Erstdruck 1878, ca. 40 S.
Renate gehört nicht zu den Novellen, die einem sofort einfallen, wenn man den Namen Theodor Storm hört. Für mich gehört sie, auch wenn sie heutzutage alles andere als leicht zu lesen ist, zu seinen schönsten.
Unter Storms Novellen ist sie unter den historischen einzuordnen, die eigentliche Handlung spielt zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Die Orte, Dörfer rund um Husum, finden sich bis heute auf der Landkarte, nicht wenige Personen, die auftreten, haben wirklich gelebt, einige Elemente der Handlung gehen auf historische Ereignisse zurücke oder sind sogar in Storms Familiengeschichte zu finden. Alles ist verortet, alles ist ‚echt’.
In erster Linie aber ist es eine wunderbare und wunderbar erzählte Geschichte.
Der Aufbau ist ‚typisch Storm’, eine kurze Rahmenhandlung, die etwa in der Jetztzeit (vom Autor aus gesehen) spielt, setzt die Akzente und nennt die Themen der Erzählung, ehe man durch die angebliche Entdeckung einer Chronik über einhundertfünfzig Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt wird. Die Themen sind ebenso ‚typisch Storm’, aufgeklärtes Denken und Hexenglaube, Düsternis und Licht und vor allem die Macht der Liebe.
Die Rahmenhandlung erzählt von eine Hexe, die in alten Zeiten über die Heide geritten kam.
Die ‚Chronik’ enthält die Geschichte von Josias und Renate. Der Sohn eines lutherischen Pfarrers und die Tochter eines sehr reichen Bauern treffen sich schon als Kinder, doch nur einmal und unter recht dramatischen Bedingungen. Josias wird versehentlich abends in einer Kirche in Husum eingeschlossen. Mit einbrechender Dunkelheit verwandelt sich die Stätte der Glaubensgewißheit rasch in eine Hölle voller gespenstischer Gefahren, Durch einen Zufall, ein regelrechtes Wunder, befreit ihn Renate.
Die beiden verlieren sich gleich wieder aus den Augen. Erst einige Jahre später, als Josias längst Theologiestudent ist, sehen sie sich auf dem Dorf wieder, der flotte Theologiestudent und die als hochmütig und ziemlich eigenartig geltende Renate. Auch ihr Vater hat einen seltsamen Ruf und auf seinem Hof wollen die Leute die merkwürdigsten Begebenheiten beobachtet haben.
Was Josias noch stärker verunsichert, ist die Tatsache, daß Renate und ihr Vater einem aufgeklärten Luthertum anhängen, das die Existenz von Geistern bestreitet, ganz im Gegensatz zu Josias’ Vater, dessen Freunden und Josias’ Professoren. Dennoch kann er sich gegen seine aufkeimende Liebe nicht wehren. Einen Sommer lang sind er und Renate glücklich.
Seine Zweifel aber machen es ihm leicht, seine Studien zu beenden und seinen Pfarrberuf anzutreten. Als er Renate wiedersieht, hat sich die Lage verändert. Ihr Vater ist unter nie geklärten Umständen verschwunden, das ganze Dorf ist sicher, daß das nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Renate gerät mehr und mehr unter den Verdacht, eine Hexe zu sein.
Josias’ Vater verlangt von ihm das Versprechen, sich nicht mit einer solchen Frau einzulassen. Josias, hin - und hergerissen zwischen Liebe, Glaubensüberzeugungen, Aberglaube, Pflichtgefühlen und echter Zuneigung zu seinen Eltern entscheidet sich gegen Renate. Bei einer letzten hochdramatischen Begegnung der beiden allerdings rettet er im letzten Moment der vermeintlichen Dorfhexe das Leben. Unfähig aber, den Konflikt, der in ihm tobt, auszuhalten, verläßt er umgehend das Dorf.
Die Geschichte nimmt dennoch ein gutes Ende, sozusagen. Viele Jahre später kehrt Josias, kränkelnd und deswegen im vorzeitigen Ruhestand, zurück. Und hier nimmt ein Gerücht von wahrhaft seltsamen Begebenheiten seinen Anfang. So soll immer sonntags und immer zur Zeit des Gottesdienstes, wenn alle in der Kirche versammelt waren, eine Frau auf einem fahlgrauen Pferd über die Heide geritten sein und Josias, der das Haus nicht verlassen konnte, besucht haben. Auch an seinem Todestag soll sie bei ihm gewesen sein. Wer sie war, wußte keiner, nur daß sie eine Hexe war, ist ganz sicher!
Leicht zu lesen ist die Novelle nicht. Das liegt weniger an der verschränkten Handlung als an der Sprache, die Storm wählt. Er paßt sie nämlich dem ziemlich Fremdwortlastigen Deutsch des beginnenden 18. Jahrhunderts an, schließlich ist sein Ich-Erzähler, unser Josias, ein wohlgelehrter Mann und nicht gerade einer, der sein Licht unter den Scheffel stellt. Mit diesem Kniff gelingt es Storm einerseits, die vermeintliche Authentizität der Chronik zu betonen, andererseits seine männliche Hauptfigur sehr eingehend zu charakterisieren. Es kommt also nicht nur darauf an, was Josias sagt, sondern auch darauf, wie er es uns berichtet.
Seine Überzeugungen, seine Vorurteile, seine Menschlichkeit und Warmherzigkeit, die er tatsächlich besitzt, denen er aber nicht ganz traut, werden so unmittelbar deutlich.
Auch Renate sehen wir nur aus seinen Augen. Sie bleibt ein wenig fremd und fern, eben weil Josias bei aller Liebe nicht recht versteht, wer dieses Mädchen eigentlich ist, wie sie denkt und warum sie tut, was sie tut. Als Leserinnen und Leser von heute verstehen wir Renate vor allem aus dem heraus, was Storm Josias nicht sagen läßt. Man muß also die Lücken studieren. Und dort finden wir eine sehr selbstbewußte, eigenständige und aufgeklärt denkende junge Frau. Renate ist tatsächlich der stärkere Charakter, schon in der ersten Szene aus der Kinderzeit wird das deutlich. Josias Kampf gegen ihren ‚falschen’ Glauben ist also zugleich ein Kampf gegen seine Leidenschaft und das Wissen, daß er sich eine Frau ausgesucht hat, die ihm in vieler Hinsicht - nicht nur in finanzieller - überlegen ist.
Hat man sich aber eingelesen, wird man mit einer äußerst spannenden Geschichte belohnt. Unheimliches gibt es genug, es gruselt einen durchaus. Die Stimmung ist oft düster, auch für Leserinnen und Leser von heute, die doch längst an weit Plakativeres gewöhnt sind, was Geister anbelangt. Rätsel werden keine gelöst, es bleibt denen zu überlassen, die die Geschichte lesen, sich zu überlegen, was denn nun Phantasie, Phantastereien, Dummheiten oder gleich böses Geschwätz sind. Engel und Teufel, Heilige und Gott, Fetische, Hexerei und Unglück liegen ja nahe beieinander. Wodurch genau Josias’ Umdenken ausgelöst wird, erfahren wir auch nicht. Es ist eben eine Geschichte voller Wunder.
Übertrieben wird nie, keiner wird wirklich angeklagt, keiner verdammt. Storm wirbt um Verständnis, für die Zeit, für die Abergläubischen wie für die Gläubigen. Hier herrscht ein kritischer Verstand. Das gilt auch für die Liebesgeschichte. Sie ist so richtig schön, aber nicht im mindesten sentimental.
Es lohnt sich auf jeden Fall, bei dem Erwerb einer Ausgabe von Storms Werken, darauf zu achten, ob die Geschichte von Renate (und Josias ) darin enthalten ist.