Ich habe selten ein Buch dabei, wenn ich unterwegs bin, das Leben um mich herum ist mir in der Regel Reiz genug. Diese Buch gehört zu den wenigen Ausnahmen. Kaum begonnen, konnte ich mich nicht mehr davon trennen, gleich, wo ich hinging. Das Leben, das Hemingway in seinen Geschichten schildert, hat an Eindringlichkeit und Echtheit alles andere überlagert.
Der Titel ist eigentlich irreführend, es handelt sich hier nicht um eine Zusammenstellung aller Short Stories von Hemingway. Der Untertitel ist genauer: The First 49 Stories, also nur ein Teil seiner Geschichten.
Die Ersten 49 Geschichten erschienen in dieser Form zum erstenmal 1938. Hemingway, gerade Ende Dreißig, war bereits berühmt. Vier Romane, darunter zwei Bestseller, zwei Tatsachenberichte, über den Stierkampf und über Großwildjagd in Afrika, und fünf Sammlungen von Erzählungen lagen vor, die Summe von dreizehn Jahren Arbeit als Schriftsteller. Die gesammelte Veröffentlichung all seiner bisherigen Short Stories war tatsächlich seinem Ruhm geschuldet.
Für heutige Leserinnen und Leser ist die Ausgabe ein guter Einstieg in Hemingways Art und Weise zu erzählen, eine Art Aussichtsplattform im Verlauf einer Schriftsteller-Karriere. 49 Geschichten, also, von seiner allerersten aus den frühen Zwanzigern‚ Oben in Michigan/Up in Michigan bis zur damals jüngsten Alter Man auf der Brücke/Old Man At The Bridge, die erst kurz vor Erscheinen des Buchs entstand.
In einer knapp anderthalbseitigen Einführung gibt Hemingway ein paar wenige Hinweise zur Bedeutung der Orte, an denen die Geschichten entstanden und zur Reihenfolge ihrer Entstehung. Dabei läßt er die eine oder andere persönliche Bemerkung über die Geschichten einfließen. Das alles ist nicht besonders großzügig bemessen, man neigt dazu, es zu überfliegen. Erst wenn man ein Gutteil der Geschichten gelesen hat, entfalten die wenigen Sätze ihre Wirkung und man kann ermessen, was für ein Geschenk einem der Autor damit gemacht hat.
Wobei man schon mitten im Thema über die Art ist, wie Hemingway schreibt. Knapp, kurz, sachlich, banal, heißt es. Mehr Knochen als Fleisch.
„Ich könnte schreiben wie Tolstoi“, schrieb Hemingway einmal seinem Lektor, „könnte das Buch größer erscheinen lassen, weiser und so weiter. Aber dann fiel mir ein, daß ich genau die Stellen bei Tolstoi immer übersprungen habe.“
Man kann es auch die Kunst der Auslassung nennen.
Was man als Leserin und Leser dann an eigentlichem Text bekommt, ist durchaus überraschend. Die Geschichten sind ganz unterschiedlich in der Länge, drei Seiten oder 35 Seiten, aber gleich, welche Geschichte man aufschlägt, es sieht zunächst nach nicht viel aus. Ein paar Sätze über den jeweiligen Ort der Handlung, ein Café, ein Zugabteil, ein Bett, ein Ufer an einem Fluß. Personen treten auf, ein Mann und eine Frau, eine Gruppe von Männern oder auch nur ein einziger. Ein Blick in den Himmel, ein weiter Blick auf die Landschaft. Dann die ersten Worte eines Dialogs und plötzlich sind da nicht mehr nur ein Mann und eine Frau oder zwei, drei Männer, sondern Menschen in einem höchst schwierigen Beziehungsgeflecht, die Entscheidungen treffen müssen oder aber sie schon getroffen haben und nun vor den Folgen stehen. Ehekrise und Ehebruch, Mord, Betrug, Abtreibung, Mißverständnisse, Sucht nach Ruhm und Geld. Winzige Ausschnitte aus einem Leben, für den Moment nur ans Licht gehoben, um dann wieder im Dunkel zu versinken.
Licht kann man wörtlich nehmen, der Einfall des Lichts auf seine Figuren wie auf den Raum, in dem sie sich aufhalten, ist ungeheuer wichtig für Hemingway. Nicht umsonst hat er von den Impressionisten gelernt, er tupft tatsächlich Bilder mit seinen Worten. Die Augen sind beim Lesen gefordert, man sieht die Landschaft, das Zimmer, man sieht den Personen zu, wie sich bewegen.
Gefordert sind auch die Ohren, der Klang der Worte ist ebenso wichtig wie ihr Inhalt. Im Lauschen erst erschließen sich die vielfältigen zusätzlichen Bedeutungen, auf die Hemingway baut. Dabei ist jedes einzelne Wort hat Bedeutung, es sind ja nur so wenige, die uns sagen können, was vor sich geht.
Einen beträchtlichen Teil dessen, was passiert, und zwar vor allem, warum etwas passiert, muß man erschließen. Das erzählt der Autor nämlich nicht. Er gibt aber Hilfestellung dadurch, daß er Assoziationen weckt und Anspielungen einstreut.
Dabei arbeitet Hemingway sehr wenig mit bekannten Anspielungen oder gar bekannten Zitaten, auch wenn nicht wenige seiner Titel der Bibel entstammen.
Es geht ihm auch nicht darum, sich in einem Bildungskanon zu verankern, durch Anspielungen auf gemeinsames Kulturgut.
Er baut seine Welt auf den Erfahrungen des Alltags auf, auf dem Geräusch der Regentropfen (etwa Katze im Regen/Cat in the Rain) oder dem eigenartigen Knistern von Vorhangschnüren aus Plastik (Hügel wie weiße Elefanten/Hills like White Elephants), auf dem Anblick der Hände eines Arztes (God Rest You Merry, Gentlemen), einem Kanarienvogel im Käfig (Für einen einen Kanarienvogel/A Canaray for One), dem knappen Austausch zweier Männer am Kamin über scheinbar belanglose Bücher (Der Dreitage-Sturm/The Three-Day Blow)
Die Lektüre ist alles andere als leicht, man muß viel aufnehmen, denn in fünf Seiten verbirgt sich nicht selten ein ganzer Roman, über die ganze Welt. Leben, Liebe, Sterben, es geht um Grundsätzliches. Das Schreiben ( z.B. in Schnee am Kilimandscharo/The Snows of Kilimanjaro), und immer wieder der schreckliche Zoll, den Krieg von Menschen fordert, seine Sinnlosigkeit selten besser beschrieben als in Old Man in the Bridge’ sein Grauen in Am Kai von Smyrna/On the Quai At Smyrna, die seelischen Wunden in In einem anderen Land/In Another Country oder in Soldaten zuhause/Soldier’s Home, dessen Held nicht von ungefähr den Nachnamen Krebs trägt. Überwältigens aber auch eine Innenansicht auf ein Land im Faschismus wie Che ti dice la patria?.
Wunderschön und schmerzlich die Liebesgeschichten und die Geschichten von Liebe, die tatsächlich in den meisten Erzählungen enthakten, der genaue Blick auf die Schwierigkeiten, die Liebe zwischen Menschen mit sich bringt, die Fremdheit mitten in der Vertrautheit, die Zerbrechlichkeit von Glück. Die Hoffnung lebt nur für den Augenblick. Homosexuelle Liebe ist dabei ebenso ein Thema wie die zwischen den Geschlechtern.
Hemingway urteilt nie, er beschreibt. Das tut er mit einem solchem Ausmaß an Mit-Fühlen und Mit-Leiden, daß die Geschichten geradezu Zärtlichkeit ausströmen können. Eine resignative Zärtlichkeit, ein liebendes Grundverständnis von den Nöten der Menschen, in dem Wissen, daß nichts zu ändern ist. Die Geschichten sind völlig unsentimental, aber bis zum Rand mit Gefühlen aufgeladen.
Erzählerisch eine echte Entdeckung, schriftstellerisch ein Erlebnis ganz eigener Art. Atemberaubend , faszinierend, prägend.
Ein Wunder, nicht mehr und nicht weniger.
edit: amazon-Verlinkungsprobleme