Seit heute ist alles anders. Ich bin anders. Seit genau 10.45 Uhr. Seit der dritten Stunde. Seitdem bin ich größer. Ich gehe gerader. Ich gucke anders. Ich sehe alles genauer, schärfer. Dass das gar keinem auffällt!
Natürlich bin ich nicht wirklich größer. Ich bin nur nüchterner. Ernüchtert. Älter. Ich bin erwachsen. Letzten Mittwoch, vor einer Woche war ich noch nicht so. Bis heute Morgen war ich noch nicht so. Eine Ewigkeit ist das her.
Ich wollte nur kurz nach Hause, um meinen vergessenen Turnbeutel zu holen. Gerast bin ich, schließlich wollte ich ja nicht zu spät kommen. Ich schloß die Tür auf und in meiner Eile habe ich dich gar nicht bemerkt. Alles wie immer eben. Doch als ich rausging, mit den Turnschuhen in der Hand, habe ich dich da liegen sehen. Schon von weitem sahst du gar nicht gut aus und ich habe sofort gespürt, dass etwas nicht stimmt. Starr stand ich neben meinem Bett, konnte mich nicht bewegen. Doch der lähmende Schmerz war nicht von Dauer. Ich nahm deinen Körper in meine Arme. Tot. Du hast mir so viel bedeutet. Du konntest doch immer so gut zuhören.
Meine Eltern mochten dich nicht, sie meinten, wir beide würden nicht zusammen passen. Sie haben dich sogar rausgeworfen, als sie dich das erste Mal gesehen haben und ich mußte dich oft verstecken. Doch du bist bei mir geblieben und hast mir Halt gegeben. Trotz allen Zweifeln und Problemen. Wir hatten eine schöne Zeit zusammen. Eine lange Zeit, in der wir viel erlebt haben.
Letzten Mittwoch noch lag ich mit dir unten auf der Wiese. Wir haben Petersilie gegessen, die mochtest du doch immer so. Eigentlich hätte ich doch sehen müssen, dass es dir nicht gut geht. Stundenlang haben wir uns oft angesehen, stumm, ohne ein Wort zu sprechen. Und doch haben wir uns verstanden und wußten, was der andere denkt. Doch um 10.45 Uhr wußte ich nichts mehr. Ich habe dich angesehen und jegliches Zeichen von Lebendigkeit schwand aus deinen Augen. Auf das Bett habe ich dich gelegt, das war dein Lieblingsplatz. Machtlos kam ich mir vor. Ich wollte dir doch helfen! Aber es gab keine Möglichkeit mehr für mich. Also verließ ich den Ort, der so dramatisch für dich endete.
Noch nicht mal geweint habe ich, nicht eine einzige Träne. Ich bin stark, nüchtern eben. Ich fuhr zurück zur Schule. Langsam, trotz der Gefahr, zu spät zu kommen. 2 Stunden Englisch und eine Physik. Die Zeit schien still zu stehen. Es war nicht so, als hätte ich mich nicht konzentrieren können. Mein Kopf war einfach nur leer, Stillstand. Gehört habe ich in den ganzen drei Stunden nicht ein einziges Wort und ich weiß auch nicht mehr, was es für ein Objekt war, das ich kühl anstarrte.
Ich kannte dich schon seit der Grundschule und bin mit dir groß geworden, wir sind beide gewachsen. Als ich nach Hause kam, warst du weg. Verschwunden. Meine Eltern haben dich gefunden und „weggeschafft“. „Weggeschafft“, was das schon für ein Wort ist. Als wärst du ein alter Fernseher, der nicht mehr funktioniert. Kaputte Uhren schafft man weg, Sessel, Kissen, Schallplatten. Aber dich doch nicht. Mich wundert es, dass sie überhaupt mitbekommen haben, dass etwas nicht stimmt, denn besonders aufmerksam sind sie normalerweise nicht. Sie schienen sogar ein wenig froh über deinen Tod zu sein und meinten, jetzt könne ich mich wieder genügend auf die Schule konzentrieren, da ich jetzt ja keine Gelegenheit mehr habe, mich ständig mit dir zu beschäftigen. Das ist hart, aber ich werde mich der Trauer nicht hingeben, ich bin jetzt erwachsen. Seelenlos.
Sogar gelacht haben sie. Vati sagte, er habe dich schnell im Garten vergraben. Das finde ich ganz schön unerhört von ihm, schließlich wollte ich mich doch noch von dir verabschieden. Deshalb sitze ich jetzt auch hier und buddle ein Loch in die Erde. Ich muß dich noch mal sehen! Schon nach geringer Tiefe stoße ich auf deinen Körper, steif und fest ist er. Ich drücke dich an mich und genieße die Berührung. Einen letzten Kuss gebe ich dir. Zum Abschied. Du gleitest aus meinen Armen und fällst in den Graben zurück. Nichts ist mehr wie zuvor. Niemand kann dich ersetzen. Ich liebe dich. Und es gibt auf der ganzen Welt keine andere Schildkröte, die so putzig aussieht wie du.