Mit meinen Bücherregalen geht es mir so, wie anderen mit ihrem Kleiderschrank. Sie sind zum Platzen gefüllt, aber ich habe nichts anzuzie... zu lesen. Hin und wieder aber erbarmt sich das Schicksal, streckt einen Finger aus den Wolken und weist zielgerichtet in die Fülle. So auch in diesem Fall. Der eiserne Schicksalsfinger zeigte auf die Gesammelten Werke von Wilhelm Hauff.
Hauff und ich sind so richtig alte Bekannte. Tatsächlich kann der Satz von sehr, sehr vielen Menschen stammen. Kalif Storch, der kleine Muck, Zwerg Nase, wer kennt sie nicht, aus Erzählungen, als Film? Peter Munk, der Holländer Michel und das Glasmännlein, das Wirtshaus im Spessart? Sie gehören fest zum Fundus wunderbarer wie wunderlicher Geschichten, die man in Erinnerung hat.
Der Autor seinerseits ist weniger bekannt, er hatte nur ein kurzes Leben, 1802 geboren, starb er schon 1827. Das Erscheinen des dritten Bands seines ‚Mährchenalmanchs’ (das ‚h’ nach dem ‚ä’ ist zeitüblich korrekt) erlebte er schon nicht mehr. Er war der Sohn eines Stuttgarter Regierungsrats, ging in Tübingen und Blaubeuren zur Schule, studierte Theologie am berühmten Evangelischen Stift in Tübingen, wurde Dr. phil. und Hauslehrer. Er reiste ordentlich herum, wie es sich für einen jungen Mann damals gehörte, ein Teil der Almanache entstand in Paris. Er schrieb ziemlich witzig-freche Briefe und ebensolche Verse. Er wurde Redakteur des bekannten Cotta’schen Morgenblatts und focht eifrigst für das, was er unter ‚guter’ Literatur verstand- Letzteres brachte ihm einen deftigen Prozeß ein. Er verlor. Die Kunst hat es eben schwer.
1827 heiratete er seine Kusine Luise, die Geburt seiner Tochter im November des gleichen Jahres erlebte er noch, neun Tage später war er tot. Woran er starb ist nicht ganz sicher, ‚Schleimfieber’, ‚Nervenfieber’, das er sich auf einer Reise zuzog. Ziemlich sicher ist, daß mit ihm ein wunderbarer Erzähler starb.
Die Märchenalmanache entstanden nicht ganz uneigennützig. Almanache sind eigentlich Kalender, die mit Bildern, Verschen, Sprüchen, Witzen, vor allem Geschichten umgeben sind. Bald schon fielen die Kalender weg, die Geschichtensammlungen aber bleiben. Wer Jahr für Jahr einen solchen Kalender und/oder eine Sammlung von Geschichten herausgeben und unters Publikum bringen konnte, hatte ein sicheres Einkommen. Dagegen hatte Hauff nichts einzuwenden.
Märchen nun waren auf ihre Art durchaus in. Wer auf sich hielt, schreibe welche. Die Sammlungen von Jakob und Wilhelm Grimm waren erstmals 1812 erschienen und breiteten sich aus. Die Märchen von Ludwig Tieck, eine Generation älter als Hauff, waren bekannt ebenso wie die phantastischen Geschichten von E.T.A. Hoffmann.
Dennoch hielt es Hauff für geraten, seiner ersten Sammlung, die 1826 erschien, ein eigenes Märchen über Märchen vorauszustellen. Darin beklagt Märchen, älteste Tochter der Königin Phantasie, ihr Schicksal, von den Menschen nicht mehr ernstgenommen zu werden. Ihre Mutter spricht ihr Mut zu und tatsächlich gelingt es Märchen danach, in die Welt der Menschen zu schlüpfen. Zu den Kindern, interessanterweise.
Ob das eine Geste der Bescheidenheit von Seiten Hauffs war oder ein Kniff, sein Anliegen zu verharmlosen, läßt sich nicht ganz entscheiden. Die Geschichten, die nun folgen, sind nicht in jedem Fall das, was man unter ‚kindgerecht’ versteht. Heute jedenfalls. Vielleicht war das vor 180 Jahren ein wenig anders.
Jeder der Almanache hat eine Rahmenhandlung. Die aus den Jahren 1826 und 1827 führen uns direkt in die Welt des Orients, die Welt von 1001 Nacht. Im ersten Almanach finden sich Kaufleute und ein zunächst geheimnisvoller Reisender auf einer Karawane von Mekka nach Basra zusammen. Um sich während der abendlichen Rast die Zeit zu vertreiben, erzählen sie sich Geschichten. Zum Beispiel die vom Kalifen, der sich in einen Storch verwandeln kann, aber bloß nicht lachen darf, sonst vergißt er das entscheidende Zauberwort. Und die Geschichte von Geisterschiff, dessen Mannschaft sich Nacht für Nacht auf grausige Weise totschlagen muß und dessen Kapitän mit einem Nagel durch die Stirn an den Mast geheftet steht, bis sie endlich erlöst werden. Die Geschichte von der untreuen Bianka und der abgeschlagenen Hand. Das Blut strömt mächtig in diesen Geschichten. Es gibt wilde Fluchten und die wunderbaren Ereignisse um den kleinen Muck. Und am Ende fließt alles in der Rahmenerzählung zusammen.
Ebenso im zweiten Almanach. Dieses Mal ist es keine Karawane mit ihren Kaufleuten, sondern der Haushalt eines Scheichs, seine Sklaven und seine -neuen- Freunde, die den Rahmen bilden. Wieder breitet Hauff die ganze Pracht des Orients aus. Zwerg Nase ist wohl die bekannteste Geschichte daraus. Der Affe als Mensch gemahnt an Kellers viele Jahre später erscheinenden Leute aus Seldwyla bzw. an Gogols Revisor, die traurige Geschichte von Abner, dem Juden, zeigt, wie wenig es nützt, wenn man etwas weiß. Dazu eine gruselige schottische Sage um einen goldenen Schatz.
In diesem Almanach wurden auch Geschichten anderer Autoren abgedruckt, darunter Schneeweißchen und Rosenrot von Wilhelm Grimm. Hauff hielt nicht viel davon, ‚Ammenmährchen’ nannte er das, was Wilhelm und Jakob Grimm zusammengestellt hatten. Aber er druckte es ab, ein bekannter Name bringt schließlich Käufer. Hauff mochte Märchen erzählen, einen scharfen Blick für das Leben hatte er durchaus.
Diese und andere Geschichten fehlen üblicherweise in den Nachdrucken der Märchensammlungen, weil es ja um die Geschichten von Hauff geht.
Ich finde es schade. Die ‚Geschichte von gebackenen Kopf’ von James Morier ist eine echte Lücke.
Im dritten Almanach 1828 ändert sich der Rahmen völlig. Fort ist der Orient, wir sind im Spessart. Zwei Handwerksburschen kommen zu einem Wirtshaus. Räuber, eine Gräfin in Bedrängnis - nein, was Hauff da erzählt, ist bei weitem gefährlicher als alles, was uns Liselotte Pulver vorspielen kann.
Darüber hinaus enthält der dritte Almanach eine der gruseligsten und modernsten Erzählungen, die uns Hauff hinterlasen hat, die Geschichte von Steinernen Herzen. Das kalte Herz
Drei Sammlungen also mit bunten, wilden, grausigen, kaum kitschigen, nie sentimentalen oder übermäßig pathetischen Geschichten. Zunächst eine Spur altmodisch in der Sprache, hat man sich schnell eingelesen und folgt den Erzählern gern in diese Phantasiewelt. es liest sich streckenweise so spannend, daß man sich regelrecht kneifen muß, um sich daran zu erinnern, daß der Autor gerade mal 23, 24 Jahre alt.
Eine auch heute noch überzeugende Mischung aus Märchen, Sagen, alten Mythen und echter Lust am freien Fabulieren. Nicht nur für Kinder.
Für DraperDoyle