Geschichtenweber (Autorengruppe): Pandaimonion – Die Formel des Lebens

  • Das Konzept
    „Die Formel des Lebens“ ist ganz ohne Zweifel ein Kurzgeschichtenband: 11 Storys von 11 verschiedenen Autoren. Das Buch ist aber auch ein Beweis dafür, was man aus so einem Konzept machen kann, wenn man durchdachte Vorgaben und ein erfahrenes Autorenteam hat. Unter diesen Startbedingungen wurde hier nämlich aus einer Kurzgeschichtensammlung ein Episodenroman gemacht, der die Geschichte einer Familie im Verlauf mehrerer Jahrhunderte erzählt.


    Wie der Titel schon andeutet, ist es keine x-beliebige Familiensaga, sondern eine, die auf den Spuren von Mary Shelley, H. P. Lovecraft und Edgar Allan Poe wandelt: Phantastik mit einem Schuss Horror.


    „Ex faece inferna terrarum surge“ – Erhebe dich aus dem untersten Bodensatz der Erde.
    Das ist die Formel, die Alexander Draganov beim Studium eines Paracelsus-Manuskripts entschlüsselt. Die Formel, mit der man künstliches Leben schaffen kann und die fortan von Generation zu Generation in der Familie Draganov weitergereicht wird. Selten zum Wohl und Nutzen derer, die sie anwenden ...


    Die nun folgenden Geschichten der Familie Draganov und ihrer Geschöpfe beginnen um 1790 und reichen bis in die Gegenwart. Ein chronologischer Streifzug nicht nur durch die Geschichte der Familie sondern auch durch die Geschichte Europas.


    Die einzelnen Episoden sind locker miteinander verbunden, bauen zum Teil aufeinander auf. Immer wieder wird Bezug genommen auf Ereignisse und Personen aus vorangegangenen Geschichten. Eine Verzahnung und Verknüpfung, die für die Autoren sicher einen enormen Abstimmungsaufwand bedeutet hat. Doch die Mühe hat sich gelohnt.


    Die Geschichten
    1. Bernhard Weissbecker: DER SINN DES LEBENS

    Zwei Mal bereits hat Claudius Draganov die lebensmüde Christine zu neuem Leben erweckt. Doch Christine sieht keinen Sinn mehr im Dasein. Draganov spricht den Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe an. Kann er, der Autor von „Die Leiden des jungen Werther“, Christine Lebensmut zusprechen?


    2. Timo Bader: DIE FRUCHT DER NACHTSCHATTEN
    David jagt „das Monster von Marburg“, das anscheinend wahllos ehrbare Bürger tötet. Doch das ist nicht sein einziges Problem: Er liebt die Pfarrerstochter Johanna, die dem verschollenen Soldaten Anton versprochen ist. Als Anton nach Jahren wieder auftaucht, droht die Katastrophe. – Wo hier die Draganovs in Spiel kommen und welcher der Akteure der künstliche Mensch ist, werde ich an dieser Stelle nicht verraten.


    3. Maike Schneider: NEUES LEBEN
    Die junge Waise Isabella von Draganov weiß nichts von der Formel des Lebens. Aber ihr zwielichtiger Vormund Hendrik von Falkenstein ist dahinter her. Isabella mag jung sein, doch sie ist klug und belesen und erkennt eine Chance, wenn sie sie sieht ...
    Hier kommt erstmals eine neue Zutat bei der Erschaffung des künstlichen Lebens ins Spiel: Mumienstaub. Und der hat eine ausgesprochen nachhaltige Wirkung.


    4. Michael Buttler: DIE GEHEIMNISVOLLE KOMTESS
    Mysteriös, intelligent und ungewöhnlich gebildet ist die schöne Komtess aus dem Hause Draganov. Und sie hat eine reichlich unkonventionelle Vorstellung von einer „Patchwork-Familie“ ...


    5. Dorothee Kaiser: MEMENTO MORI
    Keine Schauspielerin ist in den Augen des Autors Alexander Draganov würdig oder auch nur in der Lage, die Hauptperson in seinem Theaterstück zu verkörpern. Also schafft er sich selbst eine: Er erweckt eine Statue zum Leben. Doch „Diana“ kann zwischen Bühne und Realität nicht unterscheiden ...


    6. Marion Charlotte Mainka: PANTA RHEI
    Philippa Boyens hat den Verdacht, dass Lord Vladislav Draganoff sie um ihr Erbe betrogen hat. Ihre bulgarische Großtante könnte Licht ins Dunkel bringen, doch leider ist die Dame schon tot. Philippa hat eine Idee: Ein Medium soll mit der Verstorbenen Kontakt aufnehmen. Aber auch im Jenseits verfolgt man eigene Interessen und so läuft die Séance ziemlich aus dem Ruder ...


    7. Claudia Hornung: DIE LETZTE VORSTELLUNG
    Was stimmt nicht mit der bulgarischen Zirkusartistin Katharina? Ist sie tatsächlich unverwundbar? Medizinstudent Tomas will es unbedingt herausfinden und verliebt sich dabei in die geheimnisvolle Schöne. Doch die Wahrheit über sie ist schwer zu begreifen – und noch schwerer zu ertragen ...


    8. Jörg Olbrich: HERZ AUS STEIN
    Andrej Draganov hat eine, wie er meint, geniale Idee: Er verschafft sich mit Hilfe der Formel einen Doppelgänger, der ihn im Alltag vertreten soll, damit er ungestört seine Forschungen betreiben kann. Allerdings entwickelt der Doppelgänger schon bald eigene Ansichten ...


    9. Hannah Steenbock: DIE ARISCHE FRAU
    SS-Untersturmführer Rudolf von Draganov hat ein Problem: Man erwartet von ihm, dass er heiratet und eine Familie gründet. Doch er bevorzugt männliche Partner. Eine Alibi-Gattin muss her. Draganov macht es wie seine Vorfahren Alexander und Andrej und erweckt eine Statue zum Leben. Ob er damit mehr Glück hat als seine Verwandten ...?


    10. Oliver Hohlstein: SIMULATION
    Auch wenn man die Formel des Lebens in Unkenntnis der Sachlage ausspricht, tut sie ihre Wirkung. Susanne liest den Satz von einem herumliegenden Zettel ab, als ihr Kumpel Michael gerade am Computer simuliert, was im Fall einer atomaren Verstrahlung passiert. Das hat dramatische Folgen ...


    11. Nina Horvath: DIE GETEILTE SEELE
    Der Musiker Kamil Draganov erbt eine Kassette mit Familienpapieren. Das Theaterstück von Alexander Draganov ist darunter – und auch die Formel des Lebens. Auch wenn Kamil nicht so recht an die alten Familiengeschichten glaubt, fände er es ganz interessant, sich mal mit dem verstorbenen Autor über sein Werk zu unterhalten. Er besucht Alexanders Grab und beginnt, mit einem Knochensplitter zu experimentieren ...


    Nebenfiguren aus der einen Geschichte werden zu Hauptfiguren in der anderen und umgekehrt. Eine besonders interessante Dame aus dem Hause Draganov, die Komtess, ist gar Hauptperson in zwei aufeinander folgenden Beiträgen (NEUES LEBEN/DIE GEHEIMNISVOLLE KOMTESS). Das kommt nicht von ungefähr: Diese außergewöhnliche Lady hätte das Zeug zu einer Romanheldin!


    Die eine oder andere Geschichte bringt so viel Personal und Stoff mit, dass es den Rahmen einer Kurzgeschichte beinahe zu sprengen droht. Da endet dann eine ausführlich erzählte Episode plötzlich sehr schnell (DER SINN DES LEBENS). Oder es wird „personell“ streckenweise leicht unübersichtlich (DIE FRUCHT DER NACHTSCHATTEN). Doch eine verschwenderische Fülle von Ideen ist ja nichts, was man einem Autor ankreiden muss.


    „Die Formel des Lebens“ ist ein gelungenes Experiment der Geschichtenweber. Phantastik an der Grenze zum Horror, Kurzgeschichten an der Grenze zum Roman. Fesselnd, unterhaltsam, ungewöhnlich. Solche interessanten Projekte können sie gerne öfter in Angriff nehmen.


    Hat eigentlich jemand daran gedacht, dem Buch eine eigene Beschwörungsformel mit auf den Weg zu geben? Oder muss man dazu ein echter Draganov sein? Wenn nicht, schlage ich vor: Erhebe dich in den Rang eines Bestsellers! :-)

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Vandam ()