OT: Ardoise 2002
Man kann Schriftstellerinnen und Schriftstellern auf ganz unterschiedliche Weise nahekommen. Man kann ihre Bücher lesen. Wenn sie dazu bereit sind, laden sie einen zuweilen auch ein, ihre Briefe und ihre Lebensgeschichten zu lesen. Das ist dann schon ziemlich nahe. Hin und wieder aber erlauben sie einem eine Nähe besonderer Art. Sie gewähren uns Einblicke in das, was sie ausmacht, das Schreiben nämlich.
Djians ‚In der Kreide’ ist ein solcher Einblick mitten ins Herz eines Schriftstellers. In zehn Kapiteln äußert sich Djian zu zehn Schriftstellern, deren Romane oder Gedichte ihn geprägt haben, als Mensch und als Schreibender. Bei denen er ‚in der Kreide steht’ - für einmal entsprechen sich Originaltitel und Titel der deutschen Übersetzung genau. Die deutschsprachige Ausgabe gibt noch den Untertitel ‚Die Bücher meines Lebens’ auf dem Umschlag dazu und nennt die zehn Autoren.
Es sind ausschließlich Männer, ein Franzose, Céline, ein Schweizer, Blaise Cendrars, und acht US-Amerikaner. Salinger und Kerouac, Faulkner und Melville, Henry Miller und Carver, Hemingway und Brautigan.
Djians Ton ist leicht, das Buch schmal, hundert Seiten vielleicht. Diese hundert Seiten aber enthalten eine solche Leidenschaft, ein Glühen für die Literatur wie fürs Schreiben, die das Buch einfach riesig machen. Es geht nicht darum, die Bücher und Autoren vorzustellen, es geht auch nicht darum, die Texte zu verteidigen oder für sie zu werben. Djians einziges Anliegen ist es, zu erzählen, wie diese Bücher auf ihn gewirkt haben und welche Konsequenzen sie für ihn als Schriftsteller hatten.
Daraus entwickelt sich dann, ohne daß man es merkt, eine kleine Literaturgeschichte ganz eigener Art, Djian’scher Art eben, aber auch eine von eigenen ästhetischen Gesetzmäßigkeiten. Die Frage nach dem, was ‚Stil’ ist, die Suche nach Echtheit, der Blick von der Straße, nicht der aus den Salons, das Gewicht von Wörtern, aus denen Worte und Sätze geworden sind. Soll man Sätze bis zum Äußersten eindampfen? Was ist das Wesentliche einer Aussage? Was ist Pornographie?
Daraus wiederum entwickelt sich eine Art Monolog Djians über sein eigenes Schreiben. Und der liest sich ebenso spannend.
Das Buch ist keine Bibel und erhebt keinen anderen Anspruch als den der Beschreibung persönlicher Erfahrungen bei der Lektüre. Es ist leidenschaftlich, es ist subjektiv, parteiisch.
Eben durch die persönliche Auswahl aber wird es ungemein intim. Man ist dem Schriftsteller Djian so nahe, daß man meint, sein Herz schlagen zu hören.
Die beschriebenen Bücher werden dabei lebendig und wirken völlig neu durch den ganz eigenen Blick, den Djian auf sie hat. Seine Beschreibungen machen nicht nur neugierig. Es geht, wenn man länger in dem Büchlein liest, eine regelrechte hypnotische Kraft von ihm aus. ‚Lies mich’, scheinen Kerouac oder Faulkner zu sagen, ‚Sofort’ ruft Henry Miller, Ist lange her. Zeit für einen zweiten Blick’ Salinger. Und Cendrars raunt ein ‚Wie wär’s mit uns beiden?’
„Es geht um folgendes“, schreibt Djian in der Vorbemerkung. „Eines Tages nahm ich ein Buch zur Hand, schlug es auf, und plötzlich geschah es. Ich las einen Augenblick wie gebannt, wie jemand, der Gold auf dem Müllplatz findet.“
Und gerade so kann es einem mit seinem ‚In der Kreide’ ergehen.