David Albahari - Die Ohrfeige
Eichborn Verlag 2007
400 Seiten
ISBN: 978-3821857855
Belgrad, 1998. Der namenlos bleibende Erzähler befindet sich auf seinem täglichen Spaziergang entlang des Donauufers als er beobachtet, wie ein Mann eine junge Frau ohrfeigt und anschließend im Menschengewühl verschwindet. Der Erzähler – sensibilisiert durch den politischen Umbruch in seinem Heimatland – misst dieser Beobachtung große Bedeutung zu, sein bisher ruhiges Leben – er arbeitet an Übersetzungen und an einer wöchentlichen Kolumne – gerät in Bewegung. Er vermeint plötzlich bedeutungsvolle Zeichen in Form von Doppeldreiecken und Zahlenkombinationen zu erkennen, fühlt sich übersinnlichen Schwingungen ausgesetzt und sieht sich als Teil einer großen Verschwörung. Infolge einer Reaktion auf eine Zeitungsannonce wird ihm ein Manuskript zugespielt, das die jüdische Bevölkerung eines Stadtteils Belgrads mit der Kabbala verbindet und die Vision der Errichtung eines Golems enthält. Er sucht den Kontakt zu jüdischen Kreisen, lässt sich in die Magie und Tradition der Kabbala einführen und sieht sich bald selber als Teil dieser verschwimmenden Realität und in verschwörerische Verkettungen verstrickt. Diese neuen Erfahrungen veranlassen ihn, in seiner Kolumne zu nationalsozialistischen Gedanken, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und dem ungelösten Kosovo-Konflikt Stellung zu nehmen, was zu Drohungen, Schikanierungen und Anfeindungen seiner Person führt.
Neben ethnischen Grundfragen über Gut und Böse, Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus beschäftigt sich das Buch mit der Welt der Mystik, der Zeichenlehre und Magie. Es verlangt vom Leser große Aufmerksamkeit, all die Gedanken nachvollziehen zu können, da der Protagonist auch einem gelegentlichen Joint nicht abgeneigt ist und deshalb ohnedies Reales und Imaginäres verschwimmen. Es ist oft schwer zu erkennen, welche Erlebnisse real sind und welche der Fantasie und Einbildung entspringen. Trotz der sprachlichen Ausgefeiltheit und meiner Meinung nach großartigen Übersetzung fiel es mir persönlich schwer, mich auf dieses Buch einzulassen, die Konturen waren zu verschwommen, der Sog dieser Traum- und Fiktionswelt erfasste mich nur am Rande. Dennoch fand ich in diesem Buch großartige Ideen und Erkenntnisse, so stellt z.B. der Protagonist seine eigene Person, die Bedeutung eines Einzelnen im weltlichen Getriebe immer wieder in Frage:
Im nächsten Augenblick fragte ich mich, was ich da eigentlich tat: Mein Land war dabei auseinander zu fallen, Bombendrohungen hingen in der Luft wie überreifes Obst, Menschen zerbrachen, als wären sie aus Legosteinen zusammengesetzt, der Irrsinn war nahe daran, zum Normalzustand erklärt zu werden, und ich vergeudete meine Stunden und Tage mit kabbalistischen Geheimnissen und antijüdischen Verschwörungen, um dahinter zu kommen, wer im Morast des Flusses Spuren hinterlassen hatte, die längst verwischt waren.
Ein eigenwilliges Buch, ein Buch das den Leser fordert und dem ich viele Leser wünsche.
David Albahari, geb. 1948 in Pec/Serbien studierte Anglistik in Belgrad und war Herausgeber mehrerer Literaturzeitschriften. Seit 1994 lebt er in Kanada als Schriftsteller und Übersetzer. Für seinen Roman "Mutterland" erhielt er 1997 den NIN Preis.
Ebenfalls auf Deutsch erschienen:
„Beschreibung des Todes“, 1993
„Tagelanger Schneefall“ , 1997
„Wind vorm Fenster“, 1998
„Mutterland“, 2002
„Götz und Meyer“, 2003
„Fünf Wörter“, 2005
Lesereise im November von David Albahari:
Dienstag, 6.11. Frankfurt, Literaturhaus
Mittwoch, 7.11. Hannover, Literaturbüro, Literaturetage im Künstlerhaus
Donnerstag, 8.11. Zürich, Literaturhaus der Museumsgesellschaft
Montag, 12.11. Darmstadt, Literaturhaus
Dienstag, 13.11. Esslingen, Stadtbücherei