Dan Simmons - "Ilium"

  • Auf dem Schlachtfeld vor Troja, das auch "Ilium" genannt wurde, tobt der Krieg. Die Götter um Zeus, allen voran Aphrodite, Apollo und Pallas Athene, beobachten das Geschehen, aber sie greifen auch ein, wenn die jeweiligen Favoriten in Bedrängnis geraten - Achilles, Agamemnon, Odysseus, Paris, wie sie alle heißen, die strahlenden, gewaltigen, schönen Helden, die Homer in seinen "Iljas"-Gesängen geschildert hat. Ob das Geschehen auch jener literarischen Vorgabe entspricht, das beobachten die Scholiker - Historiker, die, wie sie selbst glauben, aus ihren jeweiligen Zeiten auf den legendären Kriegsschauplatz versetzt wurden, um Zeus, Aphrodite oder einer Muse Bericht zu erstatten, ihnen aber niemals zu verraten, wie sich die Geschichte entwickeln wird. Einer von ihnen ist Thomas Hockenberry, ein Professor aus dem zwanzigsten Jahrhundert, der mit Sehkraftverstärkern, der Fähigkeit, sich in andere Figuren zu verwandeln und einigen weiteren technischen Gimmicks ausgestattet auf den Schauplätzen ein- und ausgeht, um anschließend den Göttern Berichte abzuliefern. Neun Jahre ist er bereits dabei, als Aphrodite beschließt, ihn zum Spion zu machen - er bekommt den legendären Helm des Hades und ein kleines Medaillon, das ihn ruckzuck von einem Platz zum anderen quantenteleportiert - längst nicht der einzige technische Schnickschnack, mit dem die Götter ihre Helden und Gehilfen manipulieren. Aber Hockenberry entwickelt andere Pläne ...


    Auf den Monden des Jupiter leben seltsame, organisch-technische Roboter, die sich selbst "Moravecs" nennen - empfindsame, intelligente, literaturverliebte Androiden, unter ihnen "Mahnmut", der Shakespeare-Fan, und "Orphu von Io", der Proust-Verehrer, die vom "5 Monde Konsortium" gemeinsam mit anderen auf eine Expedition zum Mars geschickt werden, weil dort seltsame, bedrohliche Aktivitäten stattzufinden scheinen. Die Expedition scheitert fast, nur Mahnmut und Orphu überleben, letzterer schwer verletzt, besser: beschädigt - trotzdem versuchen sie, das Ziel zu erreichen, den Olympus Mons, jenen 23 Kilometer hohen Vulkan, von dem die besorgniserregende Quantenaktivität auszugehen scheint. Bereits im Orbit des Planeten werden sie von einem seltsamen Gefährt angegriffen: Einem altgriechischen Streitwagen ...


    Die Erde wird nur noch von wenigen Menschen bewohnt, einigen hunderttausend, die fortwährend auf Parties gehen, sich zu geselligen Anlässen treffen, aber nicht mehr lesen oder schreiben können und wenig über sich selbst wissen - sie sind die Nachfolger der sogenannten NachMenschen, die, wie geglaubt wird, in den Orbitalringen leben, wo sich auch "die Klinik" befindet, in die die Erdbewohner alle zwanzig Jahre gerufen werden, um eine Art Generalüberholung zu erfahren, oder von Fall zu Fall, etwa, wenn sie zufällig von einem der wiederbelebten Dinosaurier zerfleischt werden. Nach fünf Zwanzigern werden die Menschen nicht mehr aus der Klinik zurückkehren, sondern auf ewig bei den NachMenschen bleiben, so glaubt man jedenfalls. Bis dahin sorgen automatische Servitoren und sogenannte "Voynixe" für Wohl und Sicherheit der wissensarmen Menschen, die kaum ein paar Schritte zu Fuß gehen und nur jene Plätze auf der Erde aufsuchen, die per "Fax" zu erreichen sind. Eine kleine Gruppe um den 99jährigen, nichtsdestotrotz jugendlichen Harmann, der sich mühevoll das Lesen beigebracht hat und nicht so recht glauben will, daß er in einem Jahr zu den Ringen aufsteigen wird, macht sich auf die Suche nach einer Erklärung. Sie entdeckt schreckliche Zusammenhänge ...


    Eine Warnung vorab: Auch diese 800-Seiten-Schwarte ist "nur" ein erster Teil, der zwar auf einen fulminanten Showdown hinarbeitet, aber all die wundersamen Verbindungen, Hintergründe und Verstrickungen (noch) nicht erklärt - etwa, warum sich Prospero in den Orbitalringen versteckt, wer die Götter wirklich sind, warum alle trojanischen Helden wie Archetypen aussehen, aus welcher Zeit die Scholiker tatsächlich stammen. Simmons baut in diesem grandiosen, sehr anspruchsvollen Science-Fiction-Epos eine Vielzahl von Haupt- und Nebenhandlungen auf, die durch einen literaturgeschichtlichen Kontext verbunden zu sein scheinen, denn irgendwie hat jede Figur ein Vorbild oder eine Geschichte, die aus großen Werken bekannt zu sein scheint. Aber vielleicht ist auch alles ganz anders ... wie genau, das erfährt man (noch) nicht, aber eine leise Ahnung tut sich auf.
    "Ilium" ist sicher kein Stoff für nebenbei, keine handelsübliche SF-Kost, sondern ein großer, dichter und nicht eben leicht konsumierbarer Roman, der seinen Leser fordert und dessen Lektüre etwas einfacher sein dürfte, wenn die Zusammenhänge zumindest erahnen kann, einige Namen einordnen und einige Figuren verstehen. Ein überaus intelligentes, toll komponiertes, sehr fesselndes Buch über Literatur, Technik, Selbstbestimmung und geschichtliche Zwänge - und vermutlich über noch viel mehr ... großartig.

  • Hallo, Pelican.


    Zitat

    Deine Rezension klang so gut, daß ich das Buch gleich gestern mitgenommen habe.


    ... was sicher kein Fehler war. :-)


    Zitat

    Würdest Du empfehlen, nochmal die Ilias vorher zu lesen, wenn die Erinnerung daran nicht mehr so klar ist?


    Es ist sogar ohne Kenntnisse des Iljas zu verstehen, wenn man eine leise Ahnung von der Konstellation hat, und insofern dürften Erinnerungen daran auch genügen. Übrigens sind auch Shakespeare- und Proust-Kenntnisse nicht schlecht, aber auch nicht zwingend erforderlich.

  • *alten Thread rauskram*


    Ich persönlich wußte so gut wie nichts über die "Ilias" als ich "Ilium" las. Und dennoch konnte ich Dan Simmons' Werk gut verstehen.
    Am Anfang war ich nur ein wenig überfordert; all die griechischen Namen, die dort auftauchen... Aber das war nur vorübergehend, der Rest des Buches war so GEIL, dass ich es gleich noch zwei mal las.


    Weiß jemand schon was genaueres über den Erscheinungstermin von "Olympos" (auf deutsch)? Ich weiß nämlich nicht, wie lange ich noch warten kann :gruebel .


    ***
    Aeria

  • Dan Simmons: Olympos. Heyne, Trade-PB, ISBN 3-453-52123-4. Preis: EUR(De) 15,--; EUR(At) 15,50; sFr 26,80


    Erscheinungsdatum: Januar 2006


    (Edit: Cover hinzugefügt)

  • so, der urlaub ist vorbei, das buch gelesen. nun beginnt die zeit nach ilium - und vor olympos.


    erstmal muss ich mich bei tom für die empfehlung hier bedanken. so spontan wäre ich jetzt nicht auf die idee gekommen, mir einen so fetten scifi-schinken zu kaufen. aber im nachhinein kann ich nur sagen: ein glück, dass es die büchereulen mit ihren wundervollen tips gibt!


    das buch ist herrlich! ich hab nie die ilias gelesen, meine einzige ernsthafte auseinandersetzung mit shakespeare war, als ich den vater hamlets in einer laientheatergruppe spielte, und proust hatte ich bis jetzt noch nicht mal in die hand genommen. aber egal, ich habe mich herrlich amüsiert!


    was hat der simmons für ideen!


    diese einfältigen menschen, die nicht mal wissen, wozu lesen gut ist. der professor, der das spiel der 'götter' bei der belagerung trojas dokumentieren soll und ihnen am ende kräftig in die suppe spuckt. wie helena seinen namen immer ausspricht - so kleinigkeiten, wo ich auch immer wieder schmunzeln konnte. diese moravecs von den jupitermonden, die beim eintritt in die marsathmosphäre fast verglühen, und über shakespeare und proust philosophieren - und dann angesichts ihrer lage auch über robinson crusoe.


    ich habe garantiert nicht alles erkannt, nicht alles verstanden, nicht alles so interpretieren können wie manch andere literaturspezialisten. aber he, es hat riesig spaß gemacht! und irgendwie freue ich mich, dass es am wochenende regnen soll, weil olympos wartet schon...


    bo :grin

    Es gibt nur einen Weg das herauszufinden...

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  • Ihr habt mich auf diesen Simmons neugierig gemacht.
    Die Ilias im SciFi-Mantel funktioniert tatsächlich? Kann ich mir nur sehr schwer vorstellen. Ich habe das Buch im Netz mal angelesen. Schon zu Anfang merkt man, dass man sich Ruhe und Konzentration dafür zulegen muss. Er mag längere Sätze oder? Hach, ich bin immer noch skeptisch, was die Verknüpfung angeht, aber andererseits finde ich sie gerade auch sehr reizvoll... Muss man dafür ein SciFi-Fan sein oder kann man das auch als Neuling lesen?
    Jedenfalls danke ich Euch schon mal für den Simmons-Tipp, auch Drood und Terror hören sich gut an. :wave

  • Ich habe mir vor längerem beide Bücher gekauft (Illium und Olympos), nachdem ich "die Zeit auf Hyperion" so genossen habe. Da ich mich aber mit "Endymion" so schwer getan habe und es nicht zu Ende gelesen habe, habe ich sie erstmal weiter nach hinten "verschoben". Nach dieser spannenden Rezension (danke dafür!) hier bin ich nun aber so neugierig, daß ich endlich mal damit anfangen werde. Ich bin gespannt...