Liest man heute noch Brentano? Kennt man den Namen Clemens Brentano noch? So ungefähr, nehme ich an.
Die Liebe allein versteht das Geheimnis, andere zu beschenken und dabei selbst reich zu werden.
Das stammt von ihm.
Der Brentano, also. Romantiker, extremer Charakter, chaotisches Leben. Liebesleid, verheiratet, verwitwet, verheiratet, geschieden, Liebschaften.
Hat das etwas damit zu tun, was und wie er schrieb? Überhaupt nicht.
Also überlassen ich die Beschreibung seines Lebens den überall leicht zugänglichen Lexikonartikel, die sich ihm, je nach dem, wie skandalgierig ihre VerfasserInnen sind, mehr oder weniger ausführlich widmen.
Mit vierzig Jahren, 1817, bekannte er sich öffentlich zum Katholizismus, nicht ganz ungewöhnlich zu jener Zeit. Hat das etwas mit der Novelle zu tun, die hier vorgestellt werden soll? Nicht direkt, also übergehe ich auch diesen Teil seines Lebens und beschränke mich auf ein paar Fakten.
1778 geboren in Frankfurt, in einer Familie, die gleichermaßen vom Kaufmännischen wie von der Literatur geprägt war. Seine Großmutter war die Schriftstellerin Sophie LaRoche, seine Mutter Maximiliane kannte Goethe (gut), seine Schwester Elisabeth, Bettina/Bettine, sollte Goethe später anhimmeln und Clemens' besten Freund heiraten, Achim von Arnim. Natürlich schrieb sie auch.
Brentanos erste Frau war die Schriftstellerin Sophie Mereau. Er selbst schrieb wunderbare Gedichte, über Liebe, und viel über Zauber und Phantastisches. Seine Fassung der Loreley-Sage ‚Zu Bacharach am Rheine, wohnt eine Zauberin ...’ ist um einiges unheimlicher als das, was der stets ironische Heine zu bieten hat.
Die meisten Gedichte allerdings sind zunächst eingebettet in seine Prosatexte, Romane und Erzählungen, ganz normal damals. Romanfiguren spazieren durch die Gegend und sagen Gedichte auf oder singen sie sich vor. Romantik eben.
Reine Gedichtsammlungen machte man erst später daraus.
Hatte Brentano einen Beruf? Kaufmann und Kunst vertrugen sich schlecht, er studierte herum, Jura, Medizin. Alles aber, was er wollte - und konnte! - war schreiben.
1804 zog er nach Heidelberg, dort traf er Achim von Arnim. Aus der Bekanntschaft wurde enge Freundschaft und literarische Zusammenarbeit.
Das Ergebnis: eine einmalige Sammlung von Liedern, Versen, ‚Volksgut’, Des Knaben Wunderhorn’. Es erschien in drei prallen Bänden zwischen 1806 und 1808. Es war ein richtiger Erfolg.
Ein studiertes Brüderpaar aus Hessen zum Beispiel war davon so entzückt, daß es umgehend anfing, Märchen zu sammeln. Deren erster Band erschien 1812 und ist dem ersten Sohn von Elisabeth-Bettina und Achim von Arnim zugeeignet.
1816 aber schrieb Clemens Brentano an einer Novelle, die 1817, zu Wohltätigkeitzwecken, in kleiner Auflage erschien. Ich weiß nicht, ob sie erfolgreich war. Ich weiß nur, daß sie sich für uns zunächst ein wenig sperrig liest - die redeten anders damals -, aber im Endeffekt beeindruckend grausig-gruselig, traurig-tragisch und vor allem unvergeßlich ist.
Der Aufbau ist raffiniert verschachtelt. Ein namenloser Ich-Erzähler stößt bei seinem abendliche Heimweg in seiner Stadt auf einen kleinen Aufruhr. Auf den Stufen des leeren herzoglichen Stadtpalais' hat sich eine sehr alte, ganz schwarzgekleidete Frau niedergelassen. Sie weint leise, spricht aber nicht viel und ist vor allem nicht dazu zu bewegen, wegzugehen. Die Umstehenden spotten, geben aber bald auf. Unser Ich-Erzähler bleibt. Ihn treibt nicht nur menschliches Mitgefühl, er ist, wie er uns Leserinnen und Lesern anvertraut, Schriftsteller. Aha. Er wittert eine Geschichte.
Und er bekommt sie.
Nach einigem Zureden erzählt ihm die alten Frau einen Gutteil ihrer Lebensgeschichte und eben die ist die Geschichte ihres Enkels Kaspar und seiner Braut Anna, die ihrerseits das Patchen, die Patentochter, der alten Frau ist. Es ist ein Unglücksgeschichte.
Kaspar, aus anständiger, aber nicht vermögender Familie stammend, hat im Leben einen einzigen Wert ausgemacht, die Ehre. Sie ist sein Leitstern und bestimmt alles, was er tut. Eben diese ‚Ehre’, redet er auch Anna ein, die er als Patenkind seiner Großmutter von Jugend auf kennt. ‚Ehre’ bringt ihn dazu, sich dem Heer des Landesherren, einem Herzog anzuschließen. Für Gott und Vaterland und so ähnlich. Sie ist wohl wichtiger als die Liebe zu Anna.
Anna ist durchaus von Kaspars Ansichten überzeugt, aber so ein Soldatendienst ist lang und als junge Frau kann man sich schon sehr allein fühlen. Wenn da so ein hübscher Adliger daherkommt, kann es, bei allem Ehrgefühl, halt daneben gehen.
Anna wird schwanger, bekommt das Kind und bringt es in ihrer Verzweiflung um. Voll Ehre zeigt sie sich umgehend der Justiz an. Voll Ehre gibt sie den Namen des Vaters nicht preis. Sie hat gesündigt und muß büßen. Ah, die Ehre.
Kaspar seinerseits hat davon keine Ahnung. Er kehrt in die Heimat zurück, voll Freude, baldigst sein Annerl zu heiraten. In der Nacht vor der endgültigen Rückkehr in sein Heimatdorf aber wird er beraubt. Am nächsten Tag stellt er voll Entsetzen fest, daß die Räuber seine engsten Familienangehörigen sind. Voller Ehre zeigt er sie an - und erschießt sich umgehend, weil er mit dieser Schande nicht leben kann.
Es geht doch nichts über ein abstraktes Prinzip.
Unser Schriftsteller, durch dessen Ohren wir aus dem Mund der alten Frau diese grauselige Geschichte hören, ist tief entsetzt. Was ihn noch mehr erschüttert, ist der Wunsch der Alten, den Herzog zu bitten, dem Selbstmörder und der kurz vor ihrer Hinrichtung stehenden Kindsmörderin Anna ein ehrliches, sprich: kirchliches Begräbnis zu gewähren.
Er, ganz modern, ist, da man den ehrpusseligen Kasper nicht mehr zum Leben erwecken kann, nicht nur für ein ehrliches Begräbnis, sondern für eine Begnadigung Annas.
Er setzt alles ein, was er tun kann. Seine frühmorgendliche Hetzjagd zum Schloß des Herzogs ist atemberaubend beschrieben. Das Leserinnenherz klopf schneller als das Augen den Worten folgen kann. Und der Autor ist gemein genug, jedes Fitzelchen Hoffnung zu schüren.
Aber der Erzähler kommt zu spät. Die Räder der herzoglichen Kutsche sind am Richtplatz noch nicht zum Stillstand gekommen, als Annas Kopf fällt.
Es gibt ein ‚gutes’ Ende. Es gibt auch noch Tote, die Großmuter stirbt vor Gram und der uneheliche Erzeuger von Annas Kind erschießt sich gleichfalls. Die Ehre.
Aber alle werden kirchlich begraben, der Herzog, und hoffentlich auch Gott, zeigen sich gnädig.
Was diese für uns heute nicht ganz leicht verständliche Geschichte empfehlenswert macht, ist zum einen, die für das Thema ‚Schauergeschichte’ überraschend unpathetische Sprache. Das liegt an der Charakterisierung der Großmutter. Sie nämlich, so versichert uns unser Erzähler, der Schriftsteller, weint heftig, erzählt aber ganz kühl und klar. Das Ganze hat Berichtston und nur wenig Pathos.
Der Schriftsteller seinerseits ist ein vergleichsweise moderner und aufgeklärter Charakter. Er läßt die Frau reden, er hat vor allem Mitleid. Er ist auch Sympathieträger, nicht zuletzt enthält die Erzählung einiges übers Schreiben und vor allem über das Selbstverständnis von Schreibenden. Wichtig.
Die Großmutter gibt uns Erklärungen für die Vorgänge, auf den Personen liegt eine Art Fluch des Schicksals. Am schwersten zu leiden hat Anna, da liest man nicht nur eine beträchtlich gruselige Szene mit einem selbständigen Richtschwert im Haus des Henkers, als Anna noch ein Kind ist, sondern auch eine Hinrichtungsszene, die an Schauer lässig so manches schlägt, was heutzutage gedruckt wird.
Nicht zuletzt deswegen, weil sie nur wenige Zeilen umfaßt.
Die Motivik ist regelrecht karg, Dinge einfachster Art wie z.B. eine Schürze, eine Rose, ein Kranz aus Flittergold werden eingesetzt und sie genügen Brentano völlig, um Grauen zu erzeugen.
Ich werde eine Schürze nie mehr betrachten, ohne leichte Gänsehaut zu bekommen.
Auch die Zahl der Personen ist höchst beschränkt und doch glaubt man, eine vollbesetzte Bühne vor sich zu haben.
Die Schauerelemente bleiben unkommentiert, indirekt sind sie legitimiert durch die Erzählerin, eine Frau aus dem Volk
Volkesmund tut Wahrheit kund. Das war, salopp gefaßt, eines der Beknntnisse der Romatiker.
Raffiniert gemacht. Und sagenhaft gut wiedergegeben. Man glaubt der Großmutter jedes Wort.
Hat man sich erst einmal eingelesen, wird man mit einer tatsächlich modernen Konfliktkonstellation ‚abstraktes Prinzip versus Vernunft’ belohnt, im Kleid einer mitreißenden und hochspannenden Schauergeschichte.