Marcel Magis - Eine kurze Geschichte über den Wind, 30.9.07 in Hannover

  • Lesung für Gehörlose und Hörende am 30.9.07 im Kommunalen Kino um 16:00 Uhr in Hannover.


    Hier nun ein Bericht zur Veranstaltung.


    Eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn treffen meine Freundin Tanja und ich im Künstlerhaus ein. Die vorbestellten Karten sind noch nicht zu bekommen. Zeit für einen Kaffee. In den kühl gestalteten Räumlichkeiten vor dem Kino kann man schön sitzen.
    Vor der Eingangstür entdecke ich, rauchenderweise, Marcel Magis. Herzliche Begrüßung :knuddel und die überflüssige Frage, ob er aufgeregt sei. Der Videojockey Tosh Leykum beantwortet dies mit schlotternder Gestik.


    Drinnen sitzt Stephie:freundschaft vom Literaturreport mit einer Freundin. Tanja und ich setzen uns dazu. Eine Runde Schokoriegel und wir sind ziemlich lustig. Endlich ist es soweit: Wir begeben uns ins Kino, nehmen unsere Plätze ein.
    Jemand im Pubikum dreht sich um. Es ist Marcel :wave, neben ihm Tosh Leykum nebst technischer Ausrüstung für die Videofilme.


    Vor ca. 40 ZuhörerInnen spricht Elke Oberheide vom Kulturbüro Hannover einführende Worte, die von der Gebärdenpoetin und Mitorganisatorin Wiebke Kögel in Gebärdensprache umgewandelt werden.


    "Du und ich, wir beide erzählen eine Geschichte vom Wind."
    Mit diesen Worten beginnt die Lesung, die Gehörlose und Hörende in einen gemeinsamen Erlebnisraum entführen soll. Du und ich, das sind Wiebke Kögel und der Schauspieler Gert Zietlow als Sprecher.


    Das Gedicht "Die Heimkehr" von Heinrich Heine bildet den ersten Part der Geschichte.
    Einfühlsam von Gert Zietlow gesprochen und eindrucksvoll von Wiebke Kögel übersetzt. Die Gebärdenpoetin, gekleidet in einen schwarzen, langen Mantel, die dunklen Haare streng nach hinten gekämmt, die Lippen dunkelrot geschminkt, erzählt mit bewegter Mimik, mit ihrem Körper und den Händen. Ihre Finger fliegen und flattern durch die Luft, sie streichen über und an ihrem Körper entlang. Faszinierender kann Erzähltes kaum sein. Wenn Gert Zietlow seinen Text zu Ende gesprochen hat und Wiebke Kögel noch umwandelt, ist es still im Saal.


    Von einer Meerjungfrau ist die Rede, die sich erwärmen will an einem Menschenbild, denn der Abend ist gar so kalt.
    Erzählt wird also - wie sollte es anders sein - eine Liebesgeschichte.
    Der erzählte Teil wird abgelöst von einer Videosequenz.
    Wieder Stille. Ich wage kaum zu atmen oder mich zu rühren, so still ist es.
    Bilder von Wasserfeen, Schlingpflanzen und aufsteigenden Wasserblasen werden gezeigt und wie beim Blick in ein Kaleidoskop entstehen immer wieder neue Bilder, neue Eindrücke.


    "Ich bin ein Rabe, der sich viele Gedanken macht." So beginnt der nächste Erzählteil.
    Er beobachtet, wie sich die Welt verändert, er beobachtet die Menschen, versucht, sie zu verstehen.
    Der Wind ist sein Verbündeter. Die Geschichten, die er erzählt, werden von Ort zu Ort getragen. Was der Wind alles kann, zeigt die Gebärdenpoetin: Er kann zärtlich sein, aber auch wütend und zerstörend.


    In der folgenden Videosequenz fliegt die Krähe über verwüstete Orte. Orte, die von einem Hurrikan, Blizzard oder Tornado zerstört wurden.
    Die Bilder, die Beklemmung in mir auslösen, unterstreichen die Stille. Auch die Krähe wirkt erschüttert, verständnislos.


    Im nächsten Erzählabschnitt fliegt die Krähe zum Strand, zu einem Strandhaus am Meer. Der Wind ist gut gelaunt. Die sanfte Szenerie am Strand beruhigt mich wieder.
    "Vater erzählte Geschichten", sagt die Krähe. Wenn du aus dem Boot in das Wasser fällst, wirst du eine Meerjungfrau und für immer allein bleiben, erinnert sie sich seiner Worte. Als der Vater von einer Fahrt auf das Meer nicht zurückkehrt, meint die Krähe, dass der Vater als Meerjunge nach Amerika gegangen ist.


    Die Darstellerin wird zuweilen von kühlem blauen Licht umgeben, dann wieder von warmen Rottönen. Verantwortlich für die Lichtverhältnisse ist der Lichttechniker :licht Jens Rathgeber, der die Krähe, Wiebke Kögel, als Schattenkrähe auf die Leinwand zaubert. Mal sieht man sie als einzelnen Schatten, dann wiederum erscheint sie gleich mehrfach, was beeindruckend ist, wenn sie ihre Flügel schwingt.


    Abermals erscheinen Wasserfeen, Seepferdchen, delfinartige Lebewesen auf der Leinwand. Die Krähe blickt hin und her.


    Im letzten Teil erzählt der Rabe seine eigene Geschichte:
    Er ist ein Reisender, der versucht, die Welt zu verstehen. Als er jung ist, fliegt er nach Amerika in die Wüste und gerät in einen Tornado: als würde die ganze Welt in Stücke gerissen.
    Der Rabe fliegt weiter nach Japan und landet vor einer Bar.
    Dort sitzt eine Frau mit Sonnenbrille ("Mitsu" lässt grüßen), und die Krähe setzt sich auf den freien Barhocker neben sie. Das Ende der Geschichte will ich nicht verraten, vielleicht wird sie noch in der einen oder anderen Stadt aufgeführt. Doch so viel: es hat mit einem Lächeln zu tun.
    ... und zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht.


    Zum Ausklang zeigt ein Videofilm Ahornzweige vor einer gemauerten Wand. Der Wind wiegt die Zweige. Die Krähe ist zu sehen. Eingeblendet werden Zitate von Gehörlosen, die Christiane Neukirch, Pastorin der ev. luth. Gehörlosenkirche in Hannover gesammelt hat. Zum Abschluss erscheinen zwei ineinander "verschnäbelte" Krähen.


    Die Veranstaltung ist zu Ende. Verhaltener Applaus: Die Hörenden applaudieren mit Klatschen, die Gehörlosen strecken ihre Arme in die Höhe und drehen ihre Hände hin und her. Endlich kommt auch Marcel auf die Bühne, kurz nach ihm Tosh Leykum. Der Applaus schwillt wieder an. Als Marcel die Bühne verlässt, dreht auch er seine Hände als Dank hin und her.
    Erst allmählich stehen die Ersten auf. Meine Freundin Tanja und ich sitzen noch eine ganze Weile auf unseren Plätzen, lassen die Eindrücke nachwirken. Während die Videosequenzen nicht so Tanjas Sache waren, finde ich, dass sie den erzählten Text sinnvoll unterlegten. Allerdings war für mich die Stille ein wenig gewöhnungsbedürftig.


    Marcel kommt zu uns mit einem Hokaidokürbis in der Hand, den er geschenkt bekommen und der etwas mit dem Ende der Geschichte zu tun hat, und wir sprechen ein wenig über unsere Empfindungen. Nach und nach komme ich in die Wirklichkeit zurück, spätestens als Marcel uns fragt, ob wir noch mitkommen möchten, um etwas zu trinken, den Nachmittag ausklingen zu lassen. Stephie und ihre Freundin haben leider keine Zeit, sie müssen noch zu einem anderen Termin.


    In der Brasserie des Mövenpicks sitzen wir an einem runden Tisch mit Marcel und Ulrike und Dietrich Pinkhammer, zwei mit der Gebärdenpoetin befreundeten Musikern. Später trudeln noch Wiebke Köger, Barbara Macherius (Gruppe Poesie, Hannover) und Jens Rathgeber ein. Gespräche über die Veranstaltung, Kunst und Kultur. Marcel entspannt sich langsam, ab und zu geht er eine rauchen. Dass die Veranstaltung beim Publikum als ein faszinierendes Erlebnis:anbet angekommen ist, scheint auch ihm langsam zu dämmern.
    Auch draußen beginnt es zu dämmern. Zeit aufzubrechen. Die Eindrücke des Nachmittags nehme ich mit.