Fernando Pesoa: Das Buch der Unruhe

  • Dies ist eines jener Bücher, die viel mehr gekauft als gelesen
    werden. Das Lesen ist ein längeres, ein anstrengendes Unternehmen. Es
    erfordert Zeit und viel Geduld. Auf mehr als fünfhundert Seiten
    liefert der Autor genau das ab, was er im Untertitel ankündigt: Eine
    "Autobiographie ohne Ereignisse", ein Roman ohne Handlung.


    Nicht einmal Anekdoten lockern die Reflexionen des Ich-Erzählers
    Bernardo Soares auf. Von ein paar beiläufigen biografischen
    Randbemerkungen abgesehen, erfahren wir im ganzen Buch über diese
    Figur nicht viel mehr, als dass sie als Hilfsbuchhalter in einem
    Textilgeschäft arbeitet.


    Soares ist eine fiktiven Ersatzpersönlichkeit Pessoas, eines seiner
    sogenannten "Heteronyme". Weil nun diese Figur die ganze Zeit
    über sich selbst reflektiert, fällt es besonders schwer, den Autor
    Pessoa nicht mit dem Heteronym gleichzusetzen, das aus dem Buch der
    Unruhe spricht. Pessoa selbst hat jedoch strikt getrennt, und
    bestimmte Gemütsverfassungen und Teilaspekte seiner eigenen
    Persönlichkeit bewusst unterschiedlichen Heteronymen zugeordnet.


    Das Heteronym Bernardo Soares steht für eine radikale Verweigerung von
    Leben und Realität. Soares hält das Träumen für die einzige ihm gemäße
    Beschäftigung, den Traum für den alleinig erstrebenswerten
    Geisteszustand. Deshalb müsste dieses Werk eigenlich "Buch des
    Träumens" heißen, denn das Träumen ist Thema, nicht so sehr die
    Unruhe. Aber nicht einmal die Träume werden in diesem Buch konkret,
    auch sie sind reduziert auf einzelne Bilder, die wiederum in
    Überlegungen zum Wahrnehmungs- und Realitätsbegriff eingebettet
    werden. Was genau dieses Soares träumt, bleibt dem Leser genau so
    sehr verborgen wie seine äußeres Leben.


    Für Soares ist der Traum das bessere Leben, und deshalb versucht er,
    sich so oft wie möglich in einen traumähnlichen oder traumnahen
    Zustand zu begeben. Dementsprechend hat Pessoa laut eigener Aussage
    Soares die Feder ergreifen lassen, wenn er müde und schläfrig war.


    Soares glaubt sich den meisten anderen Menschen überlegen auf Grund
    seiner Sensibilität, seiner übersteigerten Wahrnehmungs- und
    Vorstellungskraft. Er sieht sich auf einer höheren Ebene, obwohl er
    unglücklich ist. Seine Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren, macht
    ihn zu etwas Besonderem, hebt ihn ab von der dumpfen Triebhaftigkeit
    der "normalen" Menschen. Jegliches materielle Ziel, auch die
    Liebe und die Sinnlichkeit, verachtet er. Es ist sinnlos, danach zu
    streben, denn nur im Traum ist Reinheit, Unbeflecktheit und
    Vollkommenheit möglich. Zur geschlechtlichen Liebe ist seiner
    besonderen Persönlichkeit wegen weder fähig noch willens.


    Die Körperfeindliche, das Spirituelle und Metaphysische wirkt über
    lange Strecken ermüdend und repetitiv. Das Buch ist zu dick. Es
    enthält zu viele Wiederholungen. Das ist weniger Pessoa anzulasten,
    denn es sind Jahrzehnte zwischen seinem Tod und der
    Erstveröffentlichung vergangen. Das Manuskript besteht aus Hunderten
    loser Blätter mit schwer oder gar nicht zu entziffernder Handschrift.
    Hier standen die Herausgeber vor einer enormen editorischen Aufgabe,
    die sie leider auf eine fragwürdige Weise gelöst haben. Während die
    erste deutsche Ausgabe noch um die Hälfte kürzer war, hat man in der
    aktuellen Version die Strategie verfolgt, alle nur irgendwie dem Buch
    der Unruhe zuzuordenden Texte aufzunehmen. An vielen Stellen mussten
    unleserliche Worte durch Punkte ersetzt werden. Manches wirkt dadurch
    fragmentarisch bis hin zur Unverständlichkeit. Für eine
    historisch-kritische Ausgabe mag dies angemessen sein, nicht aber für
    ein Buch, das sein Publikum über die Fachzirkel hinaus finden
    möchte. Es ist bedauerlich, dass der Respekt vor einem großen Autor
    dazu geführt hat, die Schere völlig aus der Hand zu legen. Ich glaube
    nicht, dass dies im Sinne des Autors ist und bedauere es, nicht die
    erste deutsche Ausgabe gelesen zu haben, die noch den Mut zum Kürzen
    hatte.


    Das Buch ist großartig in seiner Sprach- und Bildgewalt, und seiner
    gedanklichen Tiefe. Hätten die Herausgeber den Mut gehabt an den
    richtigen Stellen etwas wegzulassen, es könnte eine noch viel größere
    Wirkung erzielen. Fast ärgerlich stimmt es da, wenn man auf einer der
    letzten Seiten der Ausgabe eine Äußerung Pessoas bezüglich einer
    künftigen Veröffentlichung zu lesen bekommt: "Die Gestaltung des
    Buches sollte auf einer möglichst strengen Auswahl der überaus
    unterschiedlichen Textfragmente beruhen, ..." Genau das haben die
    Herausgeber leider unterlassen.


    In seiner jetzigen Form bedarf das Buch eines ausdauernden, ja
    verzeihenden Lesers. Er muss dem Buch seine Längen vergeben, genau wie
    er Bernardo Soares seine mönchshaftes Einsiedlertum und seine
    Menschenverachtung vergeben muss. Wenn er dazu bereit ist, findet er
    sich einem Einzelkämpfer und Rebellen gegenüber, den kennenzulernen
    unbedingt lohnenswert ist. In einer Welt, die so sehr wie die unsere
    an materiellem Denken orientiert ist, ist ein Bernardo Soares
    Revolutionär. Er verachtet alles Weltliche, verwehrt sich aber
    gleichzeitig jeglicher Religion und Weltanschauung. Er grenzt sein Ich
    so sehr gegen alles andere ab, dass es schließlich ganz
    verschwindet. Menschliche Individualität ist hier zu Ende gedacht
    worden und hat eine Ausdrucksform gefunden, die beunruhigend frei,
    beunruhigend einzigartig ist.


    Vielleicht ist es deshalb eine gute Idee, beim nächsten Einkaufstrip
    mal an das Buch der Unruhe zu denken. Das Buch entzieht sich jedem
    Kommerz. In der sperrigen Ausgabe, in der es jetzt vorliegt, tut es
    das sogar noch mehr.

  • Lieben Dank für deine ausführliche Rezi,
    leider, hab ich doch nicht so wirklicht dem entnehmen können,
    wie es dir gefallen hat, :gruebel
    Um es auf den Punkt zu bringen:
    von der Stil her wohl großartig,
    aber etwas zu lang?

    Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen,

    der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig. :lesend
    Ernst R. Hauschka

    Liebe Grüße von Estha :blume

  • Zitat

    Original von levita
    Lieben Dank für deine ausführliche Rezi,
    leider, hab ich doch nicht so wirklicht dem entnehmen können,
    wie es dir gefallen hat, :gruebel


    Levita, es gibt so viele mittelprächtige Bücher, die zu kaufen Geldverschwendung ist. Wenn Du Pessoa kaufst, machst Du auf jeden Fall keine Fehler, aber Du darfst nicht erwarten, dass Du es einfach so runterlesen kannst. Mach die Leseprobe, die kann ich hier nicht liefern. Das Buch steht in jeder wohlsortierten Buchhandlung rum. Wenn Du ein wenig rumliest, bekommst Du ganz schnell einen Eindruck und weißt, ob Dich das fasziniert oder nicht. Ich persönlich bin spezialisiert auf sperrige und schwer zugängliche Bücher, deshalb bin ich kein Maßstab für andere.

  • lyrx,


    ich bewundere Dich ehrlich und aufrichtig, daß Du das Buch gelesen hast.
    :anbet :anbet :anbet


    Ich besitze eine Ausgabe von 1992, ein Fischer TB, übersetzt von Georg Rudolf Lind. Der eigentliche Text umfaßt 295 Seiten, dann folgt noch ein kurzes Nachwort des Übersetzers.
    Demnach enthält das Buch knapp die Hälfte der ursprünglich 520 Fragmente des Originals.


    Ich sage Dir ganz offen, daß ich das Buch zwar immer wieder mal aus dem Regal ziehe und es auch nie aussortieren werde, daß ich aber einfach nicht verstehe, was ich da in der Hand halte. Ich lese darin herum, finde einiges, was mich zum Nachdenken anregt.
    Es aber d u r c h z u l e s e n , also von vorne bis hinten, habe ich noch nie geschafft.


    Ich kann mich nicht davon trennen, weil es ein Buch übers Schreiben ist. Ich fühle, daß es wichtig ist, aber ich verstehe es nicht.
    Es mag daran liegen, daß ich in einem ganz anderen Kosmos zuhause bin.
    Nimm eine Stelle wie folgende:


    Ein leideschaftloses, kultiviertes Leben leben, in der Nachtfeuchtigkeit der Ideen, lesend, träumend und ans Schreiben denken, ein hinlänglich langsames Leben, um sich stets am Rand des Überdrusses zu befinden ... Ein Leben fern von Gefühlserregungen und Gedanken leben ...


    Und ich steh fassungslos davor. Wie kann Schreiben etwas anderes hervorrufen als Leidenschaft?
    Vom Leben gar nicht zu reden!


    Faszinierende Lektüre, intelligent, wichtig, aber ziemlich anders.


    Erinnert mich ein wenig an Ernst Jünger. Hast Du den mal gelesen? Oder Helmut Lethen, Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen.
    Bei ihm findet man die deutsche Entsprechungen. Sehr, sehr empfehlenswert.


    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    ich bewundere Dich ehrlich und aufrichtig, daß Du das Buch gelesen hast.


    Danke für die Blumen. Die Lektüre war tatsächlich sehr mühevoll und hat mehrere Monate gedauert.


    Im übrigen finde ich Deine Art, Dich dem Buch zu nähern, völlig legitim. Dieses Buch muss nicht von vorne bis hinten durchgelesen werden. Deine ältere und kürzere Ausgabe ist vielleicht sogar die Bessere.

  • Danke schön!
    Das Buch scheint es Wert zu sein, sich damit
    auseinander zu setzen.
    Der Autor hat über zwanzig Jahre daran gearbeiten,
    das Werk wird als "literarische Sensation" bezeichnet.

    Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen,

    der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig. :lesend
    Ernst R. Hauschka

    Liebe Grüße von Estha :blume

  • Zitat

    Original von levita
    das Werk wird als "literarische Sensation" bezeichnet.


    Ja, aber solche Aussprüche sollte man relativieren. Da ist ja auch ein wenig Marketing mit dabei. Jede halbwegs originelle Neuerscheinung gilt schließlich auch als literarische Sensation.

  • Zitat

    das Werk wird als "literarische Sensation" bezeichnet.


    Das habe ich aus dem "Buch der 1000 Bücher".
    Auf die Rezensionen lege ich doch etwas mehr Wert
    als bei jeglichen Neuerscheinungen.

    Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen,

    der liest, ob er viel Zeit hat oder wenig. :lesend
    Ernst R. Hauschka

    Liebe Grüße von Estha :blume

  • :bonk
    Ich glaube es einfach nicht!
    Jetzt entdecke ich diesen thread, will das Buch aus dem Regal holen, um hineinzulesen und.....weg ist es. Ich finde es nicht mehr! :cry


    Hättet ihr vielleicht Lust auf eine gemeinsame Pessoa Leserunde?