"Der Doktor braucht ein Heim" -Irene Dische

  • Kurzbeschreibung
    Die Wirrnisse des Lebens, das Theater mit den Frauen und die »Duplizität der Vergreisnisse«: Vater packt aus
    Berühmt wurde der Doktor durch Irene Disches Bestseller Großmama packt aus. Seinen ersten Auftritt hatte er 1990 in dieser brillanten Erzählung, in der ihn seine Tochter in ein Altenheim bringt. »Irene Dische genügen 50 Seiten für einen Lebenslauf, der ein Jahrhundert umfasst. Mit weniger käme nur Kafka aus.« Neue Zürcher Zeitung


    Der Doktor verstand es immer, sich und den Seinen ein Heim zu verschaffen, trotz aller Zumutungen durch die »Banditen« eines bösartigen Jahrhunderts. Zunächst wohnte er an der Donau, dann am Hudson River. Nun soll er sein Heim verlassen, um es gegen ein anderes einzutauschen. Der jüdische Nobelpreisträger für Chemie erinnert sich: an die Frauen, von denen er viele hatte, Zescha zum Beispiel, die es schon lange nicht mehr gibt, was der Doktor gelegentlich vergisst; oder Gretel, seine geschiedene Frau, die von ihm nichts mehr wissen will. Und dann ist da noch die hübsche Tochter, die der Doktor, von der »Altersheimer-Krankheit« geplagt, ständig mit anderen Frauen verwechselt und die ihn in sein neues Heim bringen soll. Das Taxi wartet schon.




    Ein nur dünnes Büchlein, aber mit soooo viel Inhalt.
    Irene Dische erzählt in der Ich-Form die Gedanken ihres an Altersheimer, wie er selbst sagt, leidenden Vaters. Zunächst ist man etwas irrtiert, denn man bekommt nicht Gegenwart und Vergangenheit auseinander und fühlt sich fast schon selbst betroffen. Allein der Name Zescha ist allgegenwärtig. Zescha, seine Schwester, die mit ihm spricht und all seine Liebschaften missmutig beäugt, ihm ausredet und ihn doch immer wieder Zuspruch gibt, denn die Frauen hätten einen so tollen Mann wie ihn nicht verdient. Zescha, die längst tot ist.


    Dafür taucht ständig diese Frau auf. Mal glaubt er es sei die Nachbarin, mal eine Fremde. Nur in lichten Momenten begreift er kurz, dass dies seine Tochter ist. Die einzige Verbindung zu seiner Frau Gretel. Die ihn nicht mehr bei sich wohnen lassen will, nicht gern an den Hörer geht wenn er diese Nummer, die einzige die er weiß, anruft. Logisch, denn er hat längst vergessen, dass er sie vor vielen Jahren verlassen hat.
    Die Orte, wo er glaubt sich zu befinden, sind sein Labor, seine Wohnung, die der Ex-Frau. Und wenn er den Weg dorhin erklärt, hat man das Gefühl Wien und New York lägen nur drei Strassen auseinander.


    Liebevoll, mit Humor und doch erschreckend wird dieses Krankheitsbild in verwirrnden Gedanken aufgezeigt. Am Ende kann man sich in ihn hineinversetzen und würde doch gern noch viel mehr aus seinem Leben erfahren wollen. Trotz der Verwirrungen, die man immer wieder aufdröseln muss.


    Klein, aber fein. :-]

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    Grüßle, Heaven


    Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen. (Goethe) ;-)

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  • Heaven sei Dank hat das schmale Büchlein seinen Weg zu mir gefunden und wurde schwupsdiwups an einem Stück weggeschnupft.


    Ein dünnes Buch ist es nur, doch der Inhalt ist viel mehr als nur 50 Seiten lang.


    Viel hat er erlebt, der Vater der Autorin und viel unternimmt er auch jetzt noch. Doch man merkt schnell, daß eigene Wahrnehmung und Fremdwirkung ganz krass auseinanderklaffen und daß hier irgendetwas nicht stimmen kann.


    Schnell kommen wir drauf: Alt ist der Herr, der hier erzählt. Alt und dement. Altersheimer nennt er es und doch streitet er ab, es zu haben. Mit sich im reinen und doch eine große Belastung, vor allem aber auch ein Sicherheitsrisiko für seine Umgebung - ein echter Sorgenfall.


    Schlimm, aber leider durchaus sehr realistisch sind die Szenen mit Zesche, seiner Schwester - die aber leider schon viele Jahre tot ist. Tragisch auch, daß er seine Tochter, die für ihn sorgt und sich ernste Sorgen um ihn macht, mal für die Nachbarin und mal für eine Fremde hält - sein eigen Fleisch und Blut aber nicht in ihr wieder erkennt.


    Die einzige, für ihn zuverlässige Konstante, ist diese Nummer, die er immer anruft, wenn es ihm nicht gut geht. Oder auch, wenn es ihm gut geht. Immer eigentlich. Doch dort ist er nicht erwünscht: es ist der Anschluß seiner Exfrau, die er vor vielen Jahren verlassen hat, die aber dennoch aus Mitleid noch losen Kontakt zu ihm hält.


    Liebevoll und leicht schreibt die Autorin über einen Abschnitt im Leben ihres Vaters, den sich keiner für sich oder seine Lieben wünscht. Man bekommt ein bißchen Einblick in die Wirrnisse, die sich im Kopf des Kranken so oder so ähnlich abspielen können und bekommt auch die Auswirkungen auf die Umwelt mit.


    Ein leichtes Büchlein über ein schweres Thema. Es hat mir sehr gut gefallen.

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)

  • Ich durfte dieses feine kleine Buch jetzt auch lesen. Und ich revidiere gern mein Urteil über das Preis/Seiten-Verhältnis. Das Buch ist nur scheinbar 50 Seiten lang. In Wirklichkeit steckt in diesen 50 Seiten ein so gehaltvoller Text, dass man sich wundert, wie die Autorin ihn so komprimiert zwischen die Buchdeckel verpackt bekommen hat. Man liest das Buch sehr schnell, allerdings scheint es eine magische Wirkung zu entfalten. Wie bei einer zip-Datei entpackt sich der Text und macht sich im Kopf breit. Auch noch lange nach dem Lesen.


    Ich hatte das Gefühl, dass ich die Lebensgeschichte des Doktors viel umfangreicher kennengelernt habe. Seine Schwester begleitet ihn dabei durch sein ganzes Leben hindurch und scheint ein wenig auf ihn aufzupassen, auch wenn sie nicht körperlich anwesend ist. Das macht nichts, der Doktor ist es in seiner Erzählung ja eigentlich für seine Umwelt auch nicht. Man kann ihn am Ende des Buches nur schwer in sein Heim ziehen lassen.


    Mein Fazit: Ein feines Buch. Unbedingt lesen! Danke Heaven. :knuddel1

  • Es ist eine Erzählung und das steht auch vorne drauf. <räusper>
    :lache


    Es ist eine ganz besondere Erzählung, der Geschichte wegen - 1990 war Alters-Demenz noch nicht ein so großes Thema - und dann wegen der Art, wie sie erzählt wird. Alllein der Versuch, eine Innensicht eines Betroffenen einzufangen, wäre großartig, die Ausführung ist aber noch dazu sehr, sehr gut gelungen.
    Daß die Geschichte auf den wenigen Seiten noch dazu einen Abriß eines ganzen Menschenlebens plus eines Stücks Weltgeschichte gibt, macht das Ganze wirklich zu einem Leseerlebnis.


    Die Lektüre hat mich gebannt, weshalb ich das Büchlein jetzt ein zweites Mal lesen muß. Viele einzelne Beobachtungen, Einsichten und Beschreibungen entgingen mir, weil die Geschichte eine überraschende Spannung entwickelt, ich mußte unbedingt wissen, wie es weitergeht.


    Eine echte Entdeckung und, ehrlich gesagt, es gefiel mir noch besser als 'Großmutter packt aus'.
    Mit Kafka allerdings hat es nichts zu tun.


    Eine Anmerkung noch: bei mir heißt die Schwester ZeschA


    Danke, o, Himmlische, daß Du mich zum Lesen gezwungen hast.
    :grin


    :knuddel1



    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Fein, dass es dir gefallen hat. Ich habs geahnt. :grin
    Aufgezwungen? He, das Geld muss sich doch lohnen. :lache
    Und ich habe schon jemanden im Visier, der es als nächstes aufs Auge gedrückt bekommt, sobald du genug gelesen hast. ;-)


    Das mit der "ZeschA" hab ich geändert, danke. :wave

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    Grüßle, Heaven


    Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen. (Goethe) ;-)

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  • Selten habe ich ein Buch, kaum dass es in meinem Briefkasten gelandet ist, auch schon durchgelesen, ungeachtet Bergen von Abwasch und diversen anderen Baustellen.


    Mit diesem Buch ist's passiert, und unbefleckt von jeglichem literaturwissenschaftlichen Fachwissen hatte ich den Eindruck, dass es sich um ein Gedicht im Wortsinn handelt, um einen Text, der soweit komprimiert, verdichtet ist, dass er sich auf das Nötigste beschränkt.
    Und wenn einen "Altersheimer" plagt, kann das Wesentliche auch etwas ausschweifend klingen.


    Spannend, wie sich die Erinnerungen von Vergangenheit zur Gegenwart verwischen: die Kindheit ist noch präzise präsent, die Sache mit den Nobelleuten wird da schon durch den einen oder anderen Erinnerungsfehler verzerrt, und die Gegenwart ist einfach nur ein großes Rätsel, bevölkert von unbekannten Menschen, die unverständliche Dinge tun und erzählen.
    Der Leser folgt, wenn auch nicht chronologisch, genau dieser Krankheitsentwicklung: verwirrende Beobachtungen und klar erzählten Episoden aus dem Leben. Form folgt Funktion, genial!

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Diese Erzählung gibt es inzwischen in der neuen dtv-Reihe 'Books to go'. Nicht, daß ich mit dem Reihentitel einverstanden wäre, aber english sells, nicht wahr.


    Es sind kleine Büchlein im Reclam-Format, verschiedenfarbig, passen in jede Tasche, ja, auch an Mantel oder Jacke, wahrscheinlich sogar in die Hosentasche. Die Titel sind im Unterschied zu Kaffee oder Pizza nicht für den schnellen Verzehr gedacht, jedenfalls ncht von den AutorInnen aus. Hier ist es wohl der Preis, der's macht.


    Man kann sich aber von den kleinen Dingern anregen lassen, auch anderes von den AutorInnen zu lesen.
    Als kleines Geschenk sind sie ideal.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus