„Jugendliche Ladendiebe im Kaufhof.“
Ich bestätige per Knopfdruck, mein Kollege rollt mit den Augen und wir brausen los. Immer wieder werden Kids beim Klauen im Kaufhaus erwischt. Ein Standard-Einsatz. Hinfahren, die meist schon fertige Anzeige des Ladendetektivs entgegen nehmen und die Kinder in den Streifenwagen packen und zu ihren Eltern bringen. Bei den einen weiß man genau, die kriegen jetzt ordentlich eine Tracht Prügel und insgeheim denkt man, geschieht ihnen recht so. Bei den anderen weiß man genau, dass es ebenfalls eine Tracht Prügel setzt, aber nicht wegen des Diebstahls, sondern weil sie sich haben erwischen lassen. Die dritte Gruppe Ladendiebe ist die, bei denen man genau weiß, dass es den Eltern total egal ist, was ihre Kinder so treiben, diese Kids tun einem einfach nur leid und hin und wieder erübrige ich einen meiner Schokoriegel für einen von ihnen.
Diesmal kommen wir beim Kaufhof an und die Tudols sitzen da. Was nicht ganz richtig ist, denn Tudol heißen nur die älteren Kinder der Famlie, die jüngeren haben jeweils andere Namen, die ich mir leider nie merken kann. „Mandy, Ronny. Was habt ihr wieder angestellt?“ Betretene Blicke und Schweigen, auf dem Tisch liegen Süßigkeiten, die sie geklaut haben. Die Kids gehören zur letzten Kategorie der Ladendiebe Ronny ist 11 und seine kleine Schwester 9 Jahre alt.
Wir packen sie in den Streifenwagen und fahren zur Wohnung, der Weg ist bekannt. Das Wohnhaus ziemlich unschön. Die Haustüre lässt sich nicht schließen, im Flur liegt lose Müll und Abfall herum. Wenn man am Treppengeländer runter in den Keller schaut, sieht man altes schimmliges Gerümpel herumliegen. Überall riecht es nach Pisse.
Die zwei Tudols laufen vor mir her die Treppe hoch. Der Ältere schließt die Türe auf. Niemand da. Wir spähen in alle Zimmer, im Wohnzimmer sitzt der kleine 6 jährige Bruder alleine vorm TV. „Ist deine Mutter da?“ Er antwortet nicht.
„Ey Pissnase, is die Mama da?“ Sein älterer Bruder schubst ihn leicht. „Is weg!“ Kommt die zögerliche Antwort. Keiner weiß wohin oder wie lange. Wir entscheiden uns also alle Tudol-Kinder mitzunehmen, alleine in der Wohnung lassen können wir sie nicht. Der Kleine baut sich im Sessel auf. „Ich geh nicht mit den Bullen mit.“
Ich packe ihn am Arm und der Zwerg reißt sich los und flitzt hinter einen Sessel. Ich fange ihn ein und trage ihn zappelnd hinter meinem Kollegen und den anderen beiden Kids her zum Streifenwagen. Er schreit, als würde ich ihn umbringen, während ich ihn anschnalle.
„Halt die Fresse!“ Seine Schwester rammt ihm einen Ellebogen in die Seite und der Wurm verstummt.
Die Eltern sind telefonisch nicht zu erreichen. 2 Stunden hocken die drei Kinder auf der Wache herum. Irgendwann kommt ein Kollege rein. „He, die kenn ich. Ruf mal den älteren Bruder an, der hat sie auch beim letzten Mal abgeholt. Der ist 18.“
Ich tippe die Nummer, die er mir diktiert ins Telefon. Sofort geht wer ran, ich erkläre, was los ist und bekomme zur Antwort. „Verfickte Scheiße, die doofen Wichsblagen. Ich komm sofort.“
Ich angele mir drei Schokoriegel aus der Tasche und gehe zurück zu den Kids. „Du willst denen doch wohl nicht noch Schokolade geben, für die Scheiße die sie immer bauen?“ Ich zucke die Achseln und schiebe stumm jedem einen Riegel hin. 6 große Augen gucken mich an und beäugen dann die Schokoriegel. Vorsichtig schiebt sich der Kleinste den Riegel in den Mund und lässt mich nicht aus den Augen. Dann grinst er mich an.
Im Türrahmen erscheint mein Kollege mit einem Kerl neben sich. Kapuzensweater, weite in den Kniekehlen hängende Jeans, Goldkette.
Er zeigt mir seinen Ausweis und unterschreibt die Übergabe seiner Geschwister. Im Rausgehen langt er seinem kleinen Bruder eine und zischt. „Ich hab gesagt, ihr sollt nicht mit die Zigeuner klauen gehen!“ Dann schubst er die Kinder vor sich her aus der Wache. Ich gucke ihnen einen Moment nach und zucke dann wieder die Achseln.
2 Wochen später, wir werden zu einer Streitigkeit gerufen.
4 Jugendliche stehen auf einem Parkplatz und brüllen sich an. Als wir dazu kommen, wollen sich erstmal alle aus dem Staub machen. Bleiben dann aber doch zögerlich stehen. „Verpißt euch, wir kommen auch so klar.“ Enrico Tudol steht vor mir. Gleiches Outfit wie letztes Mal. Kapuzenjacke, Jeans und Goldkette. Wir diskutieren ein bisschen, aber keiner rückt mit der Sprache raus, zu wirklichen Straftaten ist es wohl auch nicht gekommen und so geben wir uns zufrieden, als sie in unterschiedliche Richtungen auseinander streben. Ich tippe Tudol auf die Schulter, „Was machen deine Geschwister?“ „Was geht dir das an?“ Ich sehe ihn schweigend an. Er macht eine ausholende Geste mit der Hand und deutet auf die Hochhäuser, den Müll auf der Straße. „Schlagen uns durch. Wir kommen klar. Ich paß auf die Blagen schon auf.“ Dann geht er.
Ich sehe ihm nach, dann kicke ich eine der auf dem Boden liegenden Cola Dosen zur Seite und steige in den Streifenwagen.
Mein Kollege grinst. „Kleiner Asi, aber ungefährlich.“
Schweigend hänge ich meinen Gedanken nach. Denke an meine Kindheit. Ein Einfamilienhaus, meine Geschwister, eine kirchliche Schule, Hobbys und der Reitstall. Dann sehe ich zu den Wohnbunkern hoch. 30 Stockwerke, bepißte Treppenhäuser, Graffittis im Hausflur, Glasscherben im Eingang, aufgebrochene Briefkästen, defekte Aufzüge.
Wohnt irgendwer wirklich freiwillig hier?
Unwillkürlich schüttele ich mich, keine Zeit drüber nachzudenken, der nächste Einsatz ruft.
Wieder ein paar Tage später, der Dienst tröpfelt so vor sich hin. Wir fahren zu einigen kleinen Einsätzen, es ist zu tun, aber alles eher unspektakulär. Unfälle, eine Streitigkeit, Kleinigkeiten. Dann der nächste Einsatz „Kind wurde mit Totschläger geschlagen. Befindet sich nun in der elterlichen Wohnung.“ Die Leitstelle gibt die Adresse durch. Ich denke kurz daran, dass die Tudols dort wohnen. Dann braust der Kollege auch schon los. Am Hauseingang bietet sich uns das gleiche Bild wie immer. Dreck, Müll, verrostete Fahrräder. Die Haustür steht offen, weil sie so schief in den Angeln hängt, dass sie sich nicht mehr schließen lässt. Es stinkt nach Fäkalien. Über den Boden krabbelt Getier. Wir steigen die Stufen hoch. Auf der Treppe schon höre ich ein Kind weinen. Ich atme flach durch den Mund um den Pissegeruch nicht so wahrzunehmen. Die Wohnungstüre der Tudols steht offen, Enrico hockt im Flur auf dem Boden und bindet sich die Turnschuhe. „Wo willst du hin?“ Ich spare mir die Begrüssung. „Den kauf ich mir, das Schwein!“ Wir schütteln die Köpfe. Er lässt die Schultern hängen und trottet hinter uns her in die Wohnung, ohne dass ich oder mein Kollege etwas sagen müssten.
Die Wohnung ist ordentlich, kleine Lampen verbreiten ein schummriges Licht, man sieht den Dreck nicht so. Es ist gemütlich. Im Wohnzimmer sitzen Mandy und der Kleinste, Kevin, verstört auf dem Sofa. Als sie mich sehen lächeln sie schüchtern. Ronny liegt neben dem Sofa am Boden und weint. Er hat ein fieses Veilchen und ihm läuft Blut aus dem Mundwinkel. Neben ihm kniet eine Frau. Mit fahrigen Bewegungen versucht sie ihn zu beruhigen.
„Frau Tudol?“ Sie sieht mich an. Sie ist sehr dünn und ihr Gesicht wirkt ausgemergelt. Dunkle Ringe hat sie um die Augen und eine Augenbraue zuckt in einem Tick immer wieder in die Höhe. „Mickartz. Tudol hieß ich früher mal.“ Sie reicht mir vorsichtig die Hand. Ronny heult immer noch. Langsam bringen wir in Erfahrung was passiert ist. Die Kinder waren wohl auf der Straße und haben an einem Kiosk herumgelungert, wie immer. Irgendwie ist es mit einem der Erwachsenen zum Streit gekommen und der hat dann mit einer Art Eisenstange um sich geschlagen. Der kleine Kevin sagt: „Ich bin weggerannt, wie als du mich mitnehmen wolltest.“ Er zeigt auf mich. „Na, das kannst du ja ziemlich gut.“ Ich zerwuschele ihm die Haare. Er grinst von einem Ohr zum anderen und schielt auf meine Tasche. „Hast du wieder Schokolade dabei?“ Ich zaubere ein Päckchen Kaugummis hervor und gebe es ihm. „Wie sagt man?“ kommt es von seiner Mutter. „Dankeschön. Der Mann hatte übrigens lange Haare und ne weiße Jacke an…..“ Der Rest geht im Geschmatze des Kaugummis unter.
Enrico tigert in der Wohnung auf und ab. „DEN HAU ICH UM, DIE SAU!“ Dann rauscht er zur Türe raus.
Ronny hat aufgehört zu weinen und sieht mich an. Seine Unterlippe zittert, „Wir haben nix gemacht, der hat fiese Ausdrücke zu uns gesagt. Ich hab so Kopfweh.“ Er weint wieder.
Ich notiere alles und rate Frau Mickartz mit ihm ins Krankenhaus zu fahren, das Veilchen gefällt mir nicht.
Ich sehe mich noch mal in der Wohnung um. Eine Welle von Mitleid wallt in mir auf und ich muß schlucken und meine eigentlich nicht vorhandenen mütterlichen Instinkte unterdrücken. Im Rausgehen streiche ich dem Kleinsten über den Kopf. „Ihr sperrt den doch ein oder?“ Seine großen Augen blicken mich an und er schmatzt mit dem Kaugummi. Ich lächele ihm zu und weiß, dass wir uns Mühe geben werden, auch wenn seine Beschreibung etwas dürftig ist.
Vorm Haus lungert Enrico rum. „Nun zu dir.“ Er sieht mich an, wie ein bockiges Kind. „Wenn du raus findest, wer das war, kommst du zu uns. Wenn du jetzt schon weißt, wer es war, dann sagst du es mir.“ Er stiert weiter zu Boden. Ich stoße ihn leicht mit der Hand an: „Enrico, du bist auf Bewährung draußen, wenn du dem Kerl was tust, gehst du in den Bau und deine Geschwister sind hier alleine. Deine Mutter ist arbeiten oder tut sonst was, du hast Verantwortung. Wir machen das für dich. Komm zu uns, wenn du raus finden solltest, wer es war!“ Er spuckt vor mir auf den Boden. „Jaja….“ Er denkt kurz nach dann sagt er und sieht mir dabei zum ersten Mal in die Augen: „Meine Mutter ist ne gute Mutter.“
Ich nicke und gehe zum Streifenwagen.
Wieder denke ich an meine Kindheit. Ich sehe mich unbeschwert lachen, unseren Garten, mein Zimmer, dass genauso groß ist, wie die ganze Wohnung, in der die Tudols wohnen. Ich sehe mein Kindermädchen, dass für mich da war, wenn meine Mutter arbeitete und meine Mutter, wie sie meine Lieblingsspeise kocht. Ich sehe meinen Vater, wie er mit uns zu Reitturnieren fährt.
Ich erkenne all das Glück, das ich hatte.