Der Gott der kleinen Dinge - Arundhati Roy

  • Ich habe das Buch gerade frisch begonnen. Und hat eine seltsame Wirkung auf mich.
    Ich muss es laut lesen - mir selbst vorlesen und mir vorlesen lassen, weil die Geschichte darum zu bitten scheint, nicht nur gelesen sondern vor allem erzählt zu werden.
    Unglaublich wundervoll.


    Zitat

    Original von Lotta
    (und die Sprache! Hach, die Sprache .. :anbet)


    ... besser kann man es nicht ausdrücken.

  • Weil mich die LR-Bücher leicht frustrieren, les ich von Arundhati Roy grad eine Essay-sammlung, die ich vor zwei wochen aus der Wühlkiste geholt hab:


    Einmal davon abgesehen, dass ich ständig neben meinem alten Atlas häng, der mich obendrein wegen seinem alter nicht wirklich schlauer macht, und flüsse und städte und regionen such, sind sie sehr berührend.


    Sie schreibt sich ihre politische frustration und wut von der seele, und das in einer sehr schönen sprache. Ich hab stellen davon vorgelesen, und meine zuhörer sind danach jeweils wütend im kreis gestapft. Zurecht. Sie empört sich über dinge, die empörenswert sind.


    Ich streich Indien von meinen wunschreise-destinationen: Na gut, illusionen hab ich mir über Indien und seine verhältnisse in dem sinn nie gemacht, aber meine neugier, wie schlimm es wirklich ist, hat dieses buch vollends befriedigt. Muss ich mir nicht auch noch live anschauen... Wenn ich mich aufregen will, reicht ein blick in die nähere umgebung vollauf, das allgemeinmenschliche schlägt auch mitten in der ersten welt gnadenlos zu, darauf müssen mich keine Inder aufmerksam machen, seh ich selbst...


    Sie legt ihre finger auch auf die empfindlichsten wunden der weltpolitik.


    Die sprache ist sehr schön und stellenweise poetisch, gelegentlich geht die leidenschaft mit ihr durch, und die sprache wandelt sich ins missionarische und polemische was aber angesichts der themen und zustände verständlich ist, die machen einfach sauer.


    Die Essays handeln von der indischen Dammbaumanie, und die probleme, die sie verursacht, vom indischen Atomprogramm, und die fragwürdige weise, wie es den Indern verkauft wurde, von den großen indischen Firmen, die einem reichen machtklüngel gehören, und die gesellschaftlichen widersprüche zwischen tradition und moderne und arm und reich, über die lokal-indische wie auch die weltpolitik der letzten 20 jahre und die sinnlosigkeit - beziehungsweise die grausame, verschlagene sinnhaftigkeit der aktuellen kriege.


    Aber eines aus ihrem ersten Essay ist mir noch immer nicht klar:
    :gruebel Welchen zusammenhang haben dammbauten mit sich häufenden erdbeben?!? Gebt mir mal geologische nachhilfe: ist es das wassergewicht, das an die bergflanken drückt? Oder ist es so, dass kleine erdstöße erst durch die risse in monster-dämmen auffallen? Oder ist das nur eine mythologische metapher, dass sich die erde gegen die menschlichen ketten wehrt - in dem fall war es aber nur die andeutung der andeutung...


    Ich werd von ihr sicher noch weitere Essays lesen, wenn es noch welche gibt, aber ich weiss nicht, ob der roman etwas für mich ist, wie ihr es beschrieben habt, obwohl sie mich mit ihrer häufigen bezugnahme auf die literarische gestalt das 'gotts der kleinen dinge', dessen zeit es werden sollte, darauf neugierig gemacht hat.


    Aber vom handlungshintergrund her sehe ich, dass sich ihre thematik in roman und essay nicht unterscheidet: sie ist eine zu tiefst politische schriftstellerin, sie sieht ihre essays und ihre bücher als einheit, und empört sich darüber, dass die romanschriftstellerin AR eine Indische Nationalheldin ist, während die essayschreiberin AR als politische Aktivistin gilt...
    Hängt vielleicht damit zusammen, dass man denselben gesellschaftlichen hintergrund in romanen weniger ernst nimmt, als ein politisches essay in einer zeitung... Im roman ist es nötiges lokalcolorit, da kann man es sogar wagen mehr oder weniger deutliche anspielungen zu machen.
    Sobald man jedoch in einer zeitung namen nennt und mit dem finger auf real existierende leute zeigt, wird man unbequem...


    Wenn das buch einer zeitlichen entwicklung folgt (ich hab die erscheinungsdaten nicht genauer angesehen), könne man boshaft sagen, die Autorin hat sich schliesslich dem verlags- und redaktionsdruck gebeugt: ihre älteren essays sind lang und beschäftigen sich mit indischen misständen, die jüngeren sind kürzer und handeln von weltpolitik - was aber auch an der Auswahl der texte liegen kann - da für uns weltpolitik sicher interessanter ist, als indische lokalpolitik.
    In den ersten essays im buch hat sie sich noch über politische lügen und zensurversuche in indien echauffiert, in den neueren redet sie über amerikanische weltweite meinungsbildung und zensurversuche, und italienische medienkonzentration. Amerikaner beschweren sich ja, dass weltweites Amerika-bashing grad modern sei und damit AR somit nur eine weitere draufschlägerin - mei, aber da darf man nicht einfach wegen dem öl irgendwo einfallen, und sich die freiheit und menschenrechte als feigenblatt umhängen, das war etwas zu durchsichtig... und Silvio... Silvio bietet sich selber freiwillig als thema an.
    Mir als zwischenzeilenleser stellt sich jetzt die frage: schreibt sie von der welt und meint sie nach wie vor Indien? Oder hat sie wie der titel andeutet, bloss die allgemeingültigkeit der 'Politik der Macht' hüben wie drüben erkannt und auch, dass man in den vielzitierten 'zeiten der globalisierung' die innere politik nicht länger von der äusseren trennen kann, denn sie sind viel zu komplex miteinander verbunden?


    Naja, eine gute sammlung, kann ich auf jeden fall weiterempfehlen.

    DC :lesend


    Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens I


    ...Darum Wandrer zieh doch weiter, denn Verwesung stimmt nicht heiter.
    (Grabinschrift F. Sauter )

  • Zitat

    Original von MagnaMater
    Aber eines aus ihrem ersten Essay ist mir noch immer nicht klar:
    :gruebel Welchen zusammenhang haben dammbauten mit sich häufenden erdbeben?!? Gebt mir mal geologische nachhilfe: ist es das wassergewicht, das an die bergflanken drückt? Oder ist es so, dass kleine erdstöße erst durch die risse in monster-dämmen auffallen? Oder ist das nur eine mythologische metapher, dass sich die erde gegen die menschlichen ketten wehrt - in dem fall war es aber nur die andeutung der andeutung...
    .


    Ich vermute eigentlich eine politische Metapher dahinter, andererseits gibt es die Sardar-Sarovar-Talsperre ja wirklich und Arundhati Roy ist vermutlich wegen den erforderlichen Umsiedlungen, die nur die Ärmsten trifft, dagegen.
    Edit: Da war ich wohl auf der falschen Spur!

  • Zitat

    Original von Bouquineur
    Da gibt es wohl tatsächlich einen vermuteten Zusammenhang:


    Reservoir-induced Seismicity in China (PDF)


    :wow ich hab das glatt für eine lokale umweltschützer-legende gehalten, aber das mit der geringen tiefe, und dass härtere gesteinsschichten betroffen sind, und keine weichen könnt glatt hinkommen...
    naja, eigentlich, warum wunder ich mich? Dass die schwankende polvereisung effekt auf erdverformung und auch vulkanismus hat, hab ich gerad gelesen, und das aus einer quelle, die für umweltaktivismus eigentlich unverdächtig ist...


    was baut man auch so riesendämme? :unverstanden mehrere kleine reichen nicht, oder? Ich mach ja folgende milchmädchenrechnung: mehr kleine wehre = mehr turbinen = mehr strom, irr ich mich? offensichtlich.


    jetzt bin ich wieder ein stück gscheiter... danke, Bouquineur! :anbet

    DC :lesend


    Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens I


    ...Darum Wandrer zieh doch weiter, denn Verwesung stimmt nicht heiter.
    (Grabinschrift F. Sauter )

  • Anfangs fand ich es schwer, mich in das Buch reinzufinden, da oft Zeit und Perspektive gewechselt wird und die Zusammenhänge noch fehlen, aber schließlich konnte mich das Buch doch noch fesseln. Mir war die Sprache allerdings teilweise etwas zu poetisch, zu bildhaft. Von mir gibt's daher gute 8 Punkte für die ziemlich berührende Geschichte.

    "Es gibt einen Fluch, der lautet: Mögest du in interessanten Zeiten leben!" [Echt zauberhaft - Terry Pratchett]

  • Sophie Mol ist tot, mit neun Jahren gestorben während ihres Besuchs Ende der 1960er Jahre in Ayemenem im indischen Bundesstaat Kerala. Ihr Tod hat irgendwie mit den Zwillingen Estha und Rahel zu tun, mit der Familie Ipe und mit dem Fluss. Die Zwillinge sind sieben, als ihre Cousine beerdigt wird und als ihre Kindheit endet. Sie werden getrennt, Estha wird an seinen Vater zurückgegeben, Rahel muss bei der Familie ihrer Mutter bleiben, wo sie Essen und Trinken erhält, aber keine Liebe.


    Dreiundzwanzig Jahre später kehren Estha und Rahel nach Ayemenem zurück ins alte Haus der Familie, zu den Erinnerungen, zu ihrer Schuld. Können siebenjährige Kinder schuld am Tod eines Mädchens sein? Und am Mord an einem erwachsenen Mann? Was ist damals geschehen? Und warum?


    Die Familie Ipe, ehemals Großgrundbesitzer, nun Betreiber der erfolglosen Paradise Pickles & Konserven-Fabrik, befindet sich im Niedergang, der durch die Umstände von Sophie Mols Tod endgültig besiegelt wird. Neben den Familienmitgliedern der Ipes spielt der Fluss eine wichtige Rolle in der Geschichte, vielleicht ist er sogar die Hauptfigur. Und auch die Geschichte fließt, mäandert in verschiedenen Zeitebenen, teilt sich, kommt wieder zusammen, nimmt Treibgut mit sich, lässt es am Ufer zurück und trägt es dann doch weiter fort, unaufhaltsam bis zum Meer, das - möglicherweise - die Antwort auf alle Fragen kennt.


    Ganz nebenbei, sozusagen im Vorbeifließen, werden wichtige Themen in Indien angesprochen, Politik, die Stellung der Frau in der Gesellschaft, das Kastenwesen, der Umgang mit natürlichen Ressourcen, Umweltverschmutzung.


    Die Geschichte ist außergewöhnlich erzählt, in weiten Teilen aus Rahels Blickwinkel, voller Phantasie und mit viel Sinn für Details, eben für die kleinen Dinge, manchmal auch die ganz kleinen. Das ist sicherlich nicht jedermanns Geschmack; mir gefällt es. Manche Details fügen sich erst rückblickend zu einem Großen und Ganzen zusammen, vieles entdeckt man vielleicht erst beim Wiederlesen, das sich bei diesem Buch ganz bestimmt lohnt, wenn man es mag.


    Hier gibt es eine Leseprobe und hier einen ausführlichen Artikel bei Wikipedia.

  • Über den Gott der kleinen Dinge spricht man nicht. Sein Werkzeug sind die kleinen Widersprüche, die größer werden und sich zu den großen Dramen des Seins entwickeln.


    Da ist der indische Kommunismus, der das Kastensystem nicht infrage stellt. Da ist der kommunistische Bürokrat, der den ortsansässigen Fabrikanten, auch Parteimitglied, aus weltanschaulichen Gründen zugrunde richtet. Dabei opfert er einen Parteigenossen, und, weil er auch Lieferant seines Opfers ist, sägt er sich den Ast ab, auf dem er sitzt. Da ist der Unberührbare, der seinen Tod in Kauf nimmt, als Preis für ein Techtelmechtel mit einer Berührbaren. Oder die Tante des Hauses, die hinter den Rücken der Familienmitglieder ihre klebrigen Fäden spinnt und Gutes bewirken will, aber die Sippe ins Verderben stürzt.


    Die Charaktere sind so wahnsinnig gut getroffen, dass es beim Lesen fast schon unheimlich wird. Und die bildreiche Sprache ist fast schon göttlich. Wer den Magischen Realismus mag, das Buch noch nicht kennt, der ist hier gut aufgehoben. Sofort lesen - 10 Punkte!

  • Ich habe heute dieses Buch im Original zu Ende gelesen und alles in allem kann ich sagen, dass es mir gut gefallen hat und dass ich es als lesenswert einstufe. Berührende Einsicht in die Gedanken und Gefühle der Kinder, subtile Gesellschaftskritik, eine dramatische Liebesgeschichte, die weitreichende Konsequenzen hat. Von mir 7/10 Punkte. 3 Punkte Abzug, weil ich die metapherreiche, poetische Sprache streckenweise als aufgeblasen und aufgesetzt erlebt habe, einige der vielen Metaphern haette man sich meiner Meinung nach sparen können. Ich fand den staendigen Zeit- und Perspektivenwechsel etwas mühsam, ich finde, die Autorin hat ihn nicht sehr geschickt eingesetzt. Und eine etwas seltsame Sache: obwohl ich das Buch in relativ kurzer Zeit sehr intensiv gelesen habe, ist bei mir jetzt schon sehr wenig haengengeblieben, trotz der großen Tagik hat mich die Geschichte nicht so sehr berührt (was bei mir eher ungewöhnlich ist). Ob es an der pompösen Sprache liegt?

  • Ich habe diesen Roman gerade beendet. Ist mir nicht leicht gefallen. Ich wollte ihn schon nach 100 Seiten aufgeben, habe mir Mut zum Weiterlesen geholt (auch aus diesem Thread) und bin nach 200 Seiten zu den letzten Kapiteln gesprungen, um endlich zu erfahren, worauf die vielen Anspielungen hinweisen. Dann habe ich doch noch den übrigen Roman geschafft.

    Wie hier auch erwähnt, fand ich einige der vielen Metaphern schwierig nachzuvollziehen. Manche blieben mir völlig unverständlich. Auch tauchen viele indische Begriffe auf, die ich selbst mit Google oder Wikipedia nicht erklärt bekommen habe. So etwas ärgert mich immer. Wenn eine Autorin schon mit solchen Wörtern arbeitet, sollte sie diese für ihre Leser*innen schon erklären.


    Am Ende habe ich mich gefragt, was eigentlich das Hauptthema ist. Die verbotene Liebe (wie es auf dem Buchrücken angepriesen wird) kommt eigentlich kaum vor. Am meisten wird die Zerstörung der Kinderseelen behandelt. Von daher finde ich das Ganze eher grausam und frustrierend als schön und spannend.

    - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend U. T. Bareiss: Green Lies - Tödliche Ernte

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Tante Li ()