Der Untertitel des Buches lautet "Eine Reise durch die Chaos-Theorie". Und es ist eine Reise, eine beschwerliche noch dazu, denn die Autoren verlangen dem Leser recht viel ab. Anders als Alice (die uns während der Lektüre auch immer wieder als Illustration begegnet), die einfach nur dem Kaninchen hinter den Spiegel folgen muss, ist der Pfad von Briggs und Peat zumeist steinig und nicht sofort erschließbar. Bifurkationen, seltsame Attraktoren und Rückkopplungseffekte machen es alles andere als leicht "The turbulent mirror", so der Originaltitel, zu durchschreiten. Dabei geben sich die Autoren redlich Mühe und illustrieren viele Dinge anhand von Zeichnungen und Fotos, die sich sehr gut in den Text einfügen und dankenswerter Weise nicht in Bildteilen mittig des Buches zusammengesucht werden müssen.
Obwohl ich sehr lange für die rund 320 Seiten benötigt habe, viele Erklärungen zwei- gar dreimal lesen musste, kann ich nicht behaupten alles wirklich verstanden zu haben. Der berühmte Schmetterlingseffekt (Der Flügelschlag eines Schmetterlings am anderen Ende der Welt, kann hier einen Sturm auslösen) ist nach dem Buch aber um Einiges besser zu verstehen. Es wird deutlich, dass wir alle, jedes Molekül in und um unsere Existenz herum, sei es Baum, Pazifik, der Kugelsternhaufen M13, einfach alles, miteinander auf eine geradezu unheimliche, nicht wirklich greifbare Weise verknüpft zu sein scheinen - wie bei korrellierten Quantenteilchen, die selbst nach einer Trennung und großem räumlichen Abstand zu "fühlen" scheinen, welche Ausrichtung ihr Gegenstück gerade hat und sich unmittelbar dem neuen Zustand anpassen.
Der Reduktionismus, der durch die klassische Physik Newtons, aber auch durch die Quantenphysik im naturwissenschaftlichen Denken verankert wurde, wird durch die Chaosforschung letztendlich ausgehebelt. So, wie sich die bereits aus dem antiken Griechenland bekannten Atome, nicht als kleinster Baustein herausgestellt haben, zeigt auch die inzwischen längst etablierte Quantenphysik, dass auch bei Photonen noch lange nicht Schluß ist. Die Chaosforschung stellt dann auch schnell fest, dass die von der klassischen Physik verzweifelt gesuchte, alles erklärende Welt- oder Superformel niemals gefunden werden kann. Jedes Mal, wenn eine weitere Tür dazu aufgestoßen schien, stellte sich heraus, dass dahinter noch komplexere Strukturen zu finden waren, als zuvor. Statt Reduktionismus herrscht Komplexität. Und Komplexität scheint das Zauberwort des Chaos zu sein.
Briggs und Peat zeigen, dass wir ebenso von Ordnung wie Unordnung beherrscht werden müssen. Die Existenz, alles, das ganze Universum ist instabil, asymmetrisch. Symmetrie ist stets nur vordergründig. Unser Gehirn funktioniert nur, weil es in höchstem Maße chaotisch "organisiert" ist. Epilepsie entsteht, wenn dem Gehirn Rückkopplungseffekte abhanden kommen (fehlende Dopaminausschüttung), die für das Chaos unerlässlich sind. Ein Gehirn in einem geordneten Zustand ist nicht entscheidungsfähig.
Selbstorganisation scheint ein Schlüssel zum Verstehen zu sein. Hochgradig chaotische Strukturen haben das Bestreben sich selbst in eine funktionierende Ordnung zu bringen, um anschließend wieder in eine hochkomplexe, chaotische Unordnung zurückzufallen, bis eine erneute Ordnung vorteilhafter wird. Das funktioniert gemäß Systemanalytikern z. B. in wirtschaftlichen/betrieblichen Entscheidungsprozessen genauso, wie im täglichen Feierabendstau auf der Autobahn, bei denen selbst der Mensch als Teil der Chaosstruktur unbewusst als Teil der Komplexität fungiert und sich aufgrund einer unendlichen Vielzahl von Faktoren organisiert. Der Mensch als kleiner Teil des Ganzen, der unbewusst, ohne willentliches Zutun, versucht sich einer Struktur - auch wenn sie nicht offensichtlich ist - anzugleichen, was bei Frauen, die auf engem Raum miteinander agieren müssen (Frauengefängnisse, Fabriken, Büros, etc.), beispielsweise dazu führt, dass sich die Menstruation in den meisten Fällen auf den gleichen Zeitraum einpendelt.
Das Buch ist wahrlich keine leichte Kost, aber es bietet einen guten Querschnitt durch diesen noch recht jungen Zweig der Wissenschaft. Gerade im letzten Drittel werden viele Zusammenhänge doch deutlicher, als man nach der Lektüre der ersten zwei Drittel zu hoffen wagt. Viele Illustrationen tragen zum besseren Verständnis erheblich bei, auch wenn Vieles trotzdem noch zu komplex ist, zumindest für mich. Ich kann es also nicht wirklich mit gutem Gewissen empfehlen, auch wenn viele Denkanstöße und Feststellungen der Chaosforschung schlichtweg faszinierend sind.
Gruss,
Doc