Schreibwettbewerb Oktober 2007 - Thema: "Fremde Sprache"

  • Thema Oktober 2007:


    "Fremde Sprache"


    Vom 01. bis 20. Oktober 2007 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Oktober 2007 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!


    Nur für registrierte Mitglieder mit mindestens 50 Beiträgen!


    Eine Bitte: Schickt uns Eure Beiträge als .doc oder .rtf und sendet sie uns als Anhang in einer Mail. Damit kommen dann auch Zeilenumbrüche, etc. richtig bei uns an. In Word könnt ihr dann auch die Rechtschreibhilfe nutzen und unter „Extras“ habt ihr die Möglichkeit „Wörter zählen“.


    Wir wünschen Euch viel Spaß und viel Erfolg!

  • von Bartlebooth



    «Das verstehe ich nicht,» sagt Tante Doris und wendet mir den Blick zu. «Wenn er eine Landkarte malen will, warum tut er es nicht?»
    «Naja,» sage ich, «will er ja nicht. Das Ganze ist eine imaginäre Landkarte, eine Metapher. Du musst das mehr im Kontext der Zeit betrachten.»
    «Wieso?» Ihr Blick könnte ausdrucksloser nicht sein, erinnert mich ein bisschen an ihre Schwester und meine Jugend. «Sah Europa 1933 anders aus?»
    Mit äußerster Mühe gelingt es mir, nicht die Fassung zu verlieren. «Nein, Tante Doris, ich sage doch: imaginär. Das hat zu tun mit technologischen Entwicklungen der Zeit - natürlich auch mit politischen, die Geographie Europas war ja tatsächlich bedroht...»
    «Aber doch noch nicht 1933, mein Kind.» Der Tonfall ärgert mich ebenso wie das milde Lächeln, das ich in ihm höre. Ich schaue hoch. Es ist wirklich da. Ich habe inzwischen ein abgeschlossenes Studium der Kunstgeschichte, doch sie behandelt mich immer noch so, als wäre ich acht und altklug. «Und wieso überhaupt ‚nach dem Regen’? Wenn das hier das Schwarze Meer ist,» Tante Doris fuchtelt über dem Bild herum, ich schaue kaum hin, «warum ist dann das Mittelmeer so weit rechts?» Sie fuchtelt weiter rechts, doch schon ohne Enthusiasmus. «Das ist mir alles zu hoch, lass uns Kuchen essen gehen, dafür sind sie hier doch berühmt!»
    «Für die Kunst auch,» murmle ich vor mich hin, folge ihr aber in Richtung Café.


    «Der ist ganz ausgezeichnet, probier mal.» Tante Doris hält mir ihren Löffel hin. Die Hälfte ihres Kuchenstücks ist schon verschwunden. «Der Boden nicht durchgeweicht, die Marmelade nicht zu süß, die Cremeschicht ganz locker und die Glasur nicht zu fettig. Na, probier doch.» Der Löffel nähert sich in dem Maße, in dem ich zurückweiche.
    «Ich gehe noch mal rein,» sage ich laut und schiebe meinen Stuhl etwas zu brüsk zurück.
    Tante Doris runzelt die Stirn, ich beschleunige den Schritt.


    ‚Das darf man keinem erzählen,’ denke ich bei mir, ‚diese Frau interessiert sich nur fürs Fressen und sonst für nichts.’ Und als ich hochschaue denke ich: ‚Cocktailkirschen. - Artischocken. - Heuschrecken?’ Ich schaue nach unten: Au premier mot limpide. Beim ersten klaren Wort. – ‚Vielleicht könnte sie damit etwas anfangen,’ denke ich hämisch und schaue wieder hoch. Ich lasse mich auf die nahe Bank fallen. Unbequem wie alle Museumsbänke. ‚Zum Glück bin ich raus aus diesem Kleinstadtmief. Was interessiert mich ein durchgeweichter Tortenboden?’ Da sitze ich. Mein Kopf könnte leerer nicht sein. Liegt wohl in der Familie.

  • von Pia



    Es war der Abend unseres Abiballs. Wir waren beide furchtbar betrunken und sinnierten melancholisch über das, was vor uns lag. Über unsere Zukunft. Matti, mein bester Freund seit Kindertagen, würde zur Bundeswehr gehen. Nach Bayern, wie er mir verriet, was nicht gerade um die Ecke lag, wenn man bedachte, dass wir in einer kleinen Stadt bei Hamburg aufgewachsen waren. Ich hingegen hatte beschlossen nach Heidelberg zu gehen, um dort Medizin zu studieren.


    Bis zu diesem Abend war zwischen Matti und mir nie etwas passiert. Wir waren stets die besten Freunde gewesen. Ein Herz und eine Seele. Wir verstanden uns blind, ohne Worte, und waren meist derselben Meinung. Nun saßen wir beide also hinter dem Rathaus von Himmelpforten, in welchem unser Abiball in vollem Gang war, und mussten erkennen, dass unsere gemeinsame Zeit hier und heute Abend enden würde.


    Ich weiß nicht, ob es der Alkohol war oder doch vielleicht eine Sehnsucht, die bereits lange in uns schlummerte, als Matti sich zu mir beugte und mich küsste. Mir wurde schwindelig vor Glück. Der Sex, der diesem Kuss keine Stunde später in meinem alten Jugendzimmer folgte, war der beste, den ich bis dahin erlebt hatte. Doch schon am nächsten Tag verschwand Matti mit Sack und Pack aus meinem Leben und fuhr Richtung Bayern. Es gab keinen Grund dafür, den Kontakt von heute auf morgen abzubrechen. Dennoch taten wir es. Zehn Jahre ist das her.


    Vor vier Wochen traf ich Matti zufällig wieder. Er stand auf dem Wochenmarkt in Berlin-Mitte, wo ich heute lebe, plötzlich neben mir, hielt eine Aubergine hoch und fragte mich grinsend, ob die wohl schon reif sei. Nach einem kurzen Schockmoment fiel ich ihm schließlich kreischend um den Hals und von dieser Sekunde an konnte uns nichts mehr trennen. Seit diesem Moment sind wir Tag und Nacht zusammen. Wir reden und lachen. Wir küssen und wir lieben uns. Es schien alles so perfekt.


    Doch heute Nacht ist plötzlich alles anders. Als ich aufwache, liegt Matti nicht neben mir. Er antwortet nicht auf mein Rufen bis ich schließlich die Badezimmertür aufstoße und fürchterlich erschrecke. Er sitzt auf dem Boden, die Hände vor das Gesicht geschlagen und weint leise. Ich setze mich neben ihn, frage, was passiert sei.


    „Weiß Du, Mia. Noch vor vier Woche wollte ich mir das Leben nehmen. Ich war so unglücklich mit dem, was sich mein Leben nennt. Ich hatte das Gefühl, dass alle Menschen um mich herum eine fremde Sprache sprechen. Als wäre ich in einem Land gefangen, in dem mich keiner versteht und in dem ich keinen verstehe. Und es ist unmöglich diese Sprache zu lernen.“ Ich streiche ihm sanft über die Schulter. „Und jetzt?“, frage ich zaghaft, weil ich die Antwort scheue.
    „Jetzt bist Du da. Ich glaube, nein, ich weiß, dass Du der einzige Mensch bist, der mich je verstanden hat. Der einzige Mensch, der meine Sprache spricht.“ Ich schlucke hart. „Verlass mich nicht.“, flüstert er heiser.


    „Niemals“, antworte ich und meine das auch so.
    Dann lächelt Matti.

  • von Voltaire



    Zwei Stunden Schlaf sind ganz einfach zu wenig. Entsprechend fiel an diesem Morgen auch mein Gähnen aus. Die Kieferscharniere knirschten bedrohlich, so als würde ein weiterer Intensivgähnanfall sie vollends aus ihrer Halterung reißen.


    Zu allem Überfluss musste ich mir an diesem Morgen den Kaffee eigenhändig aufbrühen und auch das Frühstücksei kochte nicht von allein. Hatte mich doch vor einer Woche meine Dauerfreundin, und meine ganze spezielle Eierköchin, verlassen, mit der Begründung, jede Dauer würde halt irgendwann einfach mal enden.


    Ich hob das Messer, um wie üblich, dem Ei den Kopf abzuschlagen.


    „Halt!“


    Ich erstarrte. Mein Messer machte in der Luft eine Vollbremsung. Was war denn das? Wer hatte da „Halt“ gerufen? Konnte es sein, dass drei Flaschen „Vine Da Drin“ ganz einfach des Guten zuviel waren? Wirkten die weinseligen Promille noch nach?


    „Ich bin ein Standard-Vier-Minuten-Ei!“


    Unsinn! Ein Ei, dazu noch ein ganz normales Frühstücksei, konnte nicht reden. Es konnte vielleicht zu hart werden, aber reden? Nein! Vollkommen ausgeschlossen.


    Aber konnte man das Ei jetzt noch köpfen? War das „Halt“ eine Botschaft aus meinem Unterbewusstsein? Wollte es mir sagen, ich solle mit irgendwas, was es auch immer sei, innehalten?


    „Als ein Standard-Vier-Minuten Ei habe ich einen Anspruch darauf gepellt zu werden. Und dieses Recht fordere ich jetzt ein.“


    Ich starrte auf das Ei – aber selbiges starrte nicht zurück. Selbiges räkelte sich nicht einmal in seinem hühnchenverzierten Eierbecher, selbiges war einfach nur da.


    Vorsichtig nahm ich das Ei aus dem hühnchenverzierten Eierbecher und klopfte noch vorsichtiger, eben um die Schale zu lockern, mit der Eierspitze auf den Tisch. Die Schale sprang auf und mit aller mir zur Verfügung stehenden Vorsicht begann ich das Ei zu pellen.


    Und was soll ich sagen? Aus dem Ei, ja wirklich, aus diesem vermaledeiten Ei drang etwas das einem wollüstigen Stöhnen sehr nahe kam. Ein Ei-Orgasmus, oder sagt man Eigasmus, kündigte sich an. Ich pellte das Ei nicht, ich zog es aus. Ich entblätterte es.


    Hatte ich vielleicht etwas falsch verstanden? Gab es eine eigene Eiersprache? Doch die vom Ei benutzten Wörter waren mir vertraut, ich konnte sie verstehen. Das Ei sprach deutsch! Okay, vielleicht etwas süddeutsch eingefärbt, aber eben deutsch. Ich googelte, fand aber nur diesen Satz im Internet:


    „Erich verfiel in die »Eiersprache«, eine Form der Kommunikation, die wir uns im engsten Freundeskreis irgendwie angewöhnt hatten.“


    Langsam stach ich meinen Eierlöffel in das unberührte Weiß dieses geheimnisvollen Wesens, von manchen auch Ei genannt; etwas Gelbes spritze mir entgegen. Der ultimative Eigasmus!
    Eigentlich wäre das jetzt der Moment gewesen – aufzuwachen. Nur wie sollte man aufwachen wenn man bereits wach ist?


    Ach ja, eine Pointe hat diese Geschichte nicht. Das reale Leben hält eben nur sehr selten die passende Pointe bereit.

  • von Tinchen



    Angelique ging gestresst nach ihrem Flug aus Kenia auf ein Schild der U-Bahn-Haltestelle zu. Niemand schenkte ihr Beachtung. Trotzdem bemerkte sie Blicke von Menschen, die sie dabei beobachteten, wie sie versuchte ihren Koffer und ihre 2 Taschen von der Stelle zu bewegen. Wieso half ihr bloß niemand? Aber Angelique hätte ohnehin kein Wort verstanden. Sie war in einem fremden Land und konnte kein Deutsch. Sie wusste nur, dass sie mit der U-Bahn zum Alexanderplatz fahren sollte. Dort wollte sie sich mit Christian, einer Bekanntschaft aus dem Internet, treffen. Ihn zu finden war das eine Problem, dass andere war, dass sie immer noch nicht wusste, wie sie dort hinkommen sollte.
    ‚Den U-Bahn-Plan versteht doch keiner!’. Das einzige was ihr dazu einfiel war, dass dieses Teil aussieht wie eine Anleitung für ein Strickmuster! Sie blickte einige Passanten mit fragendem Blick an und zeigte auf den Plan. Doch alle sahen weg, keiner wollte helfen. Dann endlich fand sie auf dem Plan den Treffpunkt. ‚Kann man hier einfach einsteigen und mitfahren?’. Sie wusste es nicht, aber da die U-Bahn mit der Aufschrift „Alexanderplatz“ einfuhr, blieb ihr nichts übrig, als ohne Fahrkarte einzusteigen.
    Sie drängelte sich mit ihrem Gepäck zu der Tür der Bahn und versuchte ihre Taschen zu „bändigen“. Und wieder half ihr niemand. ‚Ist das nur weil ich eine andere Hautfarbe habe?’, fragte sie sich oder sind hier generell alle nicht hilfsbereit?
    Die Sitzplätze waren besetzt, also blieb sie stehen.
    Nach kurzer Zeit setzte sich die U-Bahn in Bewegung. Plötzlich ging ein Ruck durch die Fahrgäste, und Angelique beobachtete, wie die Leute ihre Portemonnaies aus den Taschen holten und einige zu einem Automaten hasteten. ‚Ob man hier doch Fahrkarten braucht?’. Sie sah einen Mann, der die Fahrkarten kontrollierte. Was sollte sie machen? Wie sollte sie ihm erklären, dass sie keine Ahnung davon hatte?
    Er kam auf sie zu und bat sie um ihr Ticket. „Ticket“ war das einzige Wort was sie verstand. Sie schüttelte mit dem Kopf und hob die Schultern. ‚Hoffentlich versteht er was sie meint.’ Aus ihrer Jackentasche holte sie einen 5 Euro-Schein. Doch der Mann schüttelte mit dem Kopf und gab ihr einen Zettel auf dem ein Betrag von 50 Euro stand, sowie das Wort „Verwarnungsgeld“. Natürlich wusste sie nicht was gemeint war, und sie wunderte sich wie teuer das Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Deutschland ist.
    Sie gab ihm das Geld. Zum Glück war die nächste Haltestelle der Alexanderplatz und sie quälte sich mit ihren Koffern aus der Bahn.
    Jetzt galt es nur noch Christian zu finden. Sie ging zu dieser Uhr an der sie sich verabredet hatten. Doch es stand dort niemand der aussah wie Jemand, der wartet. Sie stand Stunden, und kein Christian kam. Sie war allein, in einem fremden Land mit einer fremden Sprache. Ein Ticket zurück nach Kenia konnte sie sich im Moment noch nicht leisten. Wo sollte sie jetzt hin? Sie bereute ihre Entscheidung und sah sich in diesem ihr unbekannten Land verloren.
    Langsam begann es zu dämmern…

  • von Leserättin



    Man nannte ihn den Meisterlinguisten oder auch das Sprachgenie. August Remond besaß die Fähigkeit, eine Sprache innerhalb kürzester Zeit zu erlernen. Er brauchte nur wenige Vokabeln zu hören, schon beherrschte er den Sprachrhythmus und verstand die Worte.
    Genauso begabt war er in der schriftlichen Sprache, las mit Leichtigkeit altgriechisch so wie ägyptische Hieroglyphen und keltische Runenschrift. Niemand musste ihm einen Code zeigen, es genügte, dass er die Zeichen sah, um sie entschlüsseln zu können.
    Nur an diesem Buch, einem Folianten aus dem 14. Jahrhundert, biss er sich seit mehr als einer Woche die Zähne aus. Es enthielt Zeichen, die August nie zuvor gesehen hatte, die keinen anderen Symbolen ähnelten. Er kam nicht dahinter, was sie bedeuteten, hatte lediglich auf seinem Notizblock Vermutungen stehen.
    „Machen Sie doch endlich Feierabend.“
    August sah auf, als er die tiefe Stimme seines Kollegen vernahm. „Ich kann nicht, Nicholas. Wenn ich jetzt zu Bett gehe, finde ich keinen Schlaf, weil mein Gehirn weiterhin mit diesen Zeichen beschäftigt ist. Ich spüre, dass ich kurz davor bin, ihre Bedeutung herauszufinden.“
    „Vielleicht sollten Sie es für dieses Mal gut sein lassen.“
    „Unmöglich.“ August presste die Handballen auf seine brennenden Augen. „Ich habe einen Ruf zu verlieren.“
    „Was, wenn das, was in dem Buch steht, gefährlich ist?“
    „Sie meinen eine Waffe?“ August ließ die Hände sinken und sah den Mann an. Er war ein Historiker aus Paris, der oft bei August hereinschaute und mit ihm über verschiedene Epochen diskutierte. Erst seit wenigen Wochen arbeitete er in dieser Abteilung, doch seine Referenzen sprachen für sich. Wenn er glaubte, die Bedeutung der Zeichen zu kennen oder nur einen hilfreichen Hinweis liefern konnte, so würde August ihm zuhören.
    „Vielleicht.“ Er bewegte vage eine Hand.
    „Dieses Buch ist zu alt, um eine Anleitung zum Bau einer Massenvernichtungswaffe zu enthalten. Oder ein Rezept für …“ Er verstummte und beugte sich erneut über die Seite. Das war es, ein Rezept. Seine linke Hand tastete nach dem Stift und dem Block. Er riss das mit nutzlosen Abmerkungen voll gekritzelte oberste Blatt ab und begann zu schreiben. Endlich ergaben die Zeichen einen Sinn, endlich verstand er die fremde Sprache.
    Seine Hand flog geradezu über das Papier, füllte es mit der Formel, die Blei in Gold verwandeln konnte.
    Blei in Gold? August stutzte, doch nur für einen Moment. Er durfte jetzt nicht aufhören, erst, wenn alles übersetzt war, würde er sich gestatten, darüber nachzudenken.
    Schon füllte sich das nächste Blatt, enthüllte das Geheimnis des Tranks ewiger Jugend. August atmete schneller, Schweißtropfen rannen sein Gesicht hinab. Er verstand es, verstand die alte Geheimsprache der Alchimisten.
    Doch sein Jubel wurde jäh erstickt, als das Messer zwischen seine Rippen drang und sein Herz durchbohrte.
    „Niemand außer mir wird je dieses Geheimnis kennen“, sagte Nicholas Flamel, nahm das Buch an sich und verschwand durch eine Seitentür.

  • von Tom



    Jim Paradopoulos zog den langen Popel aus der Nase und betrachtete ihn nachdenklich. Er war unschlüssig, ob er ihn zwischen den Fingern zu einem klebrigen Küglein drehen sollte - oder einfach herunterschlucken. Da bemerkte er eine Bewegung im Augenwinkel. Jim nahm die Füße vom Tresen und drehte den Stuhl. Da stand ein Typ, kaum einen Meter fünfzig hoch, und dieser Typ trug etwas, das wie ein Ganzkörpergummistiefel aussah. Aus dem gelben Plastiktaucheranzug sahen ihn zwei rosafarbene Augen an. Komisch, die Ladenklingel hatte Jim nicht gehört. Das verblüffte ihn mehr als das Aussehen des Kunden. Schließlich befand sich das 'Borderline Comic Store' in Manhattan. Da gehörte es quasi dazu, merkwürdig auszusehen. Insbesondere, wenn man Comicfan war.


    "Kann ich Ihnen helfen?" fragte er höflich und schob die Hand mit dem Popel unter den Tresen, wo bereits ein kleines Gebirge aus getrocknetem Nasenschleim klebte.


    "Wrytik", antwortete der Typ.


    "Wrytik?"


    "Wrytik", wiederholte das gelbe Etwas.


    Steckten da nur drei Finger in den Handschuhen?


    "Sprechen sie kein Englisch? Do you parlez french?", versuchte der Verkäufer.


    "Wrytik."


    "[ *** ]" kramte Paradopoulos aus den spärlichen Resten seiner Muttersprachkenntnisse hervor.


    "Wrytik."


    "Tut mir leid, aber Wrytik kenne ich nicht. Ist das neu? Was von Marvel?"


    "Wrytik."


    "Sind Sie Rumäne oder so was? Aus Polen? Albaner?"


    "Wrytik."


    Die gelbe Figur verharrte bewegungslos, während sie mit dem Comicverkäufer sprach. Dann sagte sie noch ein letztes Mal "Wrytik", legte einen silbern schillernden Gegenstand auf den Tresen und verschwand einfach. Jim Paradopoulos blinzelte. Eben war die Gestalt noch da gewesen, und jetzt nicht mehr. Er stöhnte, griff nach dem silbrigen Gegenstand und lehnte sich wieder im Stuhl zurück. Sah aus wie ein Reiseaschenbecher. Jim klappte ihn auf, legte den Popel in die kleine Vertiefung, nahm sich eine alte 'Radioactive-Man'-Ausgabe und schob die Füße zurück auf den Tresen. Verfluchte Kifferei, dachte er kurz. Dass eine kleine Anzeige an der Seite des silbernen Dingens zu blinken begonnen hatte, sah er nicht.



    Es war Jim Paradopoulos nicht vorzuwerfen, dass er den auf der Trägerwelle des Wortes "Wrytik" codierten Infraschall-Kommunikationsimpuls nicht verstanden hatte. Schließlich war er der erste Mensch, der einem Bewohner des Planeten Krmp begegnet war.


    Und der letzte.


    Das hier hatte das Alien gesagt:


    "Guten Tag, mein Name ist Frsl Kzmz, ich bin leitender Abraumingenieur des planetarischen Versorgungskommandos, zuständig für den Sektor 7B/GZSZ. Ihr kleines und nicht sonderlich schönes Sonnensystem wird in nächster Zeit von einem mobilen Schwarzen Loch hochverdichtet und als Rohstoffquelle eingelagert. Bitte teleportieren Sie Ihre Bevölkerung zeitnahe auf eines der Systeme, die Sie dem Kommunikationsbaustein entnehmen können. Betätigen Sie die Bereitschaftsmeldungssystematik, wenn Sie so weit sind, indem Sie einen Popel in die Mulde legen. Danke."


    "* = *Do you speak greek* in griechisch."

  • von eyre



    Sie stehen in einem Halbkreis um mich herum – gleißendes Licht ermattet ihre Augen. Sie sagen nichts, arbeiten routiniert und zügig. So still ist es um uns herum. Ich lausche angestrengt. Natürlich müssen sie doch reden, wenigstens ab und zu die Daten auf dem Bildschirm abfragen. Einer beugt sich vor – seine Stirn ist feucht. Sie wird ihm vorsichtig abgetupft. Er blickt zu dem zweiten Mann rechts von ihm. Dieser schaut zurück. Seine Stirn legt sich in sanfte Wellen – staunt er? Ich kann es nicht erkennen – ich bin doch zu weit weg. Die Schwester tupft wieder. Beide blicken nun die Frau links an. Ihre Augen wirken im Licht ganz farblos – einheitlich mit dem Gesicht. Alles ist so grell. Ihre Wimpern zittern – ja, ich habe es ganz genau gesehen – sie zittern. Der zweite Mann von rechts senkt kurz die Lider. Zustimmung? Sie arbeiten weiter. Ob ich mir Sorgen machen sollte? Warum klirren die Instrumente nicht, wenn sie sie auf die Platte legen? Immer dieser Tupfer. Ich wünschte, sie würden sprechen, egal welche Sprache, aber sie sollen endlich miteinander reden – sich Hinweise geben oder kleine Witzchen erzählen – von mir aus auch über mich. Sie dürfen auch lachen – natürlich nicht all zu laut – ich könnte ja aufwachen, aber ein bisschen kichern und prusten schon. Oder nur schmunzeln. Die Schwester könnte summen. Jetzt halten sie alle inne – alle auf einmal – sie schauen sich an – blass, hell, lautlos. Blicke sausen über mich hinweg – hierhin – dorthin – Wimpern zucken, Pupillen blitzen, Augenbrauen heben und senken sich. Hektischer, schneller, aufgeregter - der Mann von rechts zu dem Mann in der Mitte die Frau gegenüber zu dem Mann neben dem den rechten und den in der Mitte und zurück und wieder hin und keiner hält inne.


    Schaut mich an! Lasst mich Eure Blicke lesen!


    Die Schwester mischt sich nicht in die schweigende Diskussion ein. Sie wartet.


    Und immer noch hektischer Austausch.


    Seid fair – erschreckt mich nicht mit Eurer Stummheit. Gebt mir ein Signal – ein Hinweis. Ich komme damit klar – ich verspreche es – bitte – schaut mich an!


    Doch sie spüren meine flehenden Gedanken nicht.


    Sie sind zu beschäftigt – zu verstrickt. Zu weit weg.


    Dann senken sich ihre Lider. Keiner schaut den anderen mehr an. Sie arbeiten routiniert und zügig.


    Euer Vakuum.


    Verräter.

  • von Sabine_D



    Mist, fluche ich, es ist schon wieder so spät.
    Wütend auf mich und meine Unfähigkeit aufzustehen wenn der Wecker klingelt, schnappe ich mir Jacke, Schlüssel und Tasche und renne aus der Wohnung.
    Ich muss wieder einmal einen Dauerlauf einlegen, um meine S-Bahn noch zu bekommen.
    Auf dem Fußweg ist so ein Gewühl, als wenn hier gleich der New York Marathon startet. Ich muss in Schlangenlinien zwischen den Menschenmassen hindurch hetzen. Das kostet zusätzliche Minuten und bessert meine Laune nicht wirklich. Ich nehme mir die Zeit auf meine Armbanduhr zu sehen, dabei passiert es. Ich pralle auf ein Hindernis und finde mich auf dem Hintern sitzend wieder. Im ersten Moment total verwirrt, sehe ich mich um und bemerke Passanten, die kopfschüttelnd an mir vorbeihasten.
    Der Grund für meinen Sturz steht vor mir und schaut mich an.
    Er reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. Ich lächele ihn dankbar an, klopfe Jacke und Hose ab und humpele mit hochrotem Kopf weiter Richtung S-Bahn. Mein Knöchel schmerzt, Wahrscheinlich habe ich ihn mir beim Sturz verstaucht.
    Das war es dann mit der Pünktlichkeit für heute. Der Tag fängt nicht gut an. Eigentlich ist er schon so gut wie gelaufen. Von meiner S-Bahn habe ich nur noch die Rücklichter gesehen.
    Ich drehe mich zu den Fahrplänen um und finde mich vor dem Mann wieder, der den Sturz auslöste.
    Ich merke wie mir wieder die Röte ins Gesicht steigt. „Geht es Ihnen gut, haben Sie sich wehgetan? Sie waren so schnell fort, dass Sie mich gar nicht mehr gehört haben als ich Ihnen hinterher rief“ sagt er zu mir.
    Ich nicke nur, unfähig mich zu rühren. „Wo müssen Sie denn hin?“ kommt seine nächste Frage.
    Ich lächele ihm stumm zu. Er sieht mich nachdenklich an. Gerne würde ich ihm sagen, dass ich ihn verstehe, ihm aber nicht antworten kann. Zumindest nicht so, dass er es versteht. Er lächelt immer noch und wartet auf meine Antwort.
    Ich verziehe meinen Mund, wie immer wenn ich nervös bin, und schaue ihn nur schweigend an. Ich weiß, dass mein Verhalten die Menschen irritiert.
    „Na dann“ sagt er, dreht sich um und geht. Im Gehen dreht er sich noch einmal nach mir um und verschwindet im Gewühl.


    Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich drehe mich um und stehe meiner besten Freundin gegenüber. Wir sagen uns Guten Morgen. Gleich darauf fängt sie mit beiden Händen an zu reden. Ich lasse sie ausreden und antworte ihr, ebenfalls in unserer Gebärdensprache. In diesem Moment sehe ich aus den Augenwinkeln heraus den Mann am Bahnsteig stehen. Er blickt zu mir herüber und lächelt mir zu.

  • von churchill



    Entschuldige, aber ich kann mit dir nichts anfangen. Das richtet sich nicht gegen dich persönlich, ist halt einfach so.


    Halt einfach so? Verzeih, woher
    kennst du mich denn? Ich find es schwer,
    solch Urteil leicht dahinzusagen.
    Wenn ich das lese, muss ich fragen:
    Wer gab sie dir, die Denkschablone?
    Ich denke lieber selbst, denn ohne
    Schablone lebt sich’s weit und offen.
    Darf ich das auch bei dir noch hoffen?


    Quatsch, das hat nichts mit Denkschablonen zu tun. Du gibst mir mit deinem mainzerisch-kölschen Büttenredenjargon doch das beste Argument gegen alles Gereimte.


    Das liegt am Vers. Im Paar reimt sich’s recht gut.
    Man kommt schnell auf den Punkt. Und wieder fort.
    Für den, der zwischendurch ganz gern mal ruht,
    erscheint der Kreuzreim mir der bess’re Ort.


    Aber auch das Kreuzgereimte ist für mich nicht zu ertragen. Die Prosa bietet doch so vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten. Warum um alles in der Welt die Vergewaltigung der Worte, das Pressen in Zeilen und Verse, das mathematische Abzählen von Silben, die künstliche Form?


    Kann Form nicht auch den Inhalt unterstützen?
    Ein Reim als Selbstzweck ist stets abzulehnen,
    doch darf im Spiel der Worte und der Silben
    die Möglichkeit wohl angenommen werden,
    die Aussage entscheidend zu verdichten …
    Das Herz, es jauchzt. Gewinnen wird das Schöne.


    Glaub nicht, dass du mich reinlegen kannst, bloß, weil du den Reim weglässt! Verdichten? Verzerren, verwirren, verwischen, ja, all das, aber verdichten? Benutzt du etwa nicht permanent unnötige Füllwörter, um im Rhythmus zu bleiben? Was hat das dann noch mit dem Inhalt zu tun? Gute Prosa braucht solche Tricks nicht! Sie kommt ohne Schnörkel und Verzierungen aus!


    Gute Prosa
    Verben jagen Substantive
    Hauptsätze unter sich
    Kommata Exoten, Semikola das Böse;
    Adjektivisch sprießt Unkraut
    Arme Prosa
    Partizipienfrei
    Punkt


    Wieder so ein fauler Trick deinerseits. Quasimoderne Wortakrobatik. Ich bin nun mal gegen Lyrik! Und im Zweifel werde ich immer einen Prosatext vorziehen. Es ist einfach Geschmackssache.


    Geschmack. Darüber lässt sich halt nicht streiten.
    Doch Prosa gegen Lyrik aufzuwiegen,
    sich genremäßig gleichsam zu bekriegen,
    auf Nebensächlichkeiten rumzureiten,


    ist kontraproduktiv und dumm und dämlich.
    Ich kann mich doch an Thomas Mann erlaben
    und gleichzeitig viel Spaß mit Kästner haben.
    Dessen Gedichte inspirier’n mich nämlich.


    Ich brauch den Prosatext nur umzuschreiben,
    schon hältst du ihn für Lyrik und entsetzt dich,
    weil ich die Sprache vergewaltigt hätte.


    Werd ich dagegen ganz prosaisch bleiben,
    dann schätzt du diesen Text. Und das verletzt mich.
    So zieh ich mich zurück. Und schreib Sonette.


    Typisch Lyriker. Sensibel wie eine Mimose. Kann keinerlei Kritik vertragen. Und flüchtet sich in Herzschmerzbetroffenheitsgesäusel.


    Es sprach die prosaische Eule:
    Gedichte sind Kitsch und Geheule.
    Das finde ich nicht,
    schreib noch ein Gedicht.
    Ich lieb das Florett, nicht die Keule.

  • von Roxane



    Allein. Plötzlich bin ich ganz allein hier in diesem großen, brodelnden Auflauf, umgeben von Hunderten, Tausenden, und zugleich völlig einsam. Als ich die Augen schließe, summen sie wie eine Myriade zorniger Wespenschwärme, kreischen, flüstern, rufen, stöhnen, zischen, brummen, singen, murmeln. Das Geräusch ergießt sich über meine Ohren wie ein riesiger Topf flüssigen Karamells, heiß, zäh, klebrig - doch ohne jegliche Süße, sondern mit dieser niederschmetternden Schärfe, die nicht nur meinen Mund, sondern meinen ganzen Körper verbrennt, sodass ich einen Schrei mühsam unterdrücken muss, meine Zähne, Augen, Lippen zusammenpressend.
    Ich blinzele und versuche, auch den visuellen Eindruck aufzunehmen, wobei ich erleichtert feststelle, dass er, verglichen mit dem Geräusch, kaum schmerzhaft ist: Menschen. Menschen, wo ich auch hinsehe.
    Sie sehen so anders aus als die, die ich von daheim kenne: Nirgendwo die vertraute weiße Haut, kein einziger Rot- oder Blondschopf, nicht ein krauses Haar. Alles hier ist irgendwie glatt. Selbst ihre Art zu gehen ist auf eine seltsame Art glatt, der Baustil, die Sprache - ich wage es nicht, mich zu bewegen, aus Angst, ich könnte ausrutschen. Schlittern.
    Ich habe nichts gegen Chinesen; wenn ich daheim bin und sie im Fernsehen sehe, mag ich sie furchtbar gern, lache über die Art, wie sie das “R” schlicht übergehen und sich stattdessen ein “L” von der Zungenspitze rollen lassen, finde es toll, wie sie ständig lächeln, als würde ihnen eine Stimme im Kopf heimlich Witze zuflüstern, bestaune die Fingerfertigkeit der fünfjährigen Pianisten, die beinahe von der Klavierbank rutschen und sich scheinbar leichtfertig Rachmaninovs Cis-Moll-Präludium aus dem Ärmel schütteln. Überhaupt mag ich andere Länder und Sitten, liebe alles, was mit fremden Kulturen und Religionen zu tun hat … Doch als ich mich hier wieder finde, auf dem riesigsten Flughafen, den ich je betreten habe, umgeben von sirrenden, summenden, plappernden, rotierenden und diskutierenden Nicht-Europäern, fühle ich mich verzweifelt. Einsam. Allein unter Tausenden.
    Gerade, als mir dieser von Selbstmitleid getränkte Gedankenfetzen durch den Kopf schwimmt, erhasche ich einen Blick auf eine weiße Hoffnungsflagge, ein weißes Rettungsboot in einer Flut aus Körpern. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und mache mich so groß wie möglich, versuche, sein hellhäutiges Gesicht in der Menge auszumachen - und unglaublicherweise sieht er mich. Unsere Augen treffen sich in Erleichterung, und schon hat er sich einen Weg zu mir durchgebahnt.
    »Hilde!«
    »Leon!« Ich ziehe ihn an mich, dann besinne ich mich und schubse ihn wieder weg. »Was bildest du dir eigentlich ein, mich allein zu lassen? Willst du, dass ich draufgehe, hier unter Chinesen, ohne jemanden, der meine Sprache spricht? Du spinnst doch!«
    »Hilde-«
    »Entschuldige dich gefälligst!«
    »Aber ich sagte doch: Ich geh schnell zur Toilette!« Leon runzelt die Stirn. »Und warum hältst du eigentlich diese Zigarette in der Hand?«
    »Du wolltest doch -«
    Ich verstumme, glotze ihn einfach nur an, fassungslos. »Also sagtest du nicht Zigarette …«
    Da fange ich an zu kichern. Während Leon mich verständnislos anstarrt, schüttle ich mich vor Lachen:
    Wir befinden uns in einem Land, beherrscht von einer der schwierigsten Sprachen der Welt. Und verstehen unsere eigene nicht.

  • von Clärschen



    Wir saßen in unserem Garten unter dem Apfelbaum im Graß. Es war Hochsommer, heiß und wir langweilten uns. Ich rupfte Graß aus, da sagte mein Bruder etwas und ich sah auf. „Was?“
    Er wiederholte es und ich verstand es immer noch nicht. Er sagte es ein drittes Mal und deutete erst auf den Apfelbaum, dann auf die Eiche neben unserem Haus, auf die Tanne im Nachbarsgarten. Ich wiederholte das Wort verständnislos. Mein Bruder nickte zustimmend.
    Dann zeigte mein Bruder auf eine Blume im Graß und sagte ein neues Wort. Ich wiederholte es.
    So ging es den ganzen Nachmittag, bis unsere Mutter uns zum Essen rief.


    Morgens traten wir aus der Haustür mit unseren Schultornistern auf den Rücken, wir waren schon auf der Straße, da packte mich mein Bruder am Arm und zog mich in den Garten. Dort deutete er auf den Apfelbaum. „Was?“ fragte ich. Er sagte ein Wort und ich hatte begriffen, was er meinte.
    Er zeigte auf eine Blume und ich musste das Wort sagen.
    So machten wir es nun jeden Tag.


    Nachmittags regnete es und wir mussten drinnen bleiben. Da zeigte mein Bruder auf den Fernseher und sagte ein Wort und ich wiederholte es begeistert.


    Im Unterricht drehte die Lehrerin sich zur Tafel, mein Bruder deutete auf sie und flüsterte mir etwas zu. Ich sprach es nach und bekam eine Strafarbeit. Mein Bruder half mir dabei. Wir saßen im Klassenzimmer. Ich musste Sätze schreiben. Ich schrieb: Ich muss im Unterricht still sein und zuhören, wenn die Lehrerin etwas erklärt.
    Mein Bruder schrieb auch, aber etwas ganz anderes und in komischen Buchstaben. Als ich ihn fragte, was er da schriebe, las er es mir vor und ich sprach es nach. Dann zeigte er auf einzelne Zeichen und machte einen Laut. Ich musste die Zeichen abschreiben und den Laut nachmachen.
    Mit der Strafarbeit wurden wir an diesem Nachmittag nicht mehr fertig.


    Eines Abends, als wir schon in unseren Betten lagen, flüsterte mein Bruder mir wieder etwas zu. Es war nicht nur ein Wort sondern mehrere und ich kannte nicht alle. „Was?“ Er wiederholte sie, ganz langsam. Ich beschloss einfach zu raten. Mein Bruder schüttelte den Kopf. Ich versuchte es noch mal. Da nickte mein Bruder und sprach mir den nächsten Satz vor.
    Wir schliefen nicht mehr viel in dieser Nacht.


    Als wir beim Abendessen saßen, fragte meine Mutter meinen Bruder: „Willst du noch Erbsen?“
    Mein Bruder antwortete. „Sprich deutlicher, Junge.“ Sagte mein Vater. Mein Bruder sprach sehr deutlich und mein Vater verstand es trotzdem nicht. Ich viel fast von meinem Stuhl vor Lachen.
    Von da an verstand meinen bruder und mich niemand mehr, der uns nicht verstehen sollte.

  • von bartimaeus



    Da in Kleinreede Menschen unterschiedlichster Herkunft wohnten, stand das alljährliche Straßenfest diesmal unter dem Motto “Kleinreede ist multikulturell!” Und so reihten sich kleine Imbissstände, geschmückt mit den jeweiligen Landesflaggen, um den Pflasterplatz in der Stadtteilmitte. Es duftete nach Gewürzen, gebratenen Nudeln und all den anderen Speisen, die die ansässigen Familien feilboten. Überall standen Menschen bei einer Tasse Mokka und plauderten vergnügt. Auf einer notdürftig zusammengezimmerten Holzbühne sang ein gemischter Kinderchor.


    Zwischen den anderen Ständen hatten die Wätschers den deutschen Imbiss aufgebaut, wo es Bier, Sauerkraut und (aus Rücksicht auf die muslimischen Nachbarn) Heidschnuckenbratwürste gab. Frau Wätscher, eine opulente Hausfrau, war mit einer Inderin ins Gespräch vertieft, während ihr Mann den Grill bewachte.
    Mirko jedoch stand abseits. Missmutig kickte er gegen einen Kiesel. Warum hatten sich seine Eltern durch nichts davon abbringen lassen, den Stand zu übernehmen?
    Dieses Multikultifest wird doch bestimmt lustig.
    Dass er nicht lachte! Multikulti, allein schon das Wort gehörte verboten! Aber natürlich hatten seine Eltern wieder ihren Willen durchgesetzt – wie immer. Jetzt hing er hier mit diesen Ausländern auf dem ätzenden Fest rum.
    Wir müssen ihnen helfen, hier Fuß zu fassen, hatte seine Mutter gesagt, ihnen die Hand reichen.
    Lächerlich!
    Er blickte zur Bühne. Seine Schwester in dem roten Manteljäckchen sang mit ihrer glockenhellen Stimme. Dass sie zwischen diesen, diesen - ihm fiel kein Wort ein, das ihm abfällig genug klang - singen musste, machte ihn wütend. Viel zu schade!
    Es machte ihn wütend, dass sie in diesem heruntergekommenen Stadtteil lebten. Alles machte ihn wütend und daran gab er den Ausländern, die Schuld. Hasste sie dafür.


    Er stampfte auf. Sauerkraut würde sich auf dem teuren Sari der Gesprächspartnerin seiner Mutter bestimmt sehr gut machen.
    Andererseits ... Er lachte in sich hinein. Warum eigentlich nicht?! Kurzentschlossen ging er zu dem Sauerkohltopf, holte mit der Kelle aus und setzte seine Idee in die Tat um. Einzelne Sauerkrautfäden landeten apart auf dem rosafarbenen Stoff.
    Die Inderin schrie erschrocken auf. Während Frau Wätscher sich wortreich für das ‘Missgeschick’ ihres Sohnes entschuldigte, kam ein bärtiger Mann vom Nachbarstand herbeigeeilt und echauffierte sich empört: »Ich habe es genau gesehen. Das war kein Unfall!«
    Jemand weiteres dementierte heftigst.
    »Sie wollen dem Jungen wohl nicht unterstellen, dass...?!«
    Mirko blickte unschuldig in die Luft.
    Inzwischen stimmte der Chor ein neues Lied an: »Wir sind alle Kinder dieser Erde...«
    »Aber zuzutrauen wär's ihm doch.«
    »Wie können Sie es wagen ...?!«
    Immer mehr Personen traten hinzu, taten ihre Meinung kund. Es entbrannte ein Streit, der schließlich darin gipfelte, dass alle beleidigt auseinanderstoben und sich in ihren Vorurteilen bestätigt sahen.
    Nach und nach zerrten die Eltern die Chorkinder von der Bühne hinunter nach Hause.
    Das »Lasst uns gemeinsam frohen Mutes leben!« ging im Gedränge unter.


    Mirko grinste selbstgefällig.
    Platz und Stände lagen verlassen; die Ruhe nach dem Sturm. Nur seine Schwester stand noch auf der Bühne. Allein. Und sang. Trat vor das Mikrofon und beendete unter Tränen das Lied: »Trotz aller Sprachbarrieren - mit Hilfe der Sprache der Liebe wollen...«, sie schluckte, »sollten wir lernen, einander zu verstehen.«

  • von Sinela



    Wie eine überdimensionale Blechdose stand der Wohnwagen in der Wüste. Seine alluminumgraue Farbe, die von zwei roten Streifen an den Wänden unterbrochen wurde, reflektiere das Sonnenlicht. Der Schatten des riesigen Saquero-Kaktus´, der neben dem Wohnwagen stand, konnte genauso wenig wie die schwache Klimaanlage verhindern, dass sich die Luft im Inneren stark aufheizte. Angenehme Temperaturen fühlten sich anders an, aber der Besitzer wollte nirgendwo anders leben als in der Wüste Nevadas. Er liebte diese grenzenlose Weite, die Stille und vor allem liebte er die Einsamkeit. Pete war es egal, wie es in seinem Wohnwagen aussah, es war ihm egal, was er anhatte, alles war ihm egal, solange nur genug zum trinken da war. Er sah aus wie 70, obwohl er laut Geburtsurkunde erst 55 war. An diesem Dienstag Morgen im April wachte er wie fast jeden Morgen mit einem Kater auf. Stöhnend setzte er sich auf und griff nach der Bierdose neben dem, was er sein Bett nannte. Aber er hatte kein Glück, denn sie war leer, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich einen Kaffee zu machen, den er laut schlürfend trank. Er kratzte sich am Kopf, er kratzte sich am Sack, um dann aus einer Laune heraus das Radio anzumachen. Country Music dudelte durch den Raum. Nicht gerade Petes Lieblingsmusik, aber in seinem jetzigen Zustand war ihm das scheißegal. Er verfiel in dumpfes brüten.
    „Ahrsh, sthezj, sthekd, gklde..“
    Die Kaffeetasse fiel mit einem Scheppern zu Boden und zerbrach.
    „thihhh, ghekkdh.“
    Oh Gott, endlich, das war der Beweis, dass er nicht den Verstand verloren hatte, wie ihm alle vor 5 Jahren einreden wollten. Er musste sofort nach Garden Falls, die Menschen dort warnen!


    In einer großen Staubwolke kam das Auto vor der Bar zum stehen. Pete sprang heraus und stürmte in das Gebäude.
    „Außerirdische, sie greifen an! Ich habe sie im Radio gehört!“
    Alle starrten ihn ungläubig an.
    „Habt ihr mich nicht verstanden? Ihr müsst euch in Sicherheit bringen, die Aliens greifen an!“
    „Hast Du wieder mal zu tief ins Glas geschaut Pete?“, fragte der Bar-Inhaber.
    „Es gibt keine Außerirdischen, das weiß doch jedes Kind.“
    Lautes Lachen dröhnte durch den Raum. Pete stöhnte auf. Was konnte er nur tun, damit ihm die Dorfbewohner glaubten?
    „Ich kann es beweisen. Kommt mit, hört es euch selber an.“
    „Okay, das machen wir. Los kommt, wir fahren raus zu Petes Wohnwagen und hören Radio.“
    Wieder bogen sich alle vor Lachen.


    „gkrhkkhg, kehtight, kahtk..“
    „Glaubt ihr mir jetzt? Diese Sprache ist nicht von dieser Welt!“
    „Moment, das haben wir gleich. Ich werde den Angriff jetzt mal abwehren.“
    Mit einem überheblichen Lächeln stieg einer derAnwesenden in den Wohnwagen, drehte am Radioknopf und es ertönte .... Country-Musik.
    „Du hast bloß den Sender verstellt, das war alles. Die Außerirdischen bleiben im All, da wo sie hingehören.“
    Hohnlachend stiegen die Männer wieder in ihre Wagen, ließen Pete allein.
    „Ihr täuscht euch gewaltig, wenn ihr glaubt, es sei so einfach, Aliens abzuwehren. Sie werden kommen, das prophezeihe ich euch.“