auch nicht beleidigen. Prost! Auf ‚Die weiße Scheiße’.“ Stella lachte laut los und schien sich nicht einzukriegen.
    Paul Miene blieb unbewegt. „Ich finde das überhaupt nicht komisch! Und darauf trinke ich auch nicht.“ Er nahm einen beherzten Schluck Wein und stellte das Glas sauer auf die Tischdecke.
    „Paul, nun sei doch nicht so. Du musst zugeben, dass es einfach kein richtiges Bild ist.“
    „Stella, auch auf die Gefahr hin, dass wir uns im Kreis drehen, wenn ich das jetzt wiederhole, aber: Es ist Kunst!!!“
    Erschrocken blickte sie Paul an. „Himmel, du brauchst nicht so laut zu werden.“ Sie nahm einen Schluck Wein und fügte hinzu: „Wegen so einer weißen Scheiße.“ Sie prustete wieder los und die Lachtränen liefen ihr die Wangen hinunter.
    Pauls Gesicht färbte sich rot. „Hör auf mit dem Unsinn!“, schrie er jetzt. „Noch ein Wort und ich gehe!“
    „Warum schreist du mich denn so an? Ich sage doch gar nichts.“
    „Doch, immer wieder fängst du mit dieser weißen Scheiße an! Es ist Kunst, verdammt noch mal!!! Ich gehe, du kannst alleine weiter essen. Ich habe keine Lust, den Tisch mit einer Frau zu teilen, die eine Kultur-Stümperin ist.“
    „Kultur-Stümperin?! Du hast sie ja nicht alle!“ Beide waren aufgesprungen und standen sich mit blitzenden Augen, den Tisch in der Mitte, gegenüber. Der Kellner versuchte, beide zu beschwichtigen und tänzelte um sie herum. Doch Stella und Paul waren so sehr in ihr Streitgespräch versunken, dass sie alles um sich vergaßen.


    Stella wohnt jetzt bei ihren Eltern, die beide Schauspieler sind und Paul bei seiner neuen Freundin, die Kunst studiert hat.

  • von Bott



    'Nein.'
    Schon wieder sehe ich die dicken, weißen Flocken vom Himmel regnen. An der Fensterscheibe laufen ihre geschmolzenen Seelen in kleinen Sturzbächen herab. Alle sagen, dass Schnee etwas Reines an sich habe. Finde ich nicht.
    Gerade habe ich noch in den schönsten Fantasien geschwelgt, wie ich meinem kümmerlichen Leben den Garaus machen könnte, und nun schneit es schon wieder.
    Während ich seufze erhebe ich mich und klappe das Buch, in dem ich gerade noch gelesen habe, geräuschvoll zu. Die Frau im Sessel gegenüber blickt nicht zu mir auf, aber ich sehe einen verärgerten Ausdruck über ihr Gesicht huschen, während sie kaum merklich eine Augenbraue hebt.
    Als ob ich sie gestört hätte.
    Diesen lächerlichen Liebesroman, den sie am Liebsten verschlingen würde, ist sogar unter ihrem Niveau. Sie musste zweimal in der letzten Stunde gegen die Tränen ankämpfen; Gott, wie erbärmlich.
    Sachlich, als ob ich ihre Reaktion nicht bemerkt hätte, packe ich das Buch in meine Tasche, seufze erneut als mein Blick zum Fenster wandert und mache mich auf den Weg. Zum Abschied nicke ich der Bibliothekarin distanziert zu. Sie lächelt mich an.
    Warum?
    Man lächelt Fremde nicht an. Schließlich könnte ich ein durchgeknallter Irrer sein, der sie bei der nächstbesten Gelegenheit kaltblütig töten will.
    Wer weiß?
    Jetzt lächle ich auch. Das wäre sicher eine gute Möglichkeit: 'Ich töte die Frau und werde verurteilt.' Noch während ich diesen Gedanken fasse, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich denke an Nadeln und Strom - nein, doch keine so gute Idee.
    Durch die Tür ins Freie.
    Gott, wie ich dieses Wetter hasse. Ich klappe meinen Kragen hoch und laufe in Richtung Auto.
    'Das wäre auch eine Möglichkeit: Der nächste Baum mit mehr als 100 Sachen.' Und wieder durchläuft mich der kalte Schauer von gerade eben - oder war es ein anderer? Dann denke ich an das Blut, mir wird schlecht - auch keine so gute Idee, stelle ich sachlich fest.
    Als ich gerade den Schlüssel aus der Tasche krame, trifft mich die Erkenntnis wie ein Faustschlag. Ich stecke ihn wieder ein, drehe mich um und laufe zurück in Richtung Stadt.
    Das weiße Zeug hat mittlerweile eine dünne, feuchte Schicht auf meinen Schultern hinterlassen. Verärgert darüber grunze ich und beschleunige meinen Schritt.
    Ich weiß jetzt, wie ich mein jämmerliches Dasein beenden kann.
    Ich hetze durch die milchigen, verlassenen Straßen. Dann sehe ich es: das Kunstmuseum.
    Ein triumphierendes Lächeln breitet sich in meinem Gesicht aus.
    Ich trete durch die tropfenbehangene Glastür, zahle an der Kasse und streife durch Ausstellungsräume, die mit armseligen Exponaten vollgemüllt sind. Als Vorfreude auf das Kommende, lasse ich mir mehr Zeit als nötig, die beinahe beleidigenden Kunstgegenstände zu betrachten.
    Letztendlich erreiche ich den Raum, in dem die Statuen stehen.
    'Ich werde einer von ihnen', singe ich stumm, während ich in ihre steinernen Gesichter blicke.
    Ich stelle mich neben einen felsigen Heini. Ich bin mir sicher, dass er nichts dagegen haben könnte, Gesellschaft zu bekommen.
    Also bringe ich mich in die richtige Position und halte die Luft an.

  • von Leserättin



    Der Hammer sauste herab. Ein Zucken ging durch den Körper des im Hintergrund stehenden Mannes, als der Auktionator den Zuschlag gab. Der Käufer trat vor. Es war ein älterer Herr in derber Arbeitskleidung. Sie schüttelten einander die Hände, dann bekam der Auktionator ein Ledersäckel ausgehändigt und der Käufer das mit einem Leinentuch nun wieder verdeckte Gemälde.
    Der Beobachter schluckte, doch seine Kehle blieb trocken. Das Bild war so viel mehr wert. Genau wie die anderen, die bereits unter den Hammer gekommen waren. Und mit jedem Bild, das versteigert wurde, starb ein kleines Stück von ihm.
    Die Auktion war vorbei, die Menge zerstreute sich. Frauen tuschelten miteinander und der letzte Käufer streifte so nah an ihm vorbei, dass er den Fischgeruch wahrnehmen konnte, der ihm anhaftete.
    Er rümpfte die Nase. Ein Fischhändler. Ausgerechnet ein Fischhändler hatte sein liebstes Werk gekauft. Und wie die anderen alle würde es nun auch bei jemandem hängen, der von Kunst nichts verstand und nicht ermessen konnte, wie es gewesen war, dieses Werk zu schaffen.
    Eine Berührung an seinem Ellbogen ließ ihn zur Seite sehen.
    „Mijnheer van Rijn?“ Der Mann, der fragte, mochte etwa in seinem Alter sein.
    „Sie müssen mich verwechseln.“ Rasch ging er davon. Zu groß die Scham, die Schande, verarmt zu sein. Doch irgendwann, da war er sich sicher, würde man ihn und seine Werke wieder so zu schätzen wissen, wie in seinen Hochzeiten. Dann würde man ihn feiern, ihn, Rembrandt, den großen Künstler.

  • von Tom



    Wir sind ein Traumpaar, das sagen alle. Britta ist wunderschön, erfolgreich in ihrem Job als Personalchefin, außerdem hat sie Humor. Das weiß jeder. Ich weiß, dass sie zärtlich ist, romantisch, aber auch experimentierfreudig und manchmal richtig versaut. Wir sind seit zwanzig Jahren zusammen. Wenn ich auf Geschäftsreise bin, und das bin ich alle zwei Wochen, telefonieren wir fünfmal am Tag. Jedes Gespräch endet damit, dass wir uns so lange "Ich liebe Dich" sagen, unter wechselnder Betonung der verschiedenen Worte, bis einer lachen muss. Erst dann legen wir auf.
    Kati ist nichtssagend. Sie hat eine Durchschnittsfigur, ihre Nase ist ein ganz klein wenig krumm, ihre Augen sind straßenrandgrau und besonders schlau ist Kati auch nicht. Manchmal dauert es ein paar Sekunden, bis sie über einen Witz lacht. Kati ist meine Assistentin. Wenn ich auf Geschäftsreise bin, begleitet sie mich meistens. Kati trägt gerne kurze Röcke und Nylonstrümpfe. Ich liebe kurze Röcke und Nylonstrümpfe. Kati ist unverheiratet und zwei Jahre jünger als Britta.
    Wir sind in Essen, haben einen langen, anstrengenden Termin hinter uns, mein Magen dröhnt und Kati kichert, wenn unsere Verdauungsapparate gleichzeitig rebellieren. Es ist kalt, zwei Grad unter Null, aber sie trägt trotzdem einen kurzen Rock und Nylons. Wir einigen uns darauf, eine Dönerbude zu suchen und danach irgendwo ein Bier zu trinken. Nach einem solchen Termin kann man nicht einfach schlafen gehen.
    "Mit alles?", fragt der Dönermann, da muss Kati schon wieder kichern. "Mit alles", bestätige ich, und Kati prustet. Der Mann gibt mir mein Sandwich, ich balanciere es in einer Hand, und versuche mit der anderen, meine Geldbörse aus der Gesäßtasche zu ziehen. Der Döner fällt mir fast runter, Kati macht einen hastigen Schritt auf mich zu, hält meine Hand fest, und dabei berühren sich unsere Oberschenkel. Durch den dünnen Stoff meiner Anzughose kann ich ihre Strümpfe spüren, und ich höre das Geräusch, das wir bei der Berührung verursachen. Das Knistern kommt mir laut vor, und ich merke, dass ich erröte. Katis Gesicht ist nur eine Kondomlänge von meinem entfernt. Sie hält die Berührung der Oberschenkel. Dann errötet sie auch, macht einen Schritt zurück und kichert wieder. Der Dönermann zwinkert und reicht Katis Essen über den Tresen. Ich zahle und wir gehen in Richtung Hotel. Dabei mampfen wir unser Fastfood, ich gehe vorgebeugt, damit mir die Knoblauchsauce nicht den teuren Anzug versaut.
    Kati lacht. "Nein, nicht so", sagt sie. "Schau mal." Sie zeigt mir, wie man den Döner beidhändig in der Papierverpackung hält und dann abbeißt, ohne dass die Sauce herausquillt. Ich nicke und ahme die Bewegungen nach. Das ist der Moment, in dem ich beschließe, Britta zum ersten Mal zu betrügen.


    Wir waren ein Traumpaar, Britta und ich.
    Aber man kann Döner nicht essen, ohne sich mit Knoblauchsauce zu bekleckern. Wer etwas anderes behauptet, ist ein Lügenmaul.

  • von Aqualady



    Rebecca saß gedankenverloren vor ihrem leeren Blatt. Die Ideen schwebten durch ihrem Kopf, als warteten sie darauf eingefangen zu werden. Als wollten sie ihren Platz in der Geschichte finden.
    Ihr fiel die Unterhaltung ein, die sie bei ihrem letzten Werk mit Henry geführt hatte …


    „Schreib doch einfach. So schwer kann das doch gar nicht sein, oder?!“
    Sie schüttelte den Kopf. „Meinst du eine Geschichte lässt sich mal eben schreiben? So viele Gedanken und Ideen, die in die Geschichte gewoben werden müssen; die Kunst, die Worte auf das Papier zu zaubern. Hast du es je ausprobiert?“
    „Nein, warum sollte ich. Ich weiß ja sowieso, dass ich das könnte.“, sagte ihr Gegenüber und streckte eigensinnig das Kinn vor.
    „Ach ja?“, fragte Rebecca und zog die linke Augenbraue hoch.
    „Natürlich. Kunst, pah! Das ist doch wie auswendig lernen. Jede Geschichte besteht doch aus denselben Wörtern. Die Worte sind gleich, alles wird nur immer und immer wieder in eine andere Reihenfolge gesetzt. Schau dir beispielsweise deine Bücher an. Alle Autoren haben die gleichen Worte zu Verfügung wie du“, sagte er. Seine Worte klangen triumphierend.
    „Dieselben Worte, ja. Aber die Bedeutung hinter den Worten ist nie gleich. Der Hintergrund, das was der Künstler sich denkt, ist es, was die Kunst des Schreibens ausmacht“, versuchte sie ihm zu erklären. Aber er blieb stur: „Ich könnte eine Geschichte schreiben“, meinte er, „sag mir worüber ich schreiben soll und ich werde es machen.“
    Rebecca schüttelte innerlich den Kopf. Ideen konnten nicht erzwungen werden. Sie kamen und gingen, wie sie wollten. Sie gab es auf, ihm erklären zu wollen, dass man das Ganze in einem anderen Licht sehen müsse. „In Ordnung. Dann schreib mir eine Geschichte über das begreifen von Dingen. Über die Auffassung der Menschen, über deine Eigene.“
    „Alles klar“, beschloss er, drehte sich um und spazierte leichten Fußes aus dem Raum. Als er schon fast aus der Tür war, drehte er noch einmal den Kopf und sagte über seine Schulter hinweg: „Ich bringe dir morgen Vormittag mein Geschichte.“
    Als er am nächsten Tag an ihre Zimmertür klopfte, schaute sie rasch auf und bat ihn herein.
    „Na, dann zeig mal das Werk, das du mir versprochen hast“, forderte Rebecca und wartete gespannt darauf, dass er eine Ansammlung von Blättern aus seiner Tasche zog.
    „Ich glaube, du hattest Recht“, gab er zu, als er ihr verlegen die Blätter reichte, auf denen sich nur einige wenige durchgestrichene Sätze befanden.


    Plötzlich hatte sie einen Einfall. Es war, als hätte sie eine ihrer, im Kopf umherschwirrenden Gedanken eingefangen.
    Wie eine Eingebung überkam es sie und sie setzte diese mit Hilfe von Worte zu einem neuen, einzigartigen Kunstwerk zusammen.

  • von churchill



    „Angeklagter, Sie sind ohne einen Verteidiger erschienen. Wollen Sie sich selbst verteidigen?“
    „Ich habe nicht vor, mich zu verteidigen. Es ist da nichts, was zu verteidigen wäre.“
    „Die Vorwürfe sind hart. Es geht um Sachbeschädigung und schwere Körperverletzung. Sie riskieren viel, wenn Sie auf Verteidigung verzichten.“
    „Risiko ist eine subjektive Größe.“
    „Kommen wir zu den Fakten: Sie werden beschuldigt, in der Passionskirche die Orgel zerstört und mit den herausgebrochenen Pfeifen Besucher der Kirche schwer verletzt zu haben. In Gutachten ist von Gehirnerschütterungen und Platzwunden die Rede.“
    „Gutachten sagen etwas über Gutachter aus. Ob etwas zu erschüttern war, bezweifle ich.“
    „Angeklagter, räumen Sie denn die Vorwürfe ein? Sachbeschädigung? Körperverletzung?“
    „Absicht und Wirkung lassen sich meiner Überzeugung nach nicht juristisch verhandeln.“


    „Sie sind ein schwieriger Fall. Versuchen wir es anders: Sie wurden eingeladen, in der Passionskirche ein Konzert zu geben. Die Menschen kamen mit höchsten musikalischen Erwartungen. Ihnen eilt der Ruf eines erstklassigen Musikers voraus.“
    „Ich holte ihn stets ein.“
    „Am Anfang verlief das Konzert offensichtlich völlig normal.“
    „Einspruch. Es verlief im Einklang mit gewissen Erwartungen.“
    „Ich lese hier von jubilierendem Orgelspiel, die Menschen waren entzückt“
    „Korrekt. Das war zu erwarten.“
    „Aber dann: Sie spielten völlig atonal. Die Besucher dachten, Sie seien an der Orgel zusammengebrochen, es war nur noch ein, ich zitiere, „Klangbrei“ zu vernehmen. Unruhe machte sich im Publikum breit.“
    „Selbstverständlich.“


    „Hatten oder haben Sie gesundheitliche Probleme? Entsprechende Gutachten wären wichtig für das Strafmaß.“
    „Über Gesundheit von Organist, Publikum oder Gericht möchte ich hier nicht spekulieren.“
    „Zügeln Sie sich!“
    „Ist Zügeln eine Tugend?“
    „Also: Sie spielten nach Zeugenberichten eine halbe Stunde lang völlig falsch und ohrenbetäubend schrecklich.“
    „Unzutreffend. Was hier bezeichnenderweise als falsch wahrgenommen wurde, dauerte exakt dreiunddreißig Minuten“.


    „Und dann kam es zur Gewalttat. Trifft es zu, dass Sie Backsteine auf die Tasten legten, selbst den Orgeltisch verließen, Pfeifen aus der Orgel herausrissen und gezielt von der Empore auf die Besucher warfen?“
    „Ansatzweise. Ich legte auch Backsteine auf die Pedale und fixierte das Schwellwerk. Gezieltes Werfen trifft nicht zu. Die Sicht war schlecht. Immerhin ist die Empore zwanzig Meter hoch. Darüber hinaus waren ja nicht mehr so viele Menschen in der Kirche.“
    „Weiter heißt es, dass es plötzlich still war. Gleich danach flogen noch Backsteine die Empore herunter ...“
    „Das ist logisch. Durch das Wegnehmen der Backsteine vom Spieltisch kam es zu der einkalkulierten Stille von einigen Sekunden, bevor es dann wieder lauter wurde.“
    „Ja, durch die Schreie der Menschen, die von den Orgelpfeifen und Steinen getroffen wurden!“
    „Richtig. Es war fantastisch.“


    „Fantastisch? Angeklagter, abgesehen davon, dass das Konzert den Besuchern schon zuvor nicht gefallen hatte: Es geht hier um Körperverletzung. Wenn nicht sogar um versuchte Tötung!“
    „Gefallen? Streben nach Gefälligkeit ist versuchte Tötung. Tötung der Wahrheit.“
    „Ich stelle fest, der Angeklagte ist nicht willens, seine Schuld einzuräumen. Das Gericht wird sich zur Beratung zurückziehen. Angeklagter, Sie haben das letzte Wort.“
    „Konsequenz siegt über Bestrafung.“
    „Konsequenz?“
    „Das Thema des Konzerts war mir doch vorgegeben: Hosianna – Kreuzige ihn!“

  • von arterii



    Am frühen Morgen fuhr ein kleiner Lastwagen durch den Park, in dem ich für gewöhnlich meinen Spaziergang mache. Der Wagen hielt an einer kleinen grasbewachsenen Anhöhe. Zwei Männer stiegen aus und transportierten etwas großes, verpacktes Längliches den Hügel hinauf. Der Gegenstand, den sie aufstellten, war höher als ein Mensch und so dick wie der Stamm einer Buche. Nachdem die beiden Männer das Objekt in die Senkrechte gebracht hatten, zogen sie mit vereinten Kräften an der Abdeckplane und zum Vorschein kam ein...


    Ja, was eigentlich? Ein Ding. Ein langes, hohes, weißes, glattes Ding mit einer sich nach oben verjüngenden, abgerundeten Spitze. Es stand leicht schräg und zeigte direkt in Richtung Sonne. "Hier bin ich!", schien es stolz auszurufen: "Seht mich an und bewundert mich".


    Ich fand das Ding etwas unheimlich und beschloss, es erst einmal aus sicherer Entfernung zu beobachten. Nachdem die Männer wieder davongefahren waren, legte ich mich ins Gras und sah, wie sich auf dem Parkweg eine ältere Frau mit einem kleinen Bengel an der Hand näherte.


    Die Frau betrachtete das Ding nur kurz aus dem Augenwinkel um anschließend stur geradeaus daran vorbei zu schauen. Dabei beschleunigte sie ihre Schritte und zog den Jungen hinter sich her. Der wollte aber stehen bleiben und betrachte mit großen, staunenden Augen das eigenartige Objekt: "Was ist das Oma?" fragte er die Frau. Die antwortete nicht, sondern zog ihn ziemlich unsanft weiter.


    Nun kam ein Paar mittleren Alters an der Anhöhe vorbei. "Schau mal Thomas", sagte die Frau "Welch glanzvolle Ästhetik, imposante Anmut und kraftvolle Eleganz es ausstrahlt".
    "Mich erinnert es eher an ein ...", antwortet der Mann, ohne den Satz zu vollenden. Die Frau schaute ihn missbilligend an. "Typisch. Du musst gleich wieder an sonst was denken".


    Eine Gruppe halbwüchsiger Mädchen kam herangeradelt. "Was soll 'n das sein?", kreischte die eine. "Ein Prachtexemplar", kicherte eine andere. Räder flogen ins Gras und die vier Teenager stürmten die Anhöhe hinauf. Ein Mädchen umarmte das Ding unter dem Lachen ihrer Freundinnen und versuchte daran empor zu klettern. "Lass mich auf Deine Schultern", sagte sie zu einer Gefährtin. Als sie oben angelangt war, klammerte sie sich an der Spitze fest und griente zu ihren Freundinnen hinunter.


    "Halt!", rief ein anderes Mädchen mit ernster Stimme. "Mach es niemals ohne!". Sie schleppte eine Plastiktüte heran und reichte sie der Freundin hinauf, die sich immer noch oben festhielt. "Du hast Recht", antwortete diese und zog die Tüte über die Spitze des Gebildes. Dann sprang sie herunter und unter lautem Lachen schnappten die Mädchen ihre Fahrräder und radelten davon.


    Nun war ich allein bei dem Ding. In der Ferne sah ich, wie sich ein Mann mit einem Labrador-Rüden näherte. Jetzt musste ich schnell handeln. Ich preschte die Anhöhe hinauf und schnupperte an dem Sockel, auf dem es stand. Ich hob das rechte Hinterbein und setzte meine Reviermarke. Nun gehörte es mir. Mit langen Sätzen hetzte ich über die Wiese. Irgendwo dort hinten musste mein Herrchen auf einer Bank sitzen.

  • von kamikazebaer



    Wie fast jeden Sonntag führte mich der Spaziergang zu meinem Lieblingsplatz am Strand. Das Tosen der Wellen war bereits aus einiger Entfernung zu hören. Die wärmende Wintersonne breitete sich wohltuend auf meinem Rücken aus. Von einem unsichtbaren Taktstock geführt, wiegte sich das Gras auf den Sanddünen im Gleichklang der kreischenden Möwen. Beim Weitergehen wurde das Rauschen der Wellen lauter. Der Wind, der mir vom nahen Meer ins Gesicht wehte, hinterließ einen salzigen Geschmack auf meinen Lippen. Noch ein paar kleine Schritte auf dem knirschenden Sand, mein angestrebtes Ziel wurde sichtbar. Vor mir erhob er sich in den Himmel.


    Schlank, rund, rot.


    Diesmal wurde nicht das gewohnte Bild eines roten Riesen, der sich meterhoch in den Himmel ausdehnte sichtbar - überraschenderweise war er vom Boden bis hinauf zur äußersten Spitze mit einem perlmutfarbenen Weiß überzogen. Schicht für Schicht hatten sich Eiskristalle zusammengefügt und ihm ein frostiges, mit Eisdiamanten besetztes Negligé, angezogen. Die ungleichmäßigen Ränder erinnerten an Brüsseler Spitze. Nur an wenigen Stellen blitzte schamvoll noch ein Rest seiner ziegelroten Sommergarderobe hervor. Stalaktitenartige Eiszapfen schmiegten sich um die Brüstung, wie eine Perlenkette um den Hals einer schönen Frau. Die arktische Kälte und der pfeifende Wind der letzten Tage hatte blendende Arbeit geleistet.


    Aus dem Leuchtturm war eine wundervolle Eisskulptur entstanden.

  • von Wilma Wattwurm



    Du bist ein Versager. Ein unverbesserlicher Spinner. Ein Loser. Hat Annelou gesagt. Ehe sie die Tür hinter sich schloß. Endgültig.
    Sie hat mich nie verstanden.


    Ein Loser, ich? Nein doch.
    Ich bin ein Künstler, ein verkanntes Genie.
    Sie hat doch nicht ernsthaft geglaubt, mich zum Spießbürgertum umerziehen zu können?


    Da sitze ich nun mit meiner halbvollen Flasche vor einer völlig leeren Leinwand.
    Ich werde es ihr zeigen. Werde es ihr beweisen. Werde es allen beweisen.
    Hoch die Flasche! Prost!


    Es hat keinen Sinn, deine Probleme in Alkohol zu ertränken, würde Annelou sagen. Das war einer ihrer Lieblingssprüche.
    Haha! Da kennt sie allerdings meine Probleme schlecht. Sorgen und Probleme sind perfekte Schwimmer. Wußte Musil schon.


    Gekleckse hat sie meine Bilder genannt. Nichtssagende Schmierereien.
    Als ob sie was von Kunst verstehen würde. Hat sie doch das Studium an der Akademie nach dem dritten Semester geschmissen.


    Kunst, echte Kunst, wird meist geboren aus Begierde, Trauer, Schmerz und Leid.
    Kunst ist die Sehnsucht nach einer Ausdrucksform, die die Grenzen zwischen der Wirklichkeit und den innersten Phantasien verwischt. Die Grenze zwischen Tradition und neuen Wegen. Zwischen Imitation und Authenzität. Eine rebellische Romanze zwischen Leidenschaft und Harmonie. Ein Drahtseilakt der Farben, Formen und Strukturen.


    Kurzum: Kunst ist die Revolution der Phantasie.
    I’ll drink to that! Cheers!


    Okay, fangen wir an:
    Der Hintergrund in Mitternachtsschwarz. Mit ein paar schwefelgelben Tupfern.
    Es brodelt und zischt in meiner Brust. Etwas will da raus. Ich kenne das Gefühl. So kündigt sich das an, was ich heimlich meine manisch-kreative Phase nenne.
    Heute wird es mir gelingen. Heute springe ich über meinen eigenen Schatten. Heute male ich mir die Seele aus dem Leib.
    Zickzack-Gefühle in Crimson und Kobaltblau. Die Hoffnung in Ultramarin mit zarten Pinselstrichen.
    Dick aufgetragen mit Cyan, Purpur und Kadmiumorange die Sehnsüchte und Leidenschaften.


    Noch ein Schluck, gleich sieht alles viel besser aus.


    Weiter in Ultramarin, Magenta und lichtem Ocker die Zukunftsträume.
    Dazu kontrastierend in Vandykebraun und Indischgelb die Verankerung ins Hier und Jetzt.


    Nazdrowie! Darauf trink ich noch einen Schluck.


    Nanu, schon wieder leer? Macht nichts. Venceremos! Auf zur nächsten Flasche!
    Shit, der Korken will nicht raus. Wirst du wohl! Dann eben mit Gewalt.
    Oh je, das war die Fensterscheibe.
    Egal, die Scherben räum ich nachher weg. Hauptsache die Flasche ist offen.


    Was ist das? Blut?
    Kommt das von mir? Shit, ich hab mich wohl geschnitten.
    Upps, lauter Spritzer auf der Weinland. Pardon, auf der Leinwand meine ich natürlich.
    Wow, das Dunkelrot hat noch gefehlt. Jetzt ist es perfekt. Ein paar Pinselstriche hier und da. Fertig.
    Blutende Glassplitter, vermischt mit dem Farbenkrieg der Gefühle. Ein Bild aus dem Leben gegriffen.
    Mein Meisterwerk: die Revolution der Phantasie.


    Aha, mein Handgelenk hat was abbekommen. Faszinierend, wie das pulst und spritzt.
    Obwohl, es wird doch nicht die Schlagader sein? Ist doch ein bißchen viel Blut.
    Wie macht man das doch gleich wieder, mit dem Daumen der anderen Hand abdrücken bis es aufhört?


    Mist, was nun? Ich glaube mir wird schlecht. Vielleicht sollte ich dochhh...

  • von flashfrog



    Die Perlenkette kam zu Fall
    ins Stroh in einem Schweinestall.
    Ganz unbemerkt fiel sie dort hin,
    herab vom Hals der Bäuerin,
    nachdem beim Bücken die entblößte
    Öse sich vom Haken löste.


    Die Kettenperlen sind sehr fein,
    so schimmernd weiß, perfekt und rein,
    ein Meisterwerk, so rund und blank.
    Ein ganzes Muschelleben lang
    in dunkler Unterwasserwelt
    wird jede einzeln hergestellt.


    "Was mag das sein?", wird da geraunt.
    Die Schweine heben höchst erstaunt
    die Nasen aus den Futterschüsseln,
    das Ding voll Neugier zu berüsseln,
    und in die Schnauzen rein zu stecken –
    es scheint jedoch nach nichts zu schmecken.


    "Geschmacklos!", quiekt ein fettes Schwein,
    "Und hässlich ist es obendrein!"
    Da hängt sich seine eitle Base
    die Kette auf die Schweinenase.
    Ihr Urteil zählt, weiß sie genau,
    als junge, trendbewusste Sau.


    Die dritte schnauft, entrüstet sich:
    "Sie machen sich ja lächerlich!"
    "Ich glaub, es treibt Sie nur der Neid!"
    "Grotesk, abscheulich, tut mir Leid,
    das Ding da wollt ich nichtmal haben
    um mir den Rücken dran zu schaben!"


    Die vierte mahnt, sich zu besinnen:
    "Die wahre Schönheit kommt von Innen.
    Ästhetik ist Brimborium!
    Wenn ich die Augen schließe, um
    das Paradies mir auszumalen –
    das Schönste sind Kartoffelschalen."


    Als Sau von Welt kennt sie sich aus.
    Die andern grunzen ihr Applaus.
    Die Kettennase überlegt.
    Dann quiekt sie laut und tiefbewegt:
    "Sie haben Recht!", die Äuglein strahlen,
    und seufzt verzückt: "Kartoffelschalen!"


    Die üble Kette wirft sie weg
    und angewidert in den Dreck.
    Das Perlendingsbums wird gemieden,
    das scheint nun allgemein entschieden.
    Sie ignorieren es zur Gänze
    und kehren ihm die Ringelschwänze


    Es hat die Elster dem Geschehen
    vom offnen Fenster zugesehen.
    Im Stroh, da sieht sie etwas blinken.
    Und mag es auch nach Gülle stinken,
    sie fliegt und greift die Perlenschnur.
    Das Tier versteht was von Kultur.

  • von Sinela



    „Wow, sieht der Kerl da hinten nicht verboten gut aus?“
    Drei Frauenköpfe flogen regelrecht in die angegebene Richtung.
    „Was ein Traum!“
    „Der wäre was für meine Mutters Tochter.“
    Mit schmachtenden Blicken beobachteten die vier Frauen das Objekt ihrer Begierde. „Ich glaube es nicht, da kommt Sonja.“
    „Oh nein! Da können wir uns den Kerl abschminken“, seufzte Birgit. „Ich verstehe einfach nicht, warum sie soviel Erfolg bei Männern hat. Schaut sie euch doch mal an: Kurze braune dünne Haare, Nickelbrille, ein 08/15-Gesicht, dazu auch nicht gerade die Schlankeste – wieso nur um alles in der Welt fahren die Kerle so auf sie ab?“
    „Psst...“
    „Hi Mädels. Habt ihr den coolen Typ an der Bar schon gesehen?“
    „Wo denn?“
    „Nee..“
    Sonja lachte.
    „Nun tut nicht so. Ihr habt ihn bei meinem Kommen ja regelrecht mit den Blicken verschlungen.“
    „Ach so, den meinst du. Na ja, geht so.“
    „Wenn das so ist und ihr kein Interesse habt, dann werde ich ihn mir angeln. Wird bestimmt eine geile Nacht. Übrigens Mädels: Der Erfolg bei Männern ist in erster Linie nicht von einem heißen Äußeren abhängig, viel wichtiger ist, dass ihr die Kunst des Verführens beherrscht. Ich kann euch bei Gelegenheit ja mal Nachhilfe geben. Ciao-Ciao.“
    Zähneknirschen sahen die vier Freundinnen zu, wie Sonja sich an den in ihren Augen absoluten Traummann ranmachte und kurze Zeit später das Lokal mit ihm verließ.


    In der Kantine des Arbeitsamtes ging es rund. Die vier Freundinnen waren auf der Suche nach einem Platz an dem sie ihr Mittagessen zu sich nehmen konnten.
    „He, schaut mal, da hinten, da sitzt Sonja.“
    „Und neben ihr ist noch Platz.“
    „Och ne, muss das wirklich sein?“
    „Es muss! Zum einen habe ich keinen Bock, mein Essen kalt zu mir zu nehmen und außerdem will ich wissen, wie ihre Nacht mit unserem Traumboy war.“
    „Hey Mädels.“
    „Hi Sonja. Los, erzähl, wie war`s?“
    „Euer Essen wird kalt. Man sieht sich.“
    Sonja wollte aufstehen, doch Margit hielt sie am Arm fest.
    „Drücken gilt nicht. Rück schon mit der Sprache raus. Wir sterben sonst vor Neugier.“
    Unwillig schaute Sonja die Vier an.
    „Na ja gut, wenn ihr es unbedingt wissen wollt: Es war der totale Reinfall. Thomas, so hieß der Typ, war unheimlich charmant, aufmerksam, lieb, hätte mich glatt in ihn verlieben können. Wir sind zu ihm gegangen, er legte Schmusemusik auf und dann küssten wir uns.“
    „Und weiter, mach es doch nicht so spannend!“
    „Er entkleidete mich langsam und ich ihn auch. Dann taumelten wir ins Schlafzimmer und fielen auf sein Bett. Er streichelte mich, unendlich zärtlich, ich schwebte in den höchsten Höhen.“
    „Und dann?“
    „Dann hat sein Penis den Geist aufgegeben.“
    Ungläubiges Staunen folgte ihren Worten.
    „Ist nicht wahr, oder? Bei so einem durchtrainierten Körper?“
    „Wenn ich es sage! Ich bearbeitete ihn mit meinen Mund, der Zunge, meinen Händen, nichts ging mehr. Es war einfach nur frustrierend.“
    Sonja seufzte.
    „He, was gibt es da zu grinsen?“
    Die vier Freundinnen sahen sich an und erwiderten unisono: „Künstlerpech!“

  • von Asrai



    Ich mag keine Kunst. Zumindest nicht diese ewigen alten Meister. Ich sage das so offen, weil ich andauernd mit ihnen zu tun haben muss. Als ich jung waren, da waren sie noch richtig chic, aber inzwischen... Falls Sie sich nun fragen, warum ich sie denn dauernd sehen muss, kann ich Ihnen nur antworten: Ich wusste einfach nicht, worauf ich mich damals einließ...


    Ich begegnete ihm das erste Mal auf einem Empfang. Mein Vater war eingeladen und er dachte, ich sollte mal wieder unter Leute kommen, ich erinnere mich nicht mehr, weshalb eigentlich. Da stand er, in ein tiefgründiges Gespräch mit einer Topfpflanze vertieft, wie mir zunächst schien. Unsere Gastgeberin steuerte schnurstracks auf ihn zu:
    „Mein Liiieeeber!“, flötete sie und er drehte sich überrascht um und ließ den Stift sinken. „Ich muss Ihnen un-be-dingt diese junge Dame vorstellen!“
    Ich reichte ihm freundlich die Hand, die er mit einem etwas abwesenden Lächlen bedächtig schüttelte.


    Er war Künstler und da mein Vater gerne und schlecht zeichnete, dies aber nicht einsehen wollte, kam er öfter zu uns, um Vater zu beraten und nicht zu kränken.
    Er brachte meinen Vater sogar soweit, dass ich ihm für einige Skizzen Modell sitzen durfte. Immer wieder saß ich ihm Modell, denn er war nie zufrieden, mit dem, was er zeichnete.
    Irgendwann aber nickte er dann und fragte mich, ob ich bereit wäre, ein richtiges Bild von mir malen zu lassen? Natürlich! Konnte auch nicht langweiliger sein...
    Aber er sah mich ernst an.
    „Das ist etwas ganz anderes als diese schnellen Skizzen hier“, erklärte er mit einer wegwerfenden Handbewegung Richtung Papierstapel. „Ein Gemälde muss die Seele eines Menschen erfassen, sonst ist es sinnlos. Und es dauert.“
    Mein Vater war so sehr von der Idee begeistert, ein Bild von mir zu haben, dass ich nur einwilligen konnte.


    Aber es war langweilig. Schicht um Schicht, immer neue Veränderungen und Korrekturen. Irgendwann protestierte ich, da malte er dann einfach nach seiner eigenen Nase, so dass diese meiner nicht mehr ganz ähnlich sah.


    Und dann war das Bild endlich fertig.
    Mein Vater fand es toll, aber etwas befremdlich und so schenkte er es bald seiner Schwester. Als diese starb, konnten ihre Kinder nichts damit anfangen und verkauften es. Tja, so schnell gerät man eben in Vergessenheit...
    Solange es in immer anderen, lebendigen Wohnzimmern hing, war es ja nicht so schlimm, aber ein Museum? Sagen Sie, haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, wie furchtbar es ist, sich länger als ein durchschnittlicher Besucher in einem Museum aufzuhalten? Immer auf die selben alten Schinken zu starren? Und immer dieselben Worte zu hören?


    „Warum lächelt die so?“


    Wieso denn lächeln? Grinse ich denn nicht inzwischen gequält? Außerdem möchte ich wirklich gerne wissen, wer mir armer, gefangener Seele den Namen „Mona Lisa“ gab...

  • von lesefieber



    Als er zur Welt kam war sofort allen klar, dass es sich bei ihm um ein besonderes Baby handelte. Er hatte so einen ungewöhnlich stechenden Blick, mitten in die Augen seiner Betrachter, als würde er ihre Gedanken lesen. Das tat er auch. Er galt als entführtes Kind, doch die Trauer der Eltern war gar nicht echt, sie hatten eine immense Summe kassiert als sie ihn den gut gekleideten Männern übergaben. In seiner Jugend genoss er nebst einer hervorragenden Schulbildung auch ganz andere Ausbildungen. Das waren Dinge wie Waffenkunde, diverse Kampfsportarten, etliche Sprachen, die Methoden des Tötens und noch vieles mehr, das kaum jemand weiss.



    Seine Gabe des Gedankenlesens wurde verfeinert, er ist ein angenehmer unauffälliger Gesprächspartner. Aber im Grunde genommen ist er eine Maschine, eine Präzisionsmaschine, einen Auftrag führt er immer zuverlässig zu Ende. Heute gilt er als lebende Legende, das wissen alle. Doch niemand weiss jeweils genau, für welchen Auftraggeber er agiert. Aber wenn eine Sache von ihm erledigt wird, dann ist sie geprägt von seinem unvergleichlichen Stil. Er lebt nur für den nächsten Job, es gibt für ihn nur den zu erledigenden Auftrag. Sein Zielpublikum hat leider keine Chance mehr zu erkennen, dass er schlicht und einfach der Beste ist, aber immerhin dürfen sie stolz sein, zu seinem Gesamtwerk zu gehören, denn in der Branche nennen sie ihn „den Künstler“.