Dies ist eines jener Bücher, die viel mehr gekauft als gelesen
werden. Das Lesen ist ein längeres, ein anstrengendes Unternehmen. Es
erfordert Zeit und viel Geduld. Auf mehr als fünfhundert Seiten
liefert der Autor genau das ab, was er im Untertitel ankündigt: Eine
"Autobiographie ohne Ereignisse", ein Roman ohne Handlung.
Nicht einmal Anekdoten lockern die Reflexionen des Ich-Erzählers
Bernardo Soares auf. Von ein paar beiläufigen biografischen
Randbemerkungen abgesehen, erfahren wir im ganzen Buch über diese
Figur nicht viel mehr, als dass sie als Hilfsbuchhalter in einem
Textilgeschäft arbeitet.
Soares ist eine fiktiven Ersatzpersönlichkeit Pessoas, eines seiner
sogenannten "Heteronyme". Weil nun diese Figur die ganze Zeit
über sich selbst reflektiert, fällt es besonders schwer, den Autor
Pessoa nicht mit dem Heteronym gleichzusetzen, das aus dem Buch der
Unruhe spricht. Pessoa selbst hat jedoch strikt getrennt, und
bestimmte Gemütsverfassungen und Teilaspekte seiner eigenen
Persönlichkeit bewusst unterschiedlichen Heteronymen zugeordnet.
Das Heteronym Bernardo Soares steht für eine radikale Verweigerung von
Leben und Realität. Soares hält das Träumen für die einzige ihm gemäße
Beschäftigung, den Traum für den alleinig erstrebenswerten
Geisteszustand. Deshalb müsste dieses Werk eigenlich "Buch des
Träumens" heißen, denn das Träumen ist Thema, nicht so sehr die
Unruhe. Aber nicht einmal die Träume werden in diesem Buch konkret,
auch sie sind reduziert auf einzelne Bilder, die wiederum in
Überlegungen zum Wahrnehmungs- und Realitätsbegriff eingebettet
werden. Was genau dieses Soares träumt, bleibt dem Leser genau so
sehr verborgen wie seine äußeres Leben.
Für Soares ist der Traum das bessere Leben, und deshalb versucht er,
sich so oft wie möglich in einen traumähnlichen oder traumnahen
Zustand zu begeben. Dementsprechend hat Pessoa laut eigener Aussage
Soares die Feder ergreifen lassen, wenn er müde und schläfrig war.
Soares glaubt sich den meisten anderen Menschen überlegen auf Grund
seiner Sensibilität, seiner übersteigerten Wahrnehmungs- und
Vorstellungskraft. Er sieht sich auf einer höheren Ebene, obwohl er
unglücklich ist. Seine Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren, macht
ihn zu etwas Besonderem, hebt ihn ab von der dumpfen Triebhaftigkeit
der "normalen" Menschen. Jegliches materielle Ziel, auch die
Liebe und die Sinnlichkeit, verachtet er. Es ist sinnlos, danach zu
streben, denn nur im Traum ist Reinheit, Unbeflecktheit und
Vollkommenheit möglich. Zur geschlechtlichen Liebe ist seiner
besonderen Persönlichkeit wegen weder fähig noch willens.
Die Körperfeindliche, das Spirituelle und Metaphysische wirkt über
lange Strecken ermüdend und repetitiv. Das Buch ist zu dick. Es
enthält zu viele Wiederholungen. Das ist weniger Pessoa anzulasten,
denn es sind Jahrzehnte zwischen seinem Tod und der
Erstveröffentlichung vergangen. Das Manuskript besteht aus Hunderten
loser Blätter mit schwer oder gar nicht zu entziffernder Handschrift.
Hier standen die Herausgeber vor einer enormen editorischen Aufgabe,
die sie leider auf eine fragwürdige Weise gelöst haben. Während die
erste deutsche Ausgabe noch um die Hälfte kürzer war, hat man in der
aktuellen Version die Strategie verfolgt, alle nur irgendwie dem Buch
der Unruhe zuzuordenden Texte aufzunehmen. An vielen Stellen mussten
unleserliche Worte durch Punkte ersetzt werden. Manches wirkt dadurch
fragmentarisch bis hin zur Unverständlichkeit. Für eine
historisch-kritische Ausgabe mag dies angemessen sein, nicht aber für
ein Buch, das sein Publikum über die Fachzirkel hinaus finden
möchte. Es ist bedauerlich, dass der Respekt vor einem großen Autor
dazu geführt hat, die Schere völlig aus der Hand zu legen. Ich glaube
nicht, dass dies im Sinne des Autors ist und bedauere es, nicht die
erste deutsche Ausgabe gelesen zu haben, die noch den Mut zum Kürzen
hatte.
Das Buch ist großartig in seiner Sprach- und Bildgewalt, und seiner
gedanklichen Tiefe. Hätten die Herausgeber den Mut gehabt an den
richtigen Stellen etwas wegzulassen, es könnte eine noch viel größere
Wirkung erzielen. Fast ärgerlich stimmt es da, wenn man auf einer der
letzten Seiten der Ausgabe eine Äußerung Pessoas bezüglich einer
künftigen Veröffentlichung zu lesen bekommt: "Die Gestaltung des
Buches sollte auf einer möglichst strengen Auswahl der überaus
unterschiedlichen Textfragmente beruhen, ..." Genau das haben die
Herausgeber leider unterlassen.
In seiner jetzigen Form bedarf das Buch eines ausdauernden, ja
verzeihenden Lesers. Er muss dem Buch seine Längen vergeben, genau wie
er Bernardo Soares seine mönchshaftes Einsiedlertum und seine
Menschenverachtung vergeben muss. Wenn er dazu bereit ist, findet er
sich einem Einzelkämpfer und Rebellen gegenüber, den kennenzulernen
unbedingt lohnenswert ist. In einer Welt, die so sehr wie die unsere
an materiellem Denken orientiert ist, ist ein Bernardo Soares
Revolutionär. Er verachtet alles Weltliche, verwehrt sich aber
gleichzeitig jeglicher Religion und Weltanschauung. Er grenzt sein Ich
so sehr gegen alles andere ab, dass es schließlich ganz
verschwindet. Menschliche Individualität ist hier zu Ende gedacht
worden und hat eine Ausdrucksform gefunden, die beunruhigend frei,
beunruhigend einzigartig ist.
Vielleicht ist es deshalb eine gute Idee, beim nächsten Einkaufstrip
mal an das Buch der Unruhe zu denken. Das Buch entzieht sich jedem
Kommerz. In der sperrigen Ausgabe, in der es jetzt vorliegt, tut es
das sogar noch mehr.