Ich bin meine eigene Frau. Ein Leben -Charlotte von Mahlsdorf

  • Charlotte von Mahlsdorf (gebürtig Lothar Berfelde; * 18. März 1928 in Berlin-Mahlsdorf, † 30. April 2002 in Berlin) begründete das Gründerzeitmuseum in Berlin-Mahlsdorf und war eine schillernde Figur in der Schwulen- und Lesbenbewegung der damaligen DDR.





    Kurzbeschreibung
    Unter einem tyrannischen Vater, der den mädchenhaften Knaben zu einem "echten" Soldaten machen will, wächst Charlotte von Mahlsdorf in Deutschland auf und schwuchtelt sich durch den Endkampf der Nazis.
    Als schwuler Transvestit war sie ihr Leben lang eine faszinierende Außenseiterin - 1992 von Rosa von Praunheim verfilmt.




    Mich hat das Büchlein (mehr isses leider nicht mit seinen 200 Seiten) interessiert, weil ich in früher Jugend mal ebem diesem berühmtberüchtigten Transgender über den Weg gelaufen bin. Mit meinem Urgroßonkel, bei dem ich viel in meiner Kindheit verbrachte und der ganz in der Nähe vom Charlottchen lebte, war ich mal in einem der dörflichen Tante-Emma-Läden einkaufen. Da stand eine Frau im Laden, die ich immerzu angucken musste weil sie mir so seltsam vorkam. Und auch die anderen tuschelten scheinbar über sie. Aber ich dachte mir nicht viel.
    Bei der Urgroßtante zuhause angekommen, erzählte er ihr gleich: "Weeßte wen wa jesehen haben? Det Charlottchen war da. er grinste süffisant Und wat meenste, wat die alten Hennen wieder zu gackern hatten!" :lache
    Tja, alte Hennen nannte er zu gern laut erzählende, lachende oder tratschende Frauen. War aber nie bös gemeint, sondern eher entlarvend spaßig. ;-)


    Tja, und so wie ich sie kurz erlebte, so kurz verschwand sie aus meinem "Wichtig-Speicher" im Hirn. Aber in den folgenden Jahren und mit mehr Interesse an der Erwachsenenwelt stolperte ich immer wieder über ihren Namen. Da war es für mich ein MUSS natürlich auch ihr Büchlein zu lesen.



    Inhalt
    Charlotte alias Lothar reißt ihr Leben in mal groben mal intensiveren Zügen an.
    Entstammt sie doch einer adligen Familie mit berühmten Namen, so lebte sie trotzdem nicht wie die Prinzessin auf der Erbse. Ein prügelnder Nazi-Vater, der der Familie das Leben zur Hölle machte, hatte keinerlei Verständnis für das weiche Gemüt seines Lothars. Er sollte gefäligst ein richtger Junge werden und nicht mit Kittelschürzen, Mädchenmänteln und Putzlappen bewaffnet über die Schönheit von alten Möbeln sinnieren. Eines Tages erschlug sie dann ihren Vater um die Familie zu retten. Landete als Kind im Jugendgefängnis und in der Nervenheilanstalt.


    Lotte, wie sie von verständnisvollen Menschen, auch damals schon, genannt wurde, fand schön sehr früh Interesse an schönen Möbeln. sammelte heimlich, versteckte diese bei ihrem Onkel auf dem Dachboden, verdingte sich bei einem Berliner Trödler, machte Haushaltsauflösungen in Wohnungen abtransportierter Juden. Lotte hasste die Nazis. Schon sehr früh bekam sie mit was da gespielt wurde und lernte auch sehr schnell verstehen, dass sie eine der war, die sie ausmerzen wollten.


    Aber nach dem Krieg, in der so menschenfreundlichen DDR ging es nicht besser. Denn auch da waren Homosexuelle unerwünscht. Bis in die 80er Jahre. Und auch hier hatte sie mit Anfeidungen und Repressalien der Behörden. Nicht nur wegen ihrer geschlechtlichen Orientierung, sondern auch wegen ihrer wertvollen Sammlung an Gründerzeitmobilar und ihrem unermüdlichen Kampf um Erhaltung von Gebäuden und Gegenständen aus dieser Zeit.


    Meine Meinung
    Tja, wie fand ich nun das Buch? :gruebel Es war gut zu lesen, leicht und zart wie lottes Gemüt. Ich amüsierte mich über ihr Mundwerk, war begeistert von ihren Erzäghlungen aus dem Milljöh des alten Berlins, berührt von ihren Erlebnissen und Gedanken, erstaunt wo Lotte überall in der Stadt ihre Finger im Spiel hatte.
    Aber auch etwas genervt von den vielen Beschreibungen von Vertikos, Muschelaufsätzen, Buffets, Pendeluhren, Anrichten, Bilderrahmen......
    Ein Liebhaber solcher Stücke würde mir da wohl widersprechen. :grin


    Schade, dass es nur 200 Seiten waren. Man hätte ein wenig Mobliar weglassen und mehr von Charlottes Leben erzählen können. Aber in jedem Fall war es das Lesen für mich Wert, diese schillernde Figur, die Ikone der Schwulen und Lesben der DDR ein wenig erlebt zu haben. ;-)

    _______________________
    Grüßle, Heaven


    Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen. (Goethe) ;-)

    Dieser Beitrag wurde bereits 2 Mal editiert, zuletzt von Heaven ()

  • Vor einigen Wochen habe ich diese Lebensgeschichte von Charlotte zum zweiten- oder sogar zum drittenmal gelesen.


    Spannend erzählt, gespickt auch mit dem ganz besonderen Witz von Charlotte....
    ...und ja, ihre grosse Leidenschaft für sämtliche Gegenstände aus der Gründerzeit, ihr unermüdlicher Einsatz auch zur Erhaltung von alten Gebäuden....das ist irgendwie der rote Faden halt, der sich über die 200 Seiten zieht.


    Charlotte....ein Mensch von ganz spezieller Originalität und grosser Herzenswärme. Eine "Frau" ( ;-)) mit immenser innerer Kraft und couragierter Wehrhaftigkeit, die sich von allen misslichen Umständen in ihrem Leben, von den Anfeindungen und Auseinandersetzungen nie beirren lies....sich immer bewunderswert treu geblieben ist.


    Ein sehr empfehlenswertes Buch für alle diejenigen, die sich für Lebensgeschichten der besonderen Art interessieren.


    Danke Dir Heaven, dass Du darüber eine so gute, lebendige Rezi geschrieben hast


    Grüessli Joan

    Avatar: James Joyce in Bronze... mit Buch, Zigarette und Gehstock.
    Diese Plastik steht auf seinem Grab. (Friedhof Fluntern, Zürich)
    "An Joyces Grab verweht die Menschensprache." (Yvan Goll)

  • Das ist ein wirklich gutes Buch!
    Von alleine wäre ich nie drauf gekommen, mir wäre wirklich etwas entgangen.


    Es ist ausgezeichnet geschrieben und erzählt. Klar hat es Brüche, manches fehlt. Ja, es ist entschieden zu kurz.


    Aber was entdeckt man nicht alles. Eine Kindheit unter den Nazis, Nachkriegszeit, DDR und ein wenig BRD nach 1989. Schwulenkultur, Möbelgeschichte, Alltagsgeschichte, Politik, Stadtgeschichte von Berlin.
    Alles erzählt von einem Menschen mit einer sehr eigenen Einstellung und einer sehr eigenen Meinung zu allem und jeden.


    Es gibt ganz schreckliche Szenen, seien Judenverfolgungen unter den Nazis, Kindheitserinnerungen an einen extrem gewalttäigen Vater, Krieg und Nachkrieg, Verfolgung von Schwulen in der DDR wie in der BRD. Es gibt interessante Einblicke in den DDR-Alltag vor allem in der zweiten Hälfte, mit Stasi und Devisenproblem und dem staatlichen Kunsthandel.


    Und mittendrin Lottchen mit ihren Blüschen und ihrem glockigen Mantel. Ihre Hausfrauenallüren. Darauf besteht sie. Was habe ich gelacht!
    Hinreißend.
    Und so ein Mut! Und solche Kenntnisse, über Möbel, Uhren und Musikautomaten, ich würde ganz neidisch.
    Was für ein Leben. Was für Buch!!


    Dankeschön, Heaven, fürs Ausleihen.


    Leseempfehlung. Unbedingt!!


    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Es ist schon ziemlich verrückt als Geschichte, vor allem, weil es ein so ganz anderer Blick aufs Leben ist.
    Ein Junge, der genau weiß, daß er ein Mädchen ist. Da hat sie keine Zweifel. Und so verhält sie sich.


    Es ist die Selbstverständlichkeit, die mich so hingerissen hat. Egal, ob sie ihren glockigen Mantel will, Gründerzeitmöbel schleppt, Uhren repariert, durchs zerbombte Berlin irrt oder sich einen Liebhaber sucht - sie ist so , wie soll ich es ausdrücken, lebendig, sie selbst, echt, DA.
    Die Geschichte mit dem Vater endet übrigens sehr, sehr böse.


    Außerdem kann sie spannend erzählen, gleich, ob es um eine Straßenschlacht im Berlin der Zwanziger um eine Schwulenkneipe geht (die sie wiederum aus erzählungen kennt) oder um den berüchtigten Kunst-und Antiquitätenhandel der DDR.
    Ich war kurz davor, mich näher mit Gründerzeitmobiliar zu beschäftigen und eigentlich finde ich das Zeug scheußlich!


    mr. magali hat mir das Buch übrigens entrissen, kaum daß ich es zugeklappt hatte und ist hin und weg. Er ist grad bei der Hälfte, gestern angefangen.


    Ich werde mir das Buch zulegen. Aber Muschelaufsätze kommen mir trotzdem nicht ins Haus!!


    :lache

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    K. Kraus

  • Batty


    das ist ein Mißverständnis.
    :wow


    Mein Beitrag war eine Warnung. Sie ist vehement für Schürzen für Frauen!



    Joan


    klasse.
    Den kannte ich noch nicht. Mahlsdorf kommt sofort ins Programm.
    Jetzt muß ich nur noch mr. magali aus dem sessel locken ...


    :grin

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Zitat

    Original von magali
    Mahlsdorf kommt sofort ins Programm.
    Jetzt muß ich nur noch mr. magali aus dem sessel locken ...
    :grin


    magali....
    ......berichtest Du uns dann, wies war? ....Jetzt wird es wohl etwas mehr Staub auf den Möbeln haben als zu Zeiten von Charlotte....denn Staubwischen war ja eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.

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  • Ehrlich gesagt: manchmal ging mir diese Prüsseliese mit ihrem Putzfimmel, ihren geliebten Schürzen :yikes und ihrem "weiblichen Feingefühl für gründerzeitliche Gemütlichkeit" fast schon auf die Ketten.
    Nun, bevor das ein ernstes Problem wurde, holten mich die drastisch-komischen Schilderungen der frühen Schwulenszene oder ihre Kollisionen mit der Obrigkeit wieder auf den Teppich, und Charlottes Vorstellung von Weiblichkeit, die sich mit meiner nur in sehr geringem Maße überschneidet, scheint jedenfalls die originellere zu sein ;-).
    Was bleibt ist der Eindruck eines Menschen, der zwischen sämtlichen Stühlen sitzt und strahlend sagt: "genau hier gehöre ich hin!" :anbet

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Sodele, der Besuch im Museum hat nun auch stattgefunden.
    :grin


    Es ist, obwohl von mir aus gesehen schon deutlich auf dem platten Land liegend, mit dem, was der ÖNV Berlins bietet, sehr gut erreichbar.


    Es ist faszinierend, Charlottes Sammlung zu sehen. Das Museum wird privat geführt (Förderverein), das sieht man leider auch, da fehlen eben die Mittel für Renovierung des Hauses, Instandhaltung, Beleuchtung, Beschriftung und, ähem, Heizung. <fröstel>


    Es findet so eine Art Rund-um-die-Uhr-Führung statt, sobald eine ihr Eintrittsgeld bezahlt hat (weit weniger als in staatlichen Häusern, ah, welche Ironie!), wird sie in das Zimmer geführt, in dem sich die Gruppe gerade befindet und marschiert dann mit, bis sie wieder am Ausgangspunkt angelangt ist. Eine zweite Runde oder mehr zu drehen, steht einer frei.


    Gründerzeit-Interieurs werden nie zu meinen Favoriten zählen, aber ich entdeckte Praktisches und Modernes, von dem ich wirklich keine Ahnung hatte. Betten auf Rollen, Dauerbrennöfen, ausziehbare Gardinenstangen, ausklappbare Sofas, Kühlschränke, mechanische Kartoffelschäler, ausziehbare Schreibtischplatten und einen Pianola-Vorsatz fürs Klavier. Das ist ein verrücktes Ding. Damit kann man durch bloßes Treten der Pedale einen Mechanismus in Gang setzen, durch den die Klaviertasten gedrückt werden, übertragen wird jeweils ein Musikstück auf einer Walze, die ins Pianola eingelegt wird.
    Es sieht zwar ziemlich jeck aus, wenn man vor einem Holzkasten sitzt, der vor dem Klavier steht, und kräftig Pedal tritt, aber es hat was. Die Musik klingt echt. Jede, die etwa im Nebenzimmer steht, glaubt glatt, daß da Rubinstein spielt.


    Die Führung ist sehr munter, es gibt viel über Charlotte zu hören, Anekdoten aus der Gründerzeit, einmal sogar ein ganzes Tucholsky-Gedicht:
    Eine Hure steht unter der Laterne des abends um halb neun ...
    :lache
    Ach, ja, wer kennt es nicht.


    Wenn man allerdings das Buch schon gelesen, sind die Informationen, die man bekommt, nicht mehr neu. Ein wenig mehr Auskunft über die Gründerzeit in Berlin hätte ich mir gewünscht, ein bißchen Hintergund über die Möbelfabrikanten, die Stoffe und ähnliches.


    Ein Besuch lohnt sich aber auf jeden Fall.


    Noch mal danke an Joan für den Link zum Museum



    Ach, eh, ich's vergesse: Charlotte besaß 19 Schürzen.
    :grin


    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Danke Magali für Deinen ausführlichen Bericht.


    Mich hätte die Mulackritze mit dem Prügelbock am meisten interessiert....und dazu passend dann eben der Vortrag des Tucholszky-Gedichtes von der "Hure unter der Laterne....."


    Es kann nicht verrucht genug zu- und hergehen :grin


    So sterile und steife Museen gibt es sonst ja noch genug.


    :wave Joan

    Avatar: James Joyce in Bronze... mit Buch, Zigarette und Gehstock.
    Diese Plastik steht auf seinem Grab. (Friedhof Fluntern, Zürich)
    "An Joyces Grab verweht die Menschensprache." (Yvan Goll)

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