‚Ein Bilderbuch aus Korea’ steht rechts unten in der Ecke des Titelbilds. Ein fremdes Buch also. Das Fremdartige sticht einem ohnehin gleich ins Auge, ist doch der Titel zuerst in koreanischer Schrift abgedruckt und der deutsche dann an zweiter Stelle darunter. Ungewohnt auch die Tracht des Kindes, das einem von der Buchvorderseite großäugig entgegensieht. Es ist dieses Kind - wir erfahren nicht, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist - , das die Titelfrage stellt, und eben an der Seite des Kinds erleben wir eine Wartezeit an einer Straßenbahnhaltestelle in Seoul.
Die Bahnen kommen angefahren, Fahrgäste steigen aus, Mama ist nicht darunter. Das Kind fragt die Fahrer, sie kennen die Mama nicht und können ihm nicht weiterhelfen. Das Kind vertreibt sich die Zeit, es betrachtet die anderen Wartenden auf dem Bahnsteig, den Himmel und einen Baum, es malt Linien auf den Boden, es schaukelt und wiegt sich an der Metallstange des Haltestellenschilds hin - und her.
Es ist Winter und langsam beginnt es zu schneien. Aus einem frühlingsgrünen Himmel, ein erstaunliches Bild. Es schneit kräftig, bald sind die Dächer der Häuser dick mit Schnee bedeckt. Die Flocken wirbeln nur so. Das Näschen des Kindes wird immer röter vor Kälte. Aber Mama kommt tatsächlich, das Warten hat sich gelohnt. Die letzte Doppelseite ist in ihrer originellen Farbgebung einer Winterlandschaft wie in der Darstellung von Mutter und Kind - zwei winzige Figürchen in der Ferne, die man beinahe übersieht - ein wahrer Höhepunkt an Glück und Geborgenheit.
Doch man muß nicht bis zur letzten Seite warten, ehe man im Vertrauten angekommen ist. Die Kernfrage ist wohl international wie auch die Kernsituation des Wartens auf die Mutter. Hier findet man sich beim Lesen wie beim Betrachten umgehend wieder.
Daß das Buch durchgängig zweisprachig ist, erweist sich als Glücksgriff, es ist nicht nur ein Kuschelbuch, es lädt auch zum Entdecken ein. Es gibt soviel zu sehen. Die fremdartigen Trachten, die Gepäckstücke, die Straßenbahn und den Mann, der einen Lastkarren zieht, die Strommasten mit ihren Leitungen. Ein wenig altmodisch, aber alles ist erkennbar. Die Geschichte erschien zum erstenmal 1938 in einer koreanischen Zeitung und sie wirkt, als sei sie gestern geschrieben.
Die Illustrationen dagegen sind ganz neu. Auch sie arbeiten sozusagen auf zwei Ebenen, zarte Kreidezeichnungen in Braun und Weiß, auf denen Menschen wie Häuser nur mit wenigen Strichen skizziert sind, wechseln sich ab mit Bildern in etwas kräftigerem, aber immer noch pastelligen Braun, Gelb, Weiß und Grün. Eine Lust fürs Auge sind dann die sattgrünen und gelben Seiten, die auch zeichnerisch den Werg zum strahlend grünen Schlußhimmel bereiten.
Dazwischen sitzt und hüpft und staunt und steht und wartet das Kind und verleiht dem Ganzen sowohl ein Zentrum als auch eine mitreißende Lebendigkeit, die einen ganz schwerelos von Seite zu Seite weiterführt.
Ein Nachwort des Übersetzers Andreas Schirmer informiert ein wenig über Korea, die koreanische Schrift und darüber, daß es in Seoul seit fast vierzig Jahren keine Straßenbahn mehr gibt. Das stimmt einen nach der Lektüre dieses Buchs geradezu traurig, so schön hat man sich an der Haltestelle die Zeit vertrieben.
Traurig ist auch die Geschichte des Autors. 1904 geboren, gehörte er zu den wichtigsten Schriftstellern seines Landes. 1956 kam er wahrscheinlich in Nordkorea ums Leben.
Die Geschichte, ihre zeichnerische Umsetzung, die Idee, das Ganze zweisprachig zu veröffentlichen und damit dem Spiel Fremdheit-Vertrautheit noch eine Dimension hinzuzufügen - gleich, wo man ansetzt, bei diesem Buch ist alles nur schön.
Was für wunderbare Bücher es doch gibt!