'Die Kaufmannstochter' - Seiten 116 - 230

  • Liebe Hestia,


    ich glaube, es gibt mehrere Sorten von Schamhaftigkeit. Ich kann das nicht genau erklären (kann jemand helfen?), aber Guttas Handlung in der Hochzeitsnacht, die auf den ersten Blick schamlos erscheint, ist für mich gerade deshalb voller Scham.


    Ein Thema des Romans heißt Scham. Das habt ihr bestimmt schon bemerkt. Kennt ihr noch andere Bücher, in denen es um Scham geht? Findet ihr, dass das Thema in der Literatur zu kurz kommt? Oder findet ihr es überflüssig?


    fragt Ines


  • Ehrlich gesagt nicht, Ines.
    Ich habe alle möglichen Emotionen gefunden, aber dass Scham in Deinem Buch ein zentraler Schwerpunkt ist, hat sich mir nicht erschlossen. Weder bei Gutta, noch bei Bertram, noch bei Ludovik.

  • @ Ines: Das mit dem Namen rauben und damit die Identität finde ich sehr interessant, darauf wäre ich nicht gekommen.


    zu Gutta:
    Sie hat Angst, sich der Lust hinzugeben, die sie doch hin und wieder verspürt, weil sie an die Magd denkt, die wie eine läufige Hündin war und verstoßen wurde. Sie hat Angst, die Kontrolle über sich zu verlieren. Schamhaft würde ich sie nicht unbedingt nennen, passt nihct so recht zu der Hochzeitsnacht.

  • Zitat

    Original von geli73
    @ Ines: Das mit dem Namen rauben und damit die Identität finde ich sehr interessant, darauf wäre ich nicht gekommen.


    Offensichtlich habe ich zu viel Romane gelesen, in denen die Herrschaft das aus Bequemlichkiet gemacht hat- James der Butler hies ja in realiter seltenst James. Aber der Gedanke der Identität rauben passt zu Bertram



    Zitat

    Original von geli73
    zu Gutta:
    Sie hat Angst, sich der Lust hinzugeben, die sie doch hin und wieder verspürt, weil sie an die Magd denkt, die wie eine läufige Hündin war und verstoßen wurde. Sie hat Angst, die Kontrolle über sich zu verlieren. Schamhaft würde ich sie nicht unbedingt nennen, passt nihct so recht zu der Hochzeitsnacht.


    Zu der Hochzeitnacht mit Ines Erläuterung schon- ansonsten hätte ich auf eine verklemmte Erziehung durch das Kloster und den Schock dieser Beobachtung geschlossen- Schamhaftigkeit ist offenbar heute kein naheliegender Gedanke mehr :gruebel

  • Zitat

    Original von beowulf
    Schamhaftigkeit ist offenbar heute kein naheliegender Gedanke mehr :gruebel



    Ja, das habe ich auch festgestellt. Aber das ist nur scheinbar so. Ich habe im Januar mal einen Workshop im Frauengefängnis gemacht. Dabei hat sich - völlig überraschend für mich - herausgestellt, dass einige der Frauen tatsächlich durch Scham ins Gefängnis gekommen sind.


    Was tut man alles aus Scham? Man lügt, man betrügt, im schlimmsten Fall mordet man sogar. Scham, scheint mir, ist ein ebenso starkes Motiv wie Rache, Eifersucht und Habgier.



    Was haltet ihr von der Scham? Ist sie ein unterschätztes Gefühl oder gibt es sie heute gar nicht mehr so?


    fragt Ines, grüßt schön und geht sich noch mal ein bisschen auskurieren.

  • Ich hab den Eindruck, dass Scham seltener wird. Angefangen bei den Muttis, die in aller Öffentlichkeit ihre Kinder stillen, im Schwimmbad, wo viele Frauen oben ohne liegen, oder den bacuhfrei gekleideten Mädchen.
    Damit meine ich jetzt die körperliche Scham, da ist alles viel freizügiger geworden.


    Scham, wie z.B. bei Armut oder Krankheit, damit habe ich nicht soviuel Erfahrung. Kann mir schon vorstellen, dass es das noch häufig gibt, dass sich jemand schämt, zuzugeben, dass er arm ist. :gruebel


    So stark wie Rache, Habgier, Eifersucht würde ich es jedoch nicht einschätzen.


    Selten, dass heute noch jemand zu einem anderen sagt "Schäm Dich", wenn derjenige Dinge getan hat, die man nicht tut. Oft macht man das noch bei Kindern, aber auch da höre ich es selten.

  • Lügen und betrügen aus Scham, das kann ich mir vorstellen. Aber aus Scham morden? Mit dem Gedanken tue ich mich irgendwie schwer.


    Wen ich an Scham denke, dann in den gleichen Zusammenhängen wie Geli. Sich schämen, Hilfe anzunehmen, sich schämen, arm zu sein. Scham im Zusammenhang mit Schuld, auch wenn sie selber gar keine Schuld an ihrem Zustand/an ihren Umständen trifft.

  • Danke Ines für die Erklärung.
    Für mich eine völlig neue Sichtweise.


    Ich muss auch ehrlich zugegen, dass ich Scham als Thema des Romans nicht gesehen hatte. Bisher als Buch, über die Rolle in einer Gesellschaft. Und das man nicht alles hinnehmen muss, dass man mit Fleiß und Wissen gegen geltende Konventionen ankämpfen kann. Aber wie gesagt, noch habe ich nicht ausgelesen, vielleicht ändert es sich.


    Ich empfand Gutta anfangs als recht selbstbewusst für ihre Zeit. Im Laufe des Romans hat sich das ein wenig anderes entwickelt :gruebel


    Ich kann mir auch vorstellen, dass man aus Scham die ein oder andere Lüge auf sich nimmt. Gewisse Dinge aus dem Leben zuzugeben, dazu zu stehen ist nicht immer einfach. Sich für Taten zu schämen, kann ich auch nachvollziehen. Auch sich für seine Lebensumstände zu schämen, verstehe ich alles.


    Kann Scham aber auch nicht ein Motor sein, um zb widrige Lebensumstände zu verlassen und was dagegen zu tun? Nur mal so ein Gedanke.

  • Ich muss auch gestehen, dass ich das Thema Scham nicht heraus gelesen habe. Aber bei längerem Nachdenken passt es schon. Gutta schämt sich bzw. hat Angst so zu werden wie die Magd.
    Allerdings hab ich das auch eher auf ihre Erziehung in diesem Stift bezogen.
    Ich denke auch, dass das Schamgefühl immer mehr nachlässt, wie schon einige vor mir das genau erläutert haben.

    Zitat


    Ich empfand Gutta anfangs als recht selbstbewusst für ihre Zeit. Im Laufe des Romans hat sich das ein wenig anderes entwickelt


    :write So gings mir auch. Inzwischen ist sie mir nicht mehr sonderlich sympathisch. Sie könnte ihren Mann doch etwas lieben. Dann wären beide etwas ausgeglichener. Ihre Caritas liebt sie doch auch. Warum gehts nicht bisschen bei ihrem Mann? Ist sie wirklich so kalt? Oder ist es die Scham? Naja wir werden sehen, ob es noch besser klappt mit den beiden.

  • Zitat

    Original von Ines
    Findest du wirklich, dass Bertram nur alle Leute für seine Zwecke benutzt? Irmelin hat doch auch von ihm profitiert. Und er hat sie zu nichts gezwungen, hat ihr nichts versprochen. Für mich ist das eher eine Geschäftsbeziehung. Tragisch ist nur, dass Irmelin ihn liebt. Aber das kann man Bertram ja nicht vorwerfen.


    Ganz ehrlich, ich finde, Bertram verhält sich hier wie ein Zuhälter. Nur dass er sich halt nicht mit Geld bezahlen lässt, sondern mit Informationen und dem Streuen von Gerüchten. Und sobald er Gutta heiratet, macht er einen auf anständig und entledigt sich Irmelins.
    Uneigennützig hätte er sich verhalten, wenn er Irmelin ein Einkommen ohne Gegenleistung verschafft hätte.



    Edit: man merkt, ich werde immer noch nicht warm mit ihm ;-) Und Gutta kommt mir immer noch etwas zu kurz. Vielleicht habe cih auch deshalb das mit der Scham nicht erkannt.

    :lesendR.F. Kuang: Babel


    If you don't make mistakes, you're not trying hard enough. (Jasper Fforde)

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  • Was ich nicht verstehe ist, das er der sonst an alles denkt, bei der Heirat seinen alten Gedanken, dass er Irmelin "irgendwann noch verheiraten" müsse, nicht zuende bringt- das hätte Ärger ersparen können...



    Edit: Zuhälter ist etwas anderes. Sie hat ihm Geld angeboten, er hat es nicht gewollt. Er hat ihr geholfen um sich selbst auch zu helfen. Sie konnte in dem Haus unter angenehmeren Umständen viel mehr Geld erzielen, das war einfach ein Geschäft- Information gegen Karrieresprung, das halte ich nicht für verwerflich.

    Nemo tenetur :gruebel


    Ware Vreundschavt ißt, wen mahn di Schreipfelerdes andereen übersiet :grin


    :lesend  :lesend

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  • zu Gutta fällt mir dies ein:


    sie hat sich in ihrer Hochzeitsnacht nackt ausgezogen und vor Bertram gestellt - frei nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung
    Wenn man etwas nicht kann, kennt oder angst davor hat, ist es manchmal einfacher es hinter einem Frontalangriff zu verstecken.


    ich bin mir jetzt nicht ganz sicher, aber hat Gutta nicht früh ihre Mutter verloren:
    dies könnte einiges erklären, ihr fehlt das Vorbild einer weiblichen Person
    - sie hatte sehen können, wie es ist in einer Ehe zu leben und vielleicht auch zu lieben
    - sie hatte immer nur Männer um sich herum und weiß vielleicht gar nicht wie eine Frau fühlt und denkt, sie konnte es sich nur bei anderen Abschauen, dies ist aber immer noch etwas anderes als wenn man es in der Familie erlebt

    Gern lesen heißt, die einem im Leben zugeteilten Stunden der Langeweile gegen solche des Entzückens einzutauschen.
    (C.-L. de Montesquieu)

  • Zum Thema Irmelin:
    Ich hatte überhaupt nicht das Gefühl, dass er sie hintergeht, im Gegenteil, er sorgt für sie. Immerhin hat er sie ja nicht zur Hure gemacht - sie war eine Hure. Er hat ihr Zärtlichkeit geschenkt und ein Haus, wo sie wohnen konnte. Kein anderer hat sich um ihr Wohl gesorgt. Zudem hat sie ihn dazu gedrängt ihr (mehr oder weniger) zu sagen, dass er sie liebt. Er wollte sie nicht verletzen. Zumindest habe ich das so aufgefasst. Er wollte im Grunde eine fruchtbare Geschäftsbeziehung - und sie wollte mehr.




    Was Guttas sog. Schamhaftigkeit angeht, so hatte ich sie an dieser Stelle im Roman eher für eine praktisch veranlagte Frau gehalten - nicht für schamhaft, im Gegenteil. Sie zieht sich in der Hochzeitsnacht prompt aus - während er noch herumdruckst. Dann kommt sie zur Sache mit den Worten "Faxenkram, jetzt ist Hochzeitsnacht, und ich weiss genau, was unsere Pflicht ist!" (Seite 194)


    *abroll*


  • Zu Irmelin: das sah ich genauso. Tragisch ist halt für Irmelin dass sie sich dadurch vom Leben auch mehr erwartet, und dann doch noch an ihr Happy End (mit Bertram) glaubt, das aber nie vorgesehen war.


    Was das Thema Scham anging: das habe ich jetzt auch nicht so herausgelesen. Ich denke dass Scham immer noch ein Gefühl ist das auch in unserer heutigen Welt noch sehr präsent ist. Jeder hat Angst davor vor anderen sein Gesicht zu verlieren. Gerade heute in unserer Leistungsgesellschaft ist das Thema glaube ich sehr aktuell. Klar, man schämt sich vielleicht nicht mehr wie Oma dass das Wohnzimmer nicht perfekt aufgeräumt ist wenn Besuch kommt. Oder sieht es nicht mehr als Katastrophe an wenn jemand Fremdes uns nackt sieht.
    Aber es ist sehr schwer vor Fremden oder auch vor uns nahe Stehenden sich Scheitern einzugestehen. Interessant fand ich das Milgram Experiment, wo bewiesen wurde, dass die Probanden weitermachen, obwohl sie das Experiment unmenschlich fanden, weil sie damit sich selbst eingestehen würden dass sie schon die ganze Zeit selbst unmenschlich handeln, aus Scham also zuzugeben, dass ihr eigenes Verhalten moralisch verwerflich war.


    Nach längerem Nachdenken: Ludovik hat für mich kein Schamgefühl, Gutta ein viel zu ausgeprägtes, das sie daran hindert an ihrem eigenen Leben teilzunehmen, und Bertram kämpft sein ganzes Leben gegen die Scham eine Arschgeburt zu sein, ein Niemand. Und dann gibt es da noch die Toten auf seinem Weg die ihn verfolgen...Letztendlich kämpft er sein ganzes Leben dafür ein ehrbarer Bürger zu sein, ein erfolgreicher Mensch, der keine Fehler (mehr) macht.


    Allerdings hat sich mir das Thema beim Lesen jetzt spontan auch nicht erschlossen.


    So, um meinen ewig langen Beitrag abzuschliessen.
    Ja, ich kenne noch ein Buch über Scham, das ich erst vor kurzem gelesen habe.
    Die Hauptperson ist die der Gutta tatsächlich nicht unähnlich.
    Iris, wenn Dich das Thema interessiert, lese es! Es ist wirklich grossartig, bedrückend, und schön.
    Es handelt sich um: Das Versprechen der Ehe von Jette Kaarsbol.

  • Zitat

    Original von Bouquineur
    Lügen und betrügen aus Scham, das kann ich mir vorstellen. Aber aus Scham morden? Mit dem Gedanken tue ich mich irgendwie schwer.


    Wen ich an Scham denke, dann in den gleichen Zusammenhängen wie Geli. Sich schämen, Hilfe anzunehmen, sich schämen, arm zu sein. Scham im Zusammenhang mit Schuld, auch wenn sie selber gar keine Schuld an ihrem Zustand/an ihren Umständen trifft.



    Was ist mit der Scham, nicht zu genügen?
    Ich denke nicht nur an den Arbeitslosen, der noch Monate später mit der Brotbüchse unterm Arm das Haus verlässt. Ich denke auch an die kleine Schülerin, die von ihrem Vater gesagt bekommt: "Bei mir zählen nur Einser."


    Scham hat auch immer etwas mit Macht zu tun. Der, der in einem anderen Schamgefühl auslöst, hat Macht über den Schämenden. Ach, da gibt es so viele Aspekte zum Thema.

  • Zitat

    Original von hestia2312


    Kann Scham aber auch nicht ein Motor sein, um zb widrige Lebensumstände zu verlassen und was dagegen zu tun? Nur mal so ein Gedanke.



    Darüber muss ich wirklich einmal nachdenken. Mein erster Gedanke lautete: Nein.
    Weil der Beschämte ja der Schwächere ist. Und es braucht Kraft und Stärke, um aus Lebensumständen auszubrechen. DAnn erinnere ich noch einmal an den Zusammenhang zwischen Scham und Macht.