"Mobbing" Annette Pehnt

  • Inhalt
    (von amazon)
    Wenn das Schlimmste passiert ist, muss man sich endlich nicht mehr davor fürchten, sagte Joachim. Er warf den Briefumschlag auf den Küchentisch. Und mit einem merkwürdigen Ausdruck der Erleichterung fügte er hinzu, sie haben es geschafft. Was sie gegen ihn vorbrachten, war gelogen. Aber Feinde, Gespenster, Verschwörungen gehörten seit Jahren zu unserem Leben. Jetzt musste er wenigstens nicht mehr über die Arbeit reden, jetzt hatte er keine Arbeit mehr. Was aber würde aus ihm werden, was aus uns? - Annette Pehnts klarer, feinsinniger Roman »Das Haus der Schildkröten«, von Kritik und Publikum begeistert aufgenommen, widmete sich einem großen Tabu, dem Altern. Mit »Mobbing« gelingt ihr jetzt in der Verbindung aus Anteilnahme und literarischer Distanz ein glänzender Roman um ein drängendes Thema.


    Über die Autorin
    (von amazon)
    Annette Pehnt, 1967 in Köln , studierte und arbeitete in Irland, Schottland, Australien und den USA. Heute lebt sie als Kritikerin und freie Autorin mit ihrem Mann und drei Kindern in Freiburg. Neben einigen Kurzgeschichten veröffentlichte sie 2001 ihren ersten Roman »Ich muß los«, für den sie unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. 2002 erhielt sie in Klagenfurt den Preis der Jury für einen Auszug aus dem Roman »Insel 34«. Zuletzt erschien ihr Roman »Haus der Schildkröten«, mit dem sie auf eine lange Lesereise ging und zu zahlreichen Literaturfestivals eingeladen wurde.



    Wenn das Schlimmste passiert ist, muss man sich endlich nicht mehr davor fürchten.


    Meine Meinung:
    Und für Joachim trifft dies ein: er erhält seine fristlose Kündigung.
    Und damit tritt ein Kreislauf in Gang, der die gesamte Familie in seinen Grundfesten erschüttert.
    Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht der Ehefrau, nach und nach erfährt man mehr über die Zusammenhänge, die zur Kündigung geführt haben. Neue Chefin - neue Arbeitsbedinungen. Jo wird ausgegrenzt, in seinen Aufgabenbereichen beschnitten, bespitzelt usw.
    Sein direkter Kollege und Freund zieht nach kurzer Zeit die Konsequenzen und kündigt. Jo aber "befindet sich im Krieg". Jo kann nicht mit diesen Ungerechtigkeiten leben, Jo muckt auf, fragt nach. Und plötzlich werden Dinge, die sonst keinen interessiert haben, zu Betrug, zu abmahnunswürdigen Vorkommnissen usw. usw.
    Bis zu dem Tag als er seine Kündigung erhält.
    Natürlich geht er zum Anwalt, natürlich kommt es zur Verhandlung, natürlich bekommt er Recht, muss wieder eingestellt werden - aber bis dahin ist soviel in ihm kaputt gegangen, soviel am Familienleben verändert worden, dass auch dieser "Sieg" keine wirkliche Rückkehr in den "normalen Alltag" bedeutet.
    Zudem damit die Schikanen noch lange nicht zu Ende sind.............


    Dieser kurze ( 166 Seiten in relativ grosser Schrift ) Roman schafft es auf eindrückliche Weise, eine Situation darzustellen, die heute sicher keine Seltenheit mehr ist.
    Ich habe das Buch in kurzer Zeit gelesen aber es wird noch lange in mir nachhhallen.
    Eine Kleinigkeit hat mich gestört: Das zweite Kind wird immer nur als "das Baby" bezeichnet. Irgendwie fehlte mir der Namen.


    Das Buch bekommt von mir 10 von 10 Punkten.
    Und ich werde noch weitere Bücher von Annette Pehnt lesen. :-)

  • Hallo Rosenstolz!


    Mir hat dieser Roman auch ausgesprochen gut gefallen, tolle Besprechung! Dankeschön!
    Auch ich habe beschlossen die anderen Bücher der Autorin noch zu lesen.


    Schönen Sonntag wünscht


    lesefieber

  • gerade wollte ich im "ich lese gerade"Thread posten, dass mich dazu eine Rezi interessieren würde, da stelle ich fest, es gibt sie schon! Und wieder ein Buch mehr auf der Wunschliste *seufz*

  • @ Rosenstolz,


    danke für die schöne Rezi. Ich habe das Buch in der Stadtbücherei meines Vertrauens schon vor Wochen vormerken lassen.
    Ganz dringend kann ich dir "Haus der Schildkröten" empfehlen.

  • „Das war’s, sagte Jo. Ich musterte sein Gesicht und sah trotzige Erleichterung.“


    Gleich der erste Satz bringt uns mitten hinein ins Geschehen, konfrontiert uns schonungslos mit der Wirklichkeit.
    Jo ist fristlos gekündigt worden.

    Was erst wie ein Witz vorkommt, wird bitterer Ernst. Nach und nach wird aufgedeckt wie es zu der fristlosen Kündigung kommen konnte.
    Wie alles geschehen ist, erfahren wir aus zweiter Hand, aus der Sicht der Frau des Gemobbten.
    Ein aktuelles Thema, verpackt in eine Art Kriegsberichtserstattung. Hier wird nicht analysiert, gewertet, beurteilt, nur beschrieben, nüchtern, fast objektiv. Klischees wird man vergeblich suchen. Dem Leser bleibt es selbst überlassen, Schlußfolgerungen zu ziehen.


    Mobbing am Arbeitsplatz, psychologische Kriegsführung, ich habe es selbst mit gemacht, aus erster und zweiter Hand. Und natürlich mußte ich dieses Buch lesen, wegen des Themas und weil Anette Pehnt mich schon auf der Insel 34 so fasziniert hat.

    Der gezielt eingesetzte Terror, die weitreichenden Folgen auf das Opfer und auf den Partner, bzw. die Partnerin, die Auswirkungen auf die Betroffenen, auf ihre Gesundheit, ihre Psyche, ihre Beziehung, die Ohnmachtsgefühle, die Zweifel, die sich immer mehr einschleichen.


    Ein Buch, daß ich wärmsten weiterempfehle, nicht nur an Leser, denen dasselbe Schicksal zuteil geworden ist.

  • Ich bin schon einige Male, den Bogen allerdings immer enger ziehend, um dieses Buch herumgeschlichen - aber nach den hier geäußerten Ansichten hat sich die Möglichkeit des "nicht kaufens" gerade verabschiedet. Ich denke, es ist an der Zeit, über dieses Buch einen Kaufvertrag abzuschliessen.


    Herzlichen Dank für die sehr interessanten Rezis.... :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich habe das Buch geraade gelesen und kann mich den positiven Stimmen nur anschließen.


    Besonders gut hat mir gefallen, dass Annette Pehnt die Situation von Joachim aus Sicht seiner Ehefrau erzählt. So wird deutlich, wie sehr das Mobbing am Arbeitsplatz Auswirkungen auf den privaten Bereich, d.h. die Familie und Freunde des Betroffenen hat.


    Ein richtig gutes Buch.

  • Ich mochte dieses Buch nicht.
    Nachdem ich von Insel 34 berührt und regelrecht bezaubert war, war mir diese Geschichte zu kalt, zu sezierend. Das liegt mit Sicherheit an meiner Erwartungshaltung, dennoch kann ich mich der positiven Meinung der Rezensenten in den Feuilletons und auch hier nicht anschließen.
    Ich habe im Lauf der Lektüre keinen Zugang zu und auch kein Interesse für die Figuren entwickeln können. Dieses Buch hat mich zu keinem Zeitpunkt bewegt oder berührt.


    Edit: Nachdem Frau Pehnt dann auf der Lesung erzählt hat, dass Ereignisse in ihrem direkten familiären Umfeld den Impuls zu diesem Roman gaben, fand ich ihn sogar noch misslungener.

    Man muss ins Gelingen verliebt sein,
    nicht ins Scheitern.
    Ernst Bloch

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Seestern ()

  • Meine Meinung:


    Zitat

    Original von: Annette Pehnt: Mobbing; Serie Piper; München; Dezember 2008
    „Es ärgert mich, wie Katrin über uns Bescheid zu wissen meint, ihre Bemerkungen geben mir das Gefühl, wir durchliefen eine Fallgeschichte, sie nimmt mir die Einzigartigkeit meiner Verzweiflung.“ (S.46)


    Der Verlust des Arbeitsplatzes, der damit verbundene finanzielle und soziale Abstieg einer mittelständischen Familie, die Veränderungen innerhalb der Paar-Beziehung mit redundant ablaufenden Gesprächen, bestehend aus Vorwürfen, Missverständnissen und Rückzug voreinander. Joachim ist der Protagonist von Annette Pehnts Roman „Mobbing“ - Er ist der Träger der Familie, das finanzielle Standbein, mit dem das schöne Haus im Grünen, der Kindergarten und sämtliche Freizeitangebote für zwei Kinder beglichen werden. Und doch berichtet nicht der Familienvater, sondern dessen Ehefrau. Sie berichtet von Anfeindungen gegenüber Joachim an seinem Arbeitsplatz, von der entstehenden Isolation, vom Mobbing durch die neue Vorgesetzte, durch die Kollegen; von der fristlosen Kündigung und den damit verbundenen Existenzängsten, von der eigenen Hilflosigkeit sich gegen die Ungerechtigkeit zu wehren und von Joachims Rückzug aus der Ehe, den vielen Gesprächen, die misslingen, weil beide nicht in der Lage sind ihre Gedanken zu formulieren; den Gesprächen, die nur aus Vorwürfen bestehen, aus der eigenen Isolation bestehen.


    Die Öffnung gegenüber dem Partner findet nicht statt – Joachim zieht sich zurück, wird ein einsamer Kämpfer und fühlt sich von seiner Ehefrau nicht genügend unterstützt. Sie weiß nicht, wie sie mit ihm umgehen soll, kann ihn nicht rückhaltlos unterstützen, will ein differenziertes Bild statt der einseitigen Beschreibung ihres Mannes. Das eigentliche Thema des Romans – das Mobbing – bleibt ein beinahe ausgespartes Thema; vieles deutet sich an, vieles bleibt im Ungefähren. Die Beschreibungen sind kryptisch und vielseitig auslegbar. Nur in Ausschnitten und zwar dialogisch, im Gesprächsszenen mit seiner Ehefrau, berichtet Joachim von den Problemen an seiner Arbeitsstellen – das Bild wirkt im Roman trotz der Ambivalenz deswegen so scharf gezeichnet, weil die Autorin gekonnt diese Gesprächsfetzen mit anderen Perspektiven verbindet. Immer wieder sind es Freunde und Bekannte, die wenig unterstützend wirken – die Ehefrau reflektiert diese, fühlt sich sogar ausgeschlossen, abgestoßen und missverstanden. Immer wieder gibt es Sequenzen von seiner Arbeitsstelle, wiederum nur kryptisch, die meisten sehr missverständlich, vieldeutig. Es entsteht der der Eindruck, dass das eigentliche Thema des Romans nicht das Mobbing ist, sondern hier eine Fallstudie präsentiert wird, wie sich der Verlust des Arbeitsplatzes auf das Leben einer gesamten Familie auswirken kann. Und geradezu stilistisch perfekt reihen sich da die Dialoge ein:


    Zitat

    Original von: Annette Pehnt: Mobbing; Serie Piper; München; Dezember 2008
    “Hier erklang zum ersten Mal der Refrain, der uns seitdem begleitet. Er kann verschiedene Formen annehmen, sich in unterschiedliche Wendungen kleiden und sich unter anderen Vorzeichen in unsere Gespräche drängen. Er: Du warst nie dabei. / Sei froh, dass du nicht dabei warst. / Du hast keine Ahnung. / Du kannst dir das nicht vorstellen. / Das versteht nur einer, der es selbst erlebt hat.
    Sie: Dann halte ich lieber gleich den Mund. / Dann gehe ich eben ins Bett. / Was soll ich da noch sagen. / Wie sollen wir denn überhaupt noch reden.
    Er: Reden, reden, reden. / Worte sind eben nicht alles. / Immer dieses Gerede. / Dann geh doch ins Bett, du siehst sowieso müde aus." (S.37/38)


    Raffiniert, niemals langatmig, immer sehr lapidar beschreibt die Autorin den Verfall der Familie; sie konzentriert die Handlung auf einen Tag, den Valentinstag, sowie den darauf folgenden Sommer. Lakonisch reiht sich Beschreibung an Beschreibung; die Autorin selbst lässt ihre Figuren sprechen, sie belehrt nicht, sie reflektiert nicht. Der Roman wirkt dennoch wie eine Gesellschaftskritik; poetische Kraft entwickelt sich so dennoch – Nicht nur, wenn die Protagonistin die Sandburg von Kindern zerstört, weil diese ihre älteste Tochter nicht haben mitspielen lassen; und nicht nur, wenn beide nebeneinander liegen, nur schweigen und das einzige Geräusch das der Bienen im Vorgarten ist.



    Fazit:


    Ausnehmend gut, stilistisch sehr dicht und inhaltlich interessant finde ich diesen Roman der deutschen Autorin. Die Lösung nicht Joachim selbst, sondern seine Ehefrau sprechen zu lassen, um die Ungewissheit und Hilflosigkeit in der Familie darzustellen sowie die starke Veränderung in der Paar-Kommunikation halte ich für sehr gelungen. Ein „schönes“ Leseerlebnis.

    Nicht nur der Mensch sollte manches Buch,
    auch Bücher sollten manchen Menschen öffnen.
    (Martin Gerhard Reisenberg, *1949)

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Desdemona ()

  • Wow! Habe das Buch innerhalb von 2 Tagen verschlungen! Von Anfang an hat mich die schnörkellose Sprache in ihren Bann gezogen. Man zittert mit, ist schockiert, kann sich alles absolut gut vorstellen und hofft und bangt mit den Betroffenen.
    Ich habe nur positive Rezensionen seinerzeit in den Zeitungen gelesen, ich kann sie alle nur bestätigen.



    Absolut lesenswert!!

    ...der Sinn des Lebens kann nicht sein, am Ende die Wohnung aufgeräumt zu hinterlassen, oder?


    Elke Heidenreich


    BT