OT: Såpa - 2001
Mats Wahl (Jg. 1945) schreibt seit Anfang der 1980er Romane für Erwachsene, seit 1988 auch für Jugendliche. Er hat selbst als Lehrer und Erzieher gearbeitet, meist mit sogenannten Problemkindern und Schwererziehbaren.
Mit seinen Jugendbüchern hat er einen ganz eigenen Stil entwickelt, sprachlich, in der Darstellung der Personen, im Ablauf der Handlung. Es gibt Muster. Im Mittelpunkt steht häufig ein Junge im frühen Teenageralter, der starke Probleme mit dem Vater hat, hinzukommen die Verwirrungen der ersten Liebe zu einem etwa gleichaltrigen Mädchen. Es geht um Vertrauen und Verrat, Freundschaft und Haß, die Frage von Gewalt. Es gibt eine ordentliche Portion Sozialkritik, die sich gleichmäßig in jede politische Richtung verteilt.
Wahl ist offen bis zur Brutalität. Seine Sprache ist ungeschminkt. Er überschreitet viele Grenzen, die fürs Jugendbuch gelten, einschließlich der meisten Schamgrenzen. Seine Bücher verstören. Sie sind zugleich spannend, komplex, bieten einen ganz anderen Blick aufs Leben, gleich, ob sich ihre Geschichte im Schweden von heute oder im Schweden des 17. Jahrhunderts abspielt. Sie sind lebendig und wirken völlig lebensecht.
Mich erschrecken sie unweigerlich und tief. Widerstehen kann ich ihnen nie.
Mit dem 2001 erstmals im schwedischen Original erschienen Buch Såpa, der Geschichte von Hjalmar ‚Jalle’, Kai-Inge ‚Kino’ und Jytte scheint Wahl zahmer geworden. Im Vergleich etwa zur John-John-Trilogie geht es fast gemächlich zu. Zunächst.
Jalle und Kino sind eng befreundet. Ihre gemeinsame Liebe gilt dem Film, Kino trägt seinen Spitznamen ganz zurecht. Sein Ziel ist es, ein berühmter Regisseur zu werden. Er kennt die Namen von Schauspielerinnen und Schauspielern und überhaupt allen, die mit Film zu hatten, seit es den Film gibt, samt Filmtiteln und den wichtigsten Dialogen. Er kann Filme im Wortlaut zitieren, einschließlich der Regieanweisungen und der jeweiligen Kameraeinstellung für wichtige Szenen. Er besitzt eine kleine Kamera, entsprechende Software für den Computer und er dreht auch selber Filme. Kino ist besessen von Film.
Jalle ist nicht ganz so besessen, aber ihre Freundschaft hat sich eben auf der Basis dieser gemeinsamen Bewunderung entwickelt. Sie sprechen untereinander eine eigene Sprache, die aus dem Austausch von Schlüsselzitaten besteht, haben eine eigene Verhaltensweise entwickelt basierend auf der Rolle bestimmter Filmhelden. Sie drehen gemeinsam Kurzfilme. Film und Leben können da ein wenig durcheinander geraten, vor allem, wenn man erst fünfzehn ist.
Jytte ist die Neue in der Klasse von Kino und Jalle. Jalle verliebt sich in sie. Kino auch. Klar daß man mit Jytte einen Film drehen muß. Jytte ihrerseits ist nicht so wild auf Filme. Das ist aber das geringste Problem. Jalles Vater nämlich ist sozialdemokratischer Gemeinderat, ein sehr angesehener Mann. Nun werden Vorwürfe gegen ihn laut wegen Veruntreuung von Steuergeldern. Die Journalistin, die das Ganze ausgegraben hat, ist ausgerechnet Jyttes Mutter.
Jalles Leben wird auf einmal so kompliziert, daß er nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Ist sein Vater ein Betrüger? Was verbirgt Kino eigentlich, wenn er lieber in Filmzitaten spricht als mit eigenen Worten? Wie kann man ein Mädchen lieben, dessen Mutter einen Menschen in der Öffentlichkeit anprangert und somit eine Familie zerstört? Wer ist schuld und woran? Was ist Lüge, was Wahrheit? Was ist Leben, was ist Seifenoper? Wie orientiert man sich?
Jalle auf dem Weg durch diesen Gefühls - Dschungel zu begleiten gehört zum Aufregendsten und Interessantesten, was ich in den letzten Monaten getan habe. Die Geschichte ist sehr sorgfältig aufgebaut, die Ereignisse steigern sich ganz allmählich, bis sie übel und sehr brutal werden. Sie ist von äußerster Konsequenz.
Die Sprache der Beteiligten ist alles andere als fein. Hier findet man die gleiche Konsequenz.
Wahl gelingt dabei das Kunststück, eine beim Lesen immer aus Jalles Augen sehen zu lassen. Man ist glücklich, wenn Jalle glücklich ist, verwirrt wie er, unsicher, verängstigt. Es gibt kaum Distanz, kaum Möglichkeit, sich an den Wegrand zu stellen und gute Ratschläge zu verteilen.
Weil gute Ratschläge nichts nützen. Die Wendungen, die das Leben nehmen kann, prasseln auf einen herein, wie Bilder und Töne von der Leinwand. Man ist ihnen ausgesetzt. das einzige, was einem bleibt, ist wild mit den Armen zu rudern und hoffen, daß man einen Fußbreit Boden unter den Füßen findet, von wo aus man wieder ein Stück weitersehen kann. Oft genug bleibt einem nur ein Stück Treibholz. Dabei kann das Wasser schon mächtig Wellen schlagen. Das macht Wahl sehr klar.
Das Ganz ist Kino. Wild, verrückt, kitschig, brutal, seligmachend. Grellbunt und laut und dann wieder so leise und zart, geradezu zum Weinen schön. Es ist urkomisch und traurig. Voller Überraschungen, gute wie böser. Die Lektüre ist atemberaubend.
Nicht selten, weil da ein Schlag kommt, der eine in die Magengegend trifft. Weh tut es auch noch.
Es macht auch Spaß, die Filmzitate zu entschlüsseln - nicht alle werden erklärt - und den Anspielungen nachzugehen. Beim ersten Lesen habe ich das aber nicht geschafft, dazu muß man das Buch ein zweites und wahrscheinlich ein drittes Mal in die Hand nehmen. Und sich wieder erschrecken lassen, von dem, was Wahl Jalle und Kino und Jytte durchmachen läßt.
Am Ende müssen sie alle neu anfangen. Neuer Film. Neues Leben.
Leseempfehlung, aber vor dem Abheben Anschnallen nicht vergessen.