Ist man Mitglied eines Bücherforums, bleibt es nicht aus, daß man auf einen Autor aufmerksam wird, der einem unter anderen Umständen nie aufgefallen wäre. So ging es mir mit Andreas Altmann. Er schreibt Bücher übers Reisen.
Reisen ist nicht mein Thema. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann. Unterwegs sein, du liebe Zeit! Ich fühle mich schon in Bedrängnis, wenn ich Milch holen muß, und dafür muß ich nur einmal schräg über die Straße marschieren.
Wenn jedoch eine vertrauenswürdige Eule - in diesem Fall Nudelsuppe - , einer ein Buch eines Reisereporters empfiehlt und es zu diesem Buch eine Leserunde mit Autorenbegleitung gibt, ja dann ...
Das war im Februar. Alles hat seine Geschichte.
Die Leserunde hat auch eine. Zeitweise ging es dort hoch her, ich geb’s zu. Nichts aber ist dem Interesse an Buch wie Verfasser dienlicher als eine sachliche Diskussion. (‚Hast Du geschrieben! Hab ich nicht! Hast Du doch! Nein. Doch! Nein ...’).
Und eine solche erfordert geradezu das, was in virtuellen Kreisen als F2F bekannt ist, ein Treffen unter vier Augen.
Im vorliegenden Fall waren es summa summarum vier Augenpaare, von denen zwei, nämlich die von Eule Heaven und magali, besonders neugierig dreinschauten. Nudelsuppe kannte den Autor ja schon und vice versa. Äußerst behilflich beim F2F war Lehmann’s Buchhandlung in Berlin, die die Voraussetzung dafür schuf, indem sie den Autor zur Vorstellung seines neuesten Buchs einlud.
Heaven und magali mußten sich dafür quer durch die Stadt begeben (ach, dieses Unterwegssein. Die Geschichten in der S-Bahn sind eine andere Geschichte). Sie wurden von Nudelsuppe am Bahnhof Zoo in Empfang genommen und gelangten zu dritt glücklich zum Ort des Geschehens. Vor lauter Aufregung viel zu früh. Daß es gleich neben der Buchhandlung ein Café gibt, erfreute vor allem eine der Eulen, doch wir nennen keine Namen. Weniger erfreulich war, daß man im Café nicht rauchen konnte, aber die Sache mit dem Rauchen ist eine andere Geschichte.
Die Buchhandlung empfing die Gäste, die im übrigen recht zahlreich erschienen, mit nachgiebigen Plastikklappstühlen in Quietschefarben. Ich wählte natürlich einen in knallila. Der Autor war auch schon da, aber mit dem Mikrofon beschäftigt. Wenn Männer sich der Technik widmen, weiß die kluge Frau, daß eine Störung zwecklos ist. So widmeten wir uns der zweiten Hauptsache: den Büchern, die so herumlagen. Ungeschickterweise befanden sich die Bücher des Autors nicht in unmittelbarer Nähe des Lesungsbereichs. Sie waren an der etwas entfernt liegenden Kasse aufgebaut. So mancher mußte danach fragen.
Wer als Publikum, wie z.B. ich, eher sportliche jüngere Männer erwartete, denen man auch ohne Backpack auf zwei Meilen ihr Backpack ansieht, wurde enttäuscht. Erstaunlich viele Gäste hatten die Fünfzig schon weit überschritten. Überwiegend vertreten war das weibliche Geschlecht. Das Rätsel klärte sich halbwegs erst nach der Lesung bei den Fragen. Nicht wenige waren gekommen, um an Länder erinnert zu werden, die sie vor längerer Zeit besucht und ins Herz geschlossen hatten. Einige von ihnen hatten dort auch Berufsjahre oder Ausbildungszeit verbracht. Nach Massentourist klang keiner. Aber die meisten redeten nicht.
Warum?
Weil der Autor da war. Und weil er las.
Er kam pünktlich um Viertel nach acht. Überraschend die Stimme, ein österreichisch-bayerischer Einschlag war nicht zu überhören. Die Begrüßung war kurz, der Abriß des Zeitplans auch. Lesung ca. 60 Minuten, dann Fragen.
„Und dann will ich mit meinen Freunden ins Wirtshaus. Und natürlich mit all denen, die sich anschließen wollen.“
Ich war begeistert. Ein Mann der klaren Aussagen. Das würde ein guter Abend werden.
‚Gut’ ist milde ausgedrückt. Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wußte, ist, daß die beiden einfache Sätze den Autor schon charakterisieren. Er will und er tut. Aber alle sind dazu eingeladen. Er ist großzügig in einer Art, die heutzutage fast altmodisch anmutet.
Die Lesung begann. Andreas Altmann las aus seinem neuesten Buch, Reise durch einen einsamen Kontinent - Unterwegs in Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien, Chile. Von Anfang an war man an der Seite des Reisenden. Und dort klebte man bis zum Schluß.
Was Altmann oft vorgeworfen wird, ist, daß er gar nicht über die Länder schreibt, die er bereist, sondern allein über sich. Nach dem zu urteilen, was ich gehört habe, ist das nur die Hälfte der Wahrheit. Was man nicht erfährt in seinen Berichten, sind die so beliebten ‚objektiven’ Daten und Fakten. Geologie, Klima, Geographie, sachgerechte historisch-politische Abrisse, nichts da. Dafür liest man doch nicht Andreas Altmann. Dafür schreibt er auch keine Bücher.
Was man zu lesen bekommt, sind Geschichten. Altman ist ein Geschichtenfinder. Er ist unterwegs, trifft Menschen, gezielt und zufällig, und bei diesen Menschen wird er fündig.
Stand, Geschlecht, Herkunft, ganz gleich. Es ist die Geschichte, die zählt.
Und Andreas Altmann erzählt sie.
Die Geschichten sind wunderbar. Sie sind nicht immer neu, sie sind nicht einzigartig. Ihre Besonderheit gewinnen sie durch die Art, wie sie erzählt werden. Der Autor verfügt über eine weitere, heute eher altmodische Eigenschaft. Er kann noch staunen.
Die Menschen nämlich sind zum Staunen, in ihrem besten und ihren bösesten Augenblicken, das teilt er uns mit und mit uns. Er teilt sein Wunder. Seinen Schatz.
Altman ist ein rechter Schatzgräber. Gold ist immer Gold und doch sieht es bei jedem Einfall des Lichts anders aus. Es kommt darauf an, wie man es hinhält.
Schuhputzer und Gefängnisinsassen, gescheiterte Existenzen, Mütter, die die Leichen getöteter Söhne suchen und dabei die Erinnerung an schreckliche Zeiten aufrechterhalten, politische Mythen wie Che Guevara, alte Frauen zwischen Lebensmut und einsamer Resignation, paragraphensüchtige Bankangestellte und geniale Verkäufer von wirkungslosen Pseudo-Medikamenten - sie alle sind geradezu prädestiniert, Altmann über den Weg zu laufen. Ein tauber Nachtwächter? Ein Fußballspiel zweier blinder Mannschaften? Eine mediensüchtige Hotelangestellte, die erst lernen muß, wozu man fähig ist, wenn weder Radio noch Fernseher laufen? Alles da. Und unversehens auch ein Bild der politisch-historischen Entwicklung der durchreisten Länder.
Das zeigt er den Leserinnen und Lesern. Daß man dabei seine Hände auch genau sieht, liegt in der Natur der Sache.
Dazu Trivia und umwerfende Pointen, altbekannte Einsichten und zwei Worte später nur eine Formulierung, die ganze Welten aufreißen. Eine unwiderstehliche Mischung.
Eingebettet immer wieder etwas, das dem Autor ebenso am Herzen liegt, wie die Menschen und ihre Geschichte, über das er aber fast gar nicht spricht: seine Liebe zur Literatur. Goethe und Nietzsche, Benn und Vargas Llosa, Marquez, Tucholsky. Über allem Neruda.
Das ist das zweite Erlebnis dieser Reise, der zweite Schatz.
Kritik? Klar.
Die Anführungszeichen, die beim Vorlesen viel zu oft in die Luft gemalt werden. Da kann einer schreiben und traut der Macht des Wortes nicht.
Und die Dauer der Lesung. Da nahm die Großzügigkeit, die Fähigkeit des Teilens und des Mitteilens überhand. Nach gut achtzig Minuten machten sich auch die in orthopädischer Hinsicht suboptimalen Stühle deutlich bemerkbar.
Einen Vorteil hatte die Überlänge: es gab nur noch wenige Fragen.
Applaus gab es reichlich, signiert wurde auch, im Eiltempo, aber umwerfend charmant.
Und wir landeten im Wirtshaus. Autor und Eulen, ein Schriftsteller namens Nudelsuppe und eine ziemliche Anzahl von Vertreterinnen und Vertretern der Journalistenzunft. Wieder waren wir unterwegs in neue Welten. Ich war erst um eins zuhause. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das Buch über die Südamerika-Reise wird jedenfalls seinen Platz bei mir finden. Während mr. magali quer über die Straße marschiert, um Milch zu holen, werde ich mich nicht aus dem Lesesessel rühren.
magali