Verblühter Anspruch

  • Die Augen, sie leuchten und strahlen,
    der Mund ist zum Lächeln verbogen,
    nur Worte verlassen die Lippen,
    verschlungen von Ohren und Hirnen.


    Sie sprudelt so klar, Aletheia,
    so offen, so rein, unverborgen.
    Ich schmecke und schlucke und würge,
    und spuck wieder aus, was mich wundert.


    Zu bitter will Veritas wirken.
    Was hat denn die Schlange verbrochen,
    als sanft aus gespaltener Zunge
    dem Schmeicheln den Weg sie bereitet?


    Falsch Zeugnis? Wie schlimm! Wie entsetzlich!
    Doch unverdünnt Ehrlichkeit trinken
    verdaut kein Organ der Moderne,
    das Floskeln und Schminke gewohnt ist.


    Politiker, Heuschrecken, Pfaffen
    am Pranger der eitlen Empörung,
    verteufelt und vielfach vergessen,
    wenn Steuererklärungen wachsen.


    Ich trink, was ich brauch und vertrage
    Gebräu nur aus Tarnung und Täuschung,
    bekömmlich, harmonisch im Abgang,
    und ohne moraltrockne Säure!


    Die Augen des Anspruchs erlöschen,
    die Fratzen der Tugenden grinsen,
    die Worte verdunsten im Werden.
    Und Veritas war nie gewesen.

    „Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Level runterziehen und dich dort mit Erfahrung schlagen.“ (Mark Twain)

  • Ok, na dann will ich es mal versuchen.
    Formal ist das Gedicht sicher gut gemacht.
    Mit dem Inhalt bin ich aus philosophischen Gründen nicht einverstanden.
    Als gäbe es da die eine reine offensichtliche wahre Wahrheit! Als hätte nicht jede Wahrheit ihre verborgenen Hintergedanken ... :-)



    PS: Was ist "erlischen"?

  • Der Rhythmus liest sich wunderbar, die einzelnen Anspielungen (Aletheia, falsch Zeugnis), die einfachen Zwischenrufe (eingängig: Ich trink, was ich brauch und vetrage) und vor allem manche einzelnen Bilder (Ehrlichkeit unverdünnt trinken - schön!) passen wundervoll zusammen. Es ist nicht überladen, sondern schlicht mit einzelnen Verzierungen und Tiefgang.
    Also mir gefällt es. Richtig gut.
    Dank Dir für den Lesegnuß.


    (Was die eine Wahrheit angeht - dafür hatten wir ja schließlich Hegel.)

  • Gute Arbeit.


    Meine Lieblingsstelle:
    "Doch unverdünnt Ehrlichkeit trinken
    verdaut kein Organ der Moderne,
    das Floskeln und Schminke gewohnt ist."



    Und bei "die Fratzen der Tugenden grinsen," sag ich lieber nicht, was ich beim ersten Anschauen wirklich gelesen habe. :-) Das würde zu viele Rückschlüsse auf meinen Geisteszustand zulassen.


    Gruss,


    Doc

  • Meine persönliche Lieblingsstelle ist eine, die die abstrakte Ebene fast schon zu sehr verlässt und konkret wird... aber ich konnte mich nicht von ihr trennen ;-)

    „Streite niemals mit dummen Leuten. Sie werden dich auf ihr Level runterziehen und dich dort mit Erfahrung schlagen.“ (Mark Twain)

  • Die Wahrheit ist gering zu schätzen,
    willst du mit ihr bewusst verletzen.
    Wie schal wird doch in manchen Mündern
    von selbstgelobten Wahrheitskündern
    das Wort, das diesen eitlen Gecken
    nur dient zu ihren eignen Zwecken!


    Doch Schleim, der klebrig-süß vergiftet
    und Eiter schafft statt Heilung stiftet?
    Wahrhaftig, bitteres Gewässer,
    das nützt dir auf die Dauer besser!
    Dosiert auf Zucker aufgeträufelt
    wird es auch nicht so rasch verteufelt. ;-)