Anita Brookner schreibt die traurigsten Geschichten, die ich kenne. Nicht melancholisch, nicht selbstmitleidig und das Wort larmoyant wäre eine regelrechte Beleidigung dafür. Ihre Hauptfiguren trauern, immer und grundsätzlich. Sie trauern um ihr Leben, ihre Liebe, die sie verloren, ehe sie sie noch wirklich gefunden haben in einer Welt, die ihnen nur Künstlichkeit bietet. Die keinen Sinn hat für das, was diese Menschen für echt halten und wahr. Brookners Lebenssicht scheint altmodisch, konservativ im ursprünglichen Sinn des Wortes, bewahrend. Ihre Protagonisten, häufiger Frauen als Männer, wollen bewahren und scheitern zunächst damit. Sie sind anders, Exoten, sie leben neben der Gesellschaft, obwohl sie sich vermeintlich mitten in ihr befinden. Sie fühlen ihre Verpflichtungen und erfüllen die Pflichten punktgenau, sie sind moralisch und halten viel von Tugend. Sie sind ‚von gestern’, langsam, beobachtend. Oft halten sie sich für wenig klug. Schnellebiges macht sie vollends passiv. Sie haben keine Prioritäten, sie haben Prinzipien.
Wenn der Zeitpunkt kommt, daß Handeln zur Pflicht wird, handeln sie. Das Ergebnis ist schmerzlich und bringt neue Trauer. Echte Trauer aber beinhaltet immer auch Loslassen können und so siegen Brookners Personen letztlich im Rahmen ihres ureigenen Moralsystems. Sie bleiben sich treu. Das ist das Wichtigste.
Erzählt wird sehr langsam, behutsam. Alles ist beschaulich und unaufgeregt, die Farben grau-pastellig, der Ton undramatisch. Brookner hat einen ganz eigenen Stil entwickelt, ihre Prosa gilt längst als beispielhaft. Ihre Sätze sind leicht zu lesen, aber alles andere als leichtverständlich. Sie wirken glatt und vollkommen harmonisch, erst wenn man ihnen nachlauscht, hört man den Aufschrei darin und spürt die Widerhaken. Meist sind sie böse, hin und wieder tödlich. Keine andere Autorin enthüllt die Fallstricke eines Lebens so sanft und so unbarmherzig.
Brookner (geb. 1928) schreibt seit über 25 Jahren Romane. Sie begann damit am Ende ihres Berufslebens als Professorin für Kunstgeschichte, 1981. Für ihren vierten Roman, dem 1984 erschienen Hotel du Lac, erhielt sie den Booker Preis. Fast jedes Jahr erscheint ein Roman von ihr, aber sie ist immer eine ‚kleine’ Autorin geblieben. Zu still sind ihre Bücher, zu langsam, zu langweilig, heißt es, und zu düster. Zu altmodisch eben.
Das Hotel du Lac ist ein kleines, aber recht vornehmes Haus am Genfer See. Hierhin hat sich Edith Hope zurückgezogen, zurückziehen müssen, nachdem sie etwas getan hat, was eine Frau einfach nicht tut. Finden ihre Freunde und Bekannten. Was genau sie angerichtet hat, erschließt sich erst allmählich aus der mit ca. 180 Seiten eigentlich recht kurzen Geschichte. Zunächst muß man mit dem Rätsel leben.
Edith ist um die vierzig, ledig. Sie ist Autorin von Liebesromanen, bekannt und anerkannt, nach außen hin selbständig und gescheit. Sie selbst fühlt sich unsicher, orientierungslos und einsam. Seit Jahren liebt sie einen verheirateten Mann, der sich - feige, wie Edith erkennen muß - von ihr lieben läßt. Nur ihm schreibt sie Briefe aus dem verordneten Exil. Witzig, ironisch, distanziert, eben so, wie sie in ihren Augen gar nicht ist.
Auf die gleiche Weise beobachtet sie die wenigen Gäste, die das Hotel noch hat, denn wir befinden uns am Ende der Saison. Der Herbst geht in den Spätherbst über, es wird Winter werden und das Hotel bis zum Frühjahr geschlossen. Eine Art Endzeit ist angebrochen.
Außer Edith befinden sich drei weitere weibliche Gäste im Hotel. Zwei Witwen, die eine arm, die andere reich und mit Tochter, dazu eine unfreiwillig getrenntlebende Ehefrau. Ihre Auftritte und Verhaltensweisen sind grotesk, ihre Versuche, Bedeutung zu erlangen und vor allem zu behalten in einer Gesellschaft, die sozialen und ökonomischen Status betont, den emotionalen aber nicht für ausschlaggebend hält, voll tragischer Momente. Im Lauf der Wochen verliert Edith mehr und mehr ihre Distanz zu den Frauen und muß zu ihrem eigene Entsetzen erkennen, wie sehr sie ihnen ähnelt.
Rettung naht in Gestalt eines wohlhabenden, welterfahrenen Mannes. Er macht ausgerechnet Edith einen Heiratsantrag. Wie verlockend, den Rest ihres Lebens in sozialer und ökonomischer Sicherheit zuzubringen. Aber was wird dann aus ihren Vorstellungen von Liebe? Aus ihren Prinzipien? Wie steht es mit ihrer Treue zu sich selbst?
Ediths Entscheidung ist stimmig, typisch Brookner, würde man inzwischen sagen. Sie wird ihr vielleicht sogar ein wenig zu einfach gemacht, die Lage ist zu deutlich.
Das tut der Geschichte aber keinen Abbruch, weil die dargestellten Verhaltensweisen überzeugen.
Es geschieht nicht viel in dieser Geschichte, von außen betrachtet. Wichtig sind die inneren Entwicklungen. Große Gefühle werden nicht gezeigt. Alles spielt sich im sanften Licht des Spätherbstes ab, im leichten grauen Dunst, wie er am frühen Morgen über dem bleigrauen See liegt. Es ist kühl und so fröstelt man auch hin und wieder beim Lesen. Wetterlage und Stimmungslage gehen ganz unaufdringlich ineinander über. Kurze Momente der Wärme gibt es immer dann, wenn für eine kurze Stunde die Herbstsonne aufleuchtet, nur um bald umso sicherer hinter den Bergen zu verschwinden. Der Mensch bleibt zurück, einsam, für eine lange Nacht. Aber die Sonne wird wieder aufgehen, darauf kann man zumindest hoffen.
Und Edith wird nach London zurückkehren. Die in ihrer Schlichtheit großartig formulierten Schlußsätze setzen ein Ende und weisen zugleich vorwärts. Vielleicht. Aber immerhin trägt Edith den Nachnamen Hope.
Verlinkt habe ich eine der zur Zeit erhältlichen Originalausgaben. Meine eigene hat ihre zwanzig Jahre auf dem Buckel. Auf deutsch - unter dem gleichen Titel erschienen - ist dieses wunderbare, aber nicht leicht verständliche Buch leider nur noch antiquarisch zu bekommen.