Juni, 1940. Vor den Toren von Paris steht die deutsche Armee. Anhand von einzelnen Personen/Familien – quer durch alle Gesellschaftsschichten - wird beschrieben, wie die Betroffenen panisch ihre Habseligkeiten zusammenpacken und fliehen. Die Leute reagieren ganz unterschiedlich auf die drohende Gefahr.
Da ist z.B. die Familie Pericand, eine sehr angesehene, wohlhabende und fromme Familie. Als die ersten Bomben fallen zeigt die Mutter ihr ganzes Organisationstalent. Tafelgeschirr, Silberbesteck, Fahrräder und sämtliche Wertgegenstände werden verstaut und ein Konvoi mitsamt den Dienstboten verlässt Paris. Anders das bescheidene Ehepaar Michaud. Sie packen nur ihre wichtigsten Habseligkeiten zusammen und machen sich zu Fuß (die Züge sind längst übervoll) auf den Weg aus der Stadt. Dabei stoßen sie auf die Ärmsten der Gesellschaft, zeigen Mitgefühl und helfen, wo sie nur können.
Auch der bekannte Schriftsteller Gabriel Corte muss sein prunkvolles Haus mitsamt dem liebgewonnenen Luxus verlassen. Für ihn stellt der Krieg eine „Störung seines Wohlbefindens“ dar. Allerdings sieht er keine Gefahr und ist sich sicher, dass ihm sein Bekanntheitsgrad sämtliche Türen öffnen wird und er auch die Obrigkeiten für seine Zwecke einsetzen kann. Unwirsch und rücksichtslos macht er sich lustig über den „Pöbel“, der durch die Straßen von Paris flüchtet, ehe er eines Besseren belehrt wird ….
Irene Nemirovsky beleuchtet ein breites Spektrum von Charakteren angesichts der Bedrohung der deutschen Armee, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Menschliche Abgründe, motiviert von Egoismus, Neid und Hass stehen aber einer unendlichen Menschlichkeit, Einfühlvermögen, Hilfsbereitschaft, Verzweiflung und Demut gegenüber.
Während sich der erste Teil des Buches mit den Konsequenzen rund um den Einmarsch der deutschen Truppen im Juni 1940 beschäftigt, so steht im Mittelpunkt des zweiten Teiles ein von Deutschen besetztes französisches Dorf im Sommer 1941. In jedem Haus ist ein Soldat stationiert und hat sich die Bevölkerung damit zu arrangieren. Die Gefühle den „Feinden“ gegenüber schwanken zwischen Hass, Ablehnung, Rache, aber auch Wohlwollen, Zuneigung, sogar Liebe. Es ist sehr beachtlich und beeindruckend zu lesen, dass Nemirovsky – als Jüdin - hier keine Wertung vornimmt. Dass es keine „Guten“ und keine „Bösen“ gibt und sie zum Teil sehr hart und schonungslos mit ihren französischen Landsmännern ins Gericht geht.
Das Buch wäre als 5-teiliges Werk geplant gewesen, leider konnte Irene Nemirovksy nur 2 Teile fertigstellen. Sie starb im August 1942 in Auschwitz. Das Manuskript zu „Suite Francaise“ wurde von ihren Töchtern gerettet, entziffert und veröffentlicht. Im Anhang des Buches angeschlossene Tagebuchaufzeichnungen und Notizen zu „Suite Francaise“ geben einen eindrucksvollen Einblick in ihr Vorhaben, ihre Motivation zu diesem wahrlichen Meisterwerk und den geplanten Inhalt der weiteren 3 Teile. Ebenfalls angeschlossen ist ein Konvolut an Korrespondenz in den Jahren 1936 bis 1945 sowie ein sehr berührender Aufsatz über das Leben der Irene Nemirovsky, verfasst von Myriam Anissimov.
Ein ganz beachtliches, großartiges Buch, ein außergewöhnliches Sittengemälde, wohl mein Highlight 2007!