Robert Löhr
Das Erlkönig-Manöver. Historischer Roman (362 Seiten).
Piper 2007.
Klappentext:
Ein pfiffiges historisches Abenteuer um Goethe, Schiller und Napoleon.
„Sie erschießen mich nicht“, sagte Goethe zum Lieutenant.
„Ach nein? Und warum nicht?“
„Weil ich Schriftsteller bin und Napoleon, der meine Bücher hoch schätzt, Ihnen diesen Mord nie vergeben würde.“
„Welche Bücher?“
„Zum Beispiel „Die Leiden des jungen Werthers“. Er hat es siebenmal gelesen.“
„Wenn der „Werther“ von Ihnen ist, muss ich Sie umso mehr erschießen.“
Im Februar 1805 setzt eine bunte Truppe im Schutz der Dunkelheit über den Rhein: Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller, Achim von Arnim und Bettine Bretano sowie Heinrich von Kleist und Alexander von Humboldt. Ihr Auftrag: den wahren König von Frankreich aus dem französisch besetzten Mainz zu befreien. Ihr Gegner: Napoleon Bonaparte, der mächtigste Mann der Welt.
Mit intelligentem Witz und fundierter Sachkenntnis beschert uns Robert Löhr einen hinreißenden historischen Roman aus der zeit der Romantik. Ein herzerfrischendes Wintermärchen um die Ikonen der deutschen Literatur.
Zum Autor:Robert Löhr, Jahrgang 1973, ausgebildeter Journalist und Drehbuchautor, verfasste nach zahlreichen Filmen und Theaterstücken seinen ersten Roman „Der Schachautomat“ (Piper 2005), der in über zwanzig Sprachen übersetzt wurde. „Das Erlkönigmanöver“ ist sein zweiter Roman. Robert Löhr lebt in Berlin und arbeitet neben dem Schreiben als Regisseur, Schauspieler und Puppenspieler.
Das Buch:
Wer meine Lesegewohnheiten in diesem Forum verfolgt hat, weiß, dass historische Romane in meinen Regalen den Löwenanteil stellen. Dabei beklage ich seit einigen Jahren den Umstand, dass es kaum noch Romane dieses Genres gibt, die mich zufriedenstellen – spannende, gut erzählte Geschichten mit Witz und scharfsinnigem Humor, Pathos und Gefühl, vor allem aber mit einem gewissen historischen Anspruch, Geschichten, die historische Probleme und Lebenswege thematisieren – Bücher also, die über das alltägliche Schema „Arme Frau aus Unterschicht in böser Männerwelt, am besten mit Hexen im Hochmittelalter, mit finsterem Harhar-Schurken samt Hilfhanseln und einer elysischen Zukunft mit Mister Perfect“ hinausgehen. Nach einem langen Ausflug in die Fantasyecke – wozu demnächst noch eine ausführliche Rezension folgen wird – freute ich mich daher bereits auf den neuen Gable. Doch ehe ich meinen Stammbuchladen aufsuchen und den neuen Lesestoff erwerben konnte, fiel mir beim Bummeln ein anderes Buch in die Hände, das mein Interesse weckte und beim ersten Reinlesen wert schien, mit nach Hause genommen zu werden. Dabei erschien mir der Klappentext durchaus skurril – deutsche Dichter auf Agentenmission gegen Napoleon? Historische Genauigkeit? Ein wahrer König von Frankreich, in Mainz gefangen gesetzt? 1805? Ein skurriler Klappentext, eine skurrile Geschichte und das ganze im Gewand eines historischen Romans zu einer meiner Lieblingsepochen - und vor allem keine Frau in der Hauptrolle, die ihrer Zeit mindestens fünf Jahrhunderte voraus war. Ich gab dem Buch eine Chance, erwartete im besten Fall amüsante Unterhaltung, im schlechtesten Fall eine wirr zusammengesetzte Geschichte, bei der die Historie einer reißerischen Agentengeschichte in James-Bond-Manie untergeordnet wird.
Bekommen habe ich eine köstliche Räuberpistole, flott und kenntnisreich umgesetzt, mit viel Witz und Charme, die ich innerhalb weniger Tage verschlungen habe und die mich dazu bringt, nach langer Zeit einmal wieder eine Rezension zu verfassen.
Doch zunächst zum Inhalt: Am Anfang begegnen wir Goethe und Schiller, die sich mitten in einer Prügelei mit einigen Bauern befinden. Glücklich entkommen, aber doch mit einigen Blessuren versehen, wird Goethe am nächsten Morgen zu seinem Landesherrn Carl August gerufen, der ihm eine geheimnisvolle Fremde namens Sophia Botta präsentiert. Die Dame wendet sich mit einem seltsamen Anliegen an den Herrn Geheimrat: Entgegen der offiziellen Verlautbarungen sei Louis-Charles, Sohn Louis’ XVI. und Dauphin, nicht 1795 im Temple an einer Krankheit zugrunde gegangen, sondern aus der Gefangenschaft errettet und nach Amerika gebracht worden, wo er seitdem aufwuchs. Nun habe man ihn zurückgerufen, um Napoleon zu stürzen und ihn mit Hilfe der emigrierten Royalisten und der Fürsten des Deutschen Reiches als Louis XVII. auf den französischen Thron zu setzen. Leider sei die Maskerade aufgeflogen und der Dauphin schon in Hamburg gefangen genommen und verschleppt worden – nach Mainz, das sich in französischer Hand befindet. Zudem habe man das Kindermädchen des Dauphins ausfindig gemacht, das auf Napoleons Geheiß auf dem Weg nach Mainz sei, um den jungen Mann eindeutig zu identifizieren – um ihn anschließend so oder so umzubringen. Goethe soll sich nun auf den Weg machen, den armen Kerl zu befreien und nach Weimar zu bringen.
Zu diesem Zweck sammelt der Dichterfürst eine illustre Truppe um sich: seinen Freund und Kollegen Schiller, Alexander von Humboldt, der sich für das Überleben in der Wildnis verantwortlich zeigt, die junge Bettine Bretano als weiblichen Part, um die Rolle des Kindermädchens zu übernehmen, sowie Achim von Arnim, der Bettines Bruder Clemens versprochen hat, auf das Schwesterchen aufzupassen und dem daher nichts anderes übrig bleibt, als seine eigensinnige Verlobte zu begleiten.
Gemeinsam macht man sich auf den Weg nach Mainz und weiter über den Rhein, um die Kutsche, die das Kindermädchen bringen soll, abzufangen und eine riskante Scharade zu wagen. Unterwegs stößt zudem noch Heinrich von Kleist zu der Gruppe, der Goethe in Weimar ein Manuskript seines „Der zerbrochene Krug“ aufgedrängt hatte und den Geheimrat seitdem nicht mehr aus den Augen ließ.
Doch der Auftrag ist vertrackt, und es kommt zu zahlreichen Verwicklungen zwischen Bonapartisten und Royalisten, Nationalisten und Romantikern auf einer wilden Jagd durch das zersplitterte Deutschland bis tief hinein in den Kyffhäuser.
Löhr bedient sich einer auf den ersten Blick altertümlichen Sprache, in die man sich aber schnell einliest, so dass die Lektüre bald zu einem Genuss fernab des sonst in diesem Genre oft üblichen Einheitsbreis wird. Zahlreiche Anspielungen und Zitate lassen immer wieder aufmerken, von denen mir mangels genauerer Kenntnis der Weimarer Klassik und der romantischen Literatur sicher vieles entgangen ist. So zitiert Löhr bei der Rheinüberquerung das Bild „ Überfahrt über die Elbe am Schreckenstein bei Aussig“ (1837) oder legt seinen Protagonisten immer wieder Zitate ihrer eigenen Werke in den Mund. Sprache und Stil sind daher ungewohnt, passen aber optimal zum Tenor des Buches.
Zum Thema Protagonisten: Durch die Perspektive des allwissenden Erzählers erfährt der Leser zwar viel über die Motive der Figuren, eine „Identifikation“, wie sie so oft gefordert wird, bleibt dabei aber aus - was dem Buch keineswegs zum Nachteil gereicht. Im Gegenteil gelingt es Löhr, die Personen behutsam mit Leben zu füllen, voneinander abzugrenzen und eine eigene, eigenwillige, aber nichts desto trotz amüsante Charakterisierung der großen Dichter und Denker zu schaffen.
Natürlich kommt auch die Liebe nicht zu kurz, die sich jedoch immer vor dem Spiegel der Literatur bewegt. Bettine als einzige Frau der Gruppe liebt zwar ihren Achim, doch ebenso sehr verehrt und liebt sie ihr großes Idol Goethe; ein Zwiespalt, der seine Folgen hat. Doch Löhr beschränkt sich nicht nur auf heterosexuelle Liebe: In der Einsamkeit des Kyffhäuser entwickeln sich Gefühle, die ihre eigene Dynamik haben. Saftige Liebesszenen sucht man jedoch vergeblich und wären in dem Kontext auch unangebracht.
Ein letztes Wort noch zur Geschichte selbst: Der Plot verläuft linear und wartet kaum mit Überraschungen auf; lediglich am Ende überschlagen sich die Ereignisse und sorgen noch einmal für das eine oder andere Aha-Erlebnis. Etwas störend sind die Zufälle, die den Protagonisten das eine oder andere Mal im letzten Moment aus einer lebensgefährlichen Situation retten. Zwar wird stets erklärt, wie es dazu kam, doch etwas weniger Deus ex machina hätte dem Roman gut getan.
Insgesamt kann ich diesen Roman allen Freunden intelligenter Historienromane wärmstens ans Herz legen. Auch Liebhaber der Weimarer Klassik und der Romantik werden ihren Spaß haben. Allerdings muss gesagt werden, dass es sich bei dem Buch um eine (sehr humorvolle) Räuberpistole handelt, deren historischen Genauigkeit sich auf die politischen Verhältnisse und die Geistesgeschichte beschränkt.
Mir hat der Roman großen Spaß gemacht, und wäre der Plot noch etwas raffinierter gestaltet, würde ich das Buch zu den Spitzentiteln dieses Jahres zählen.
Viele Grüße
Heike